BGH-Urteil vom 26. Oktober 1988 gegen einen bundesdeutschen Grenzbeamten (3 StR 198/88)

BGH 1988 gegen bundesdeutschen Grenzbeamten

BGH-Urteil vom 26. Oktober 1988 gegen einen bundesdeutschen Grenzbeamten (3 StR 198/88)

1. Gibt ein Vollzugsbeamter zum Zwecke der grenzpolizeilichen Kontrolle die Weisung anzuhalten, so ist der Beifahrer eines Motorrades nicht unbeteiligter Dritter im Sinne der grenzpolizeilichen Regeln über den Einsatz von Zwangsmitteln.

2. Auch wenn die in den §§ 11 ff. UZwG umschriebenen Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch im Grenzdienst erfüllt sind, darf nicht ohne weiteres auf sich der Kontrolle entziehende Personen geschossen werden. Der Beamte muß vor dem Einsatz der Schußwaffe die in der jeweiligen Situation auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit der Fliehenden unter sorgfältiger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen.

UZwG §§ 4, 11, 12, 13; BGSG §§ 11, 17; ZollG § 71.
3. Strafsenat. Urt. vom 26. Oktober 1988 g. G.
3 StR 198/88.

Landgericht Krefeld

Aus den Gründen:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 223 a StGB zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sie führt zum Freispruch, weil der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt die Verurteilung nicht trägt und nicht zu erwarten ist, daß in einer neuen Hauptverhandlung weitere zum Schuldnachweis erforderliche Feststellungen getroffen werden können.

I. Das Landgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

Der am 8. Februar 1966 geborene Angeklagte wurde 1983 als Zollanwärter (Beamter auf Widerruf) bei der Zollverwaltung eingestellt. In der Nacht vom 23. zum 24. Juni 1984 versah der noch in der Ausbildung befindliche Angeklagte zum erstenmal Grenzaufsichtsdienst mit der Waffe, einer Maschinenpistole „Heckler und Koch“ MP 5. Zusammen mit ihm eingeteilt war der Zollassistent D. Sie benutzten einen mit einem Hoheitskennzeichen des Zolls versehenen VW-Bully. Ihre Aufgaben waren Personen-, Fahrzeug- und Standkontrollen im Bereich der deutsch-niederländischen Grenze.

Gegen 2.15 Uhr nachts beobachteten beide Beamte zwei je mit zwei männlichen Personen besetzte Motorräder, die eine aus Richtung der Grenze kommende Landstraße befuhren und sich einer hell erleuchteten, im Grenzbezirk liegenden Kreuzung näherten, deren Ampel für ihre Fahrtrichtung Rotlicht zeigte. Fahrer des ersten Motorrades war der 22jährige R. H., Sozius der 20jährige K. R. Fahrer des zweiten Motorrades war der 18jährige F. H., ein Bruder von R. H., Sozius der 22jährige Nebenkläger. Die beiden Zollbeamten entschlossen sich, die Personen zu überprüfen. Der Zeuge D. setzte das Dienstfahrzeug frontal vor die beiden Motorräder. R. H. hatte zu diesem Zeitpunkt wegen des Rotlichts bereits angehalten. Ob auch F. H. schon stand oder sein Motorrad noch langsam ausrollen ließ, konnte nicht geklärt werden. Beide Kraftfahrer erkannten, daß es sich bei dem vor ihnen haltenden VW-Bully um ein Einsatzfahrzeug der Polizei oder des Zolls handelte. Noch bevor der Angeklagte ausgestiegen war und den Motorradfahrern zu verstehen geben konnte, daß sie kontrolliert werden sollten, rief R. H. seinem hinter ihm befindlichen Bruder zu: „Hau ab!“ In diesem Moment schaltete die Ampel auf „grün“ um. R. H. startete mit starker Beschleunigung, passierte in einem Bogen den Angeklagten und fuhr, die Kreuzung diagonal überquerend, auf der Gegenfahrbahn geradeaus davon. Der Angeklagte gab daraufhin zwei als „Anhalteschüsse“ gedachte Warnschüsse ab. Sofort nach dem Zuruf seines Bruders gab auch F. H. Vollgas, fuhr so dicht um den Angeklagten herum, daß dieser zurückweichen mußte, und folgte seinem fliehenden Bruder. Nachdem der Angeklagte seine Überraschung überwunden hatte, trat er wieder einen Schritt nach vorn und gab, als das zweite Motorrad schon mindestens 100 m von ihm entfernt war, einen gezielten Schuß auf das in die Dunkelheit entschwindende Motorrad ab, dessen Position er in etwa dem noch erkennbaren Rücklicht entnehmen konnte. Er wollte eine der beiden auf ihm fahrenden Personen treffen, um auf diese Weise deren Anhaltepflicht durchzusetzen. Das Geschoß traf den Nebenkläger in den Rücken. Trotzdem setzten die Kradfahrer die Flucht fort. Die Beamten versuchten vergeblich, sie einzuholen. Die Verletzung des Nebenklägers ist im wesentlichen ausgeheilt. Als Grund für die Flucht haben die Brüder H. bei der späteren Vernehmung angegeben, sie hätten nicht gewußt, wieviel Alkohol sie vor Fahrtantritt getrunken hatten, und Angst um ihren Führerschein gehabt.

Der Angeklagte hat sich abweichend von den getroffenen Feststellungen dahin eingelassen: Als sich das zweite Motorrad etwa auf der Mitte der Kreuzung befunden habe, habe sich der Soziusfahrer nach ihm umgedreht. In dessen rechter Hand habe er eine großkalibrige Schußwaffe erkannt. Um nicht selbst getroffen zu werden, habe er einen gezielten Schuß in Richtung auf den Soziusfahrer abgegeben, als dieser sich noch im hell erleuchteten Bereich der Kreuzung befunden habe. Das Landgericht sieht diese Einlassung durch die Aussagen der geflohenen Motorradfahrer und Gutachten von Schußsachverständigen als widerlegt an. Daher scheiden seiner Ansicht nach Notwehr oder Putativnotwehr aus. Auch eine Rechtfertigung der Körperverletzung durch das für den Angeklagten geltende Dienstrecht komme nicht in Betracht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz habe es verboten, auf den Nebenkläger als „eine dritte Person“ zu schießen, „mit dem Ziel, den dem Anhalteverbot nicht nachkommenden Fahrer zum Anhalten zu zwingen“.

II. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht den Schuß auf die fliehenden Fahrer des zweiten Motorrades als rechtswidrig angesehen hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern. Das Landgericht verkennt insbesondere, daß der durch den Schuß verletzte Nebenkläger im Sinne der grenzpolizeilichen Regeln über den Einsatz von Zwangsmitteln nicht als unbeteiligter Dritter angesehen werden kann.

1. Der Fahrer und der Nebenkläger als Beifahrer des Motorrades waren verpflichtet, dem Anhaltegebot des Beamten nachzukommen.

Die beiden Zollbeamten nahmen gleichzeitig Aufgaben der zollamtlichen Überwachung des Warenverkehrs über die Grenze (§§ 1, 74 Abs. 3 ZollG) und der der Zollverwaltung übertragenen polizeilichen Überwachung der Grenze und der Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs wahr (S 1 Nr. 1, §§ 2, 62 BGSG, §§ 1 ff., 7 BGSZollV). Daher hatten sie unter anderem zu prüfen, ob zur Festnahme ausgeschriebene Straftäter die Grenze überschritten oder Rauschgift, Waffen und Sprengstoff geschmuggelt wurden. Um die ihnen notwendig erscheinenden Kontrollen durchführen zu können, waren sie gemäß § 17 Abs. 1 BGSG, § 71 Abs. 2 ZollG berechtigt, die beiden Motorradfahrer und ihre Beifahrer anzuhalten, auch wenn keine konkreten Anhaltspunkte für von ihnen begangene rechtswidrige Taten vorlagen (vgl. Einwag/Schoen, Bundesgrenzschutzgesetz § 17 Rdn. 1 – Lieferung November 1983). Nach § 17 BGSG kann der den Grenzschutz wahrnehmende Beamte eine Person zur Feststellung ihrer Personalien oder ihrer Berechtigung zum Grenzübertritt anhalten. Er kann verlangen, daß mitgeführte Ausweis- und Grenzübertrittspapiere vorgezeigt und ausgehändigt werden. Nach § 71 Abs. 2 und 3 ZollG hat im Zollgrenzbezirk jedermann auf Verlangen der Zollbediensteten stehenzubleiben, sich über seine Person auszuweisen und bei Verdacht, daß er Zollgut verborgen hält, sich durchsuchen zu lassen. Demgemäß waren der Angeklagte und der Zeuge D. berechtigt, auch von den Soziusfahrern die Duldung der Kontrolle zu verlangen, und zwar unabhängig davon, ob diese zuvor die Grenze passiert hatten oder nicht. Das Anhaltegebot wurde den Motorradfahrern dadurch erteilt, daß die Beamten ihnen die Weiterfahrt durch Querstellen des Dienstfahrzeugs versperrten. Die Abgabe des ersten Warnschusses bekräftigte die Anhalteverfügung. Nicht nur die Fahrer, sondern auch die Beifahrer hatten sich auszuweisen und notwendig werdende Durchsuchungen zu dulden. Ein Beifahrer ist jedenfalls insoweit Adressat der Anhalteverfügung, als von ihm verlangt wird, das ihm Mögliche und Zumutbare durch Einwirken auf den Fahrer zu tun, um die Grenzkontrolle durchführen zu lassen. So muß er dem Fahrer zu erkennen geben, daß er anhalten will, und darf in ihm nicht durch sein Gesamtverhalten die Auffassung hervorrufen oder verfestigen, gemeinsam vor der Polizei fliehen zu wollen. Die davon abweichende Ansicht des Landgerichts, ein Beifahrer sei schon deshalb unbeteiligter Dritter, weil er das Fahrzeug nicht lenke, trifft also nicht zu.

2. Die Anhalteverfügung durfte gegenüber Fahrer und Beifahrer durch unmittelbaren Zwang durchgesetzt werden, weil andere Maßnahmen ersichtlich nicht zum Ziel geführt hätten.

Dies folgt, soweit es sich um die Wahrnehmung der der Zollverwaltung übertragenen Grenzschutzaufgaben handelt, aus § 12 des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes und, soweit es sich um originäre Aufgaben der Zollverwaltung handelt, aus § 331 der Abgabenordnung. Die Frage, ob unmittelbarer Zwang gerade in Form des Schußwaffengebrauchs angewandt werden darf und welche Vorschriften dabei zu beachten sind, ist in dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) vom 10. März 1961 (BGBl I 165), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1984 (BGBl I 1654), geregelt. In § 10 UZwG sind die an verschiedene Tatbestände geknüpften Voraussetzungen des Schußwaffengebrauchs gegen Personen im einzelnen festgelegt, insbesondere wenn strafbare Handlungen verhindert, Straftatverdächtige festgenommen und Geflohene wiederergriffen werden sollen. Keiner dieser Tatbestände liegt vor. Das Landgericht hat auch eine Rechtfertigung durch Notwehr oder eine Putativnotwehr ausgeschlossen. Ob dies rechtsfehlerfrei geschehen ist, kann dahinstehen. Geht man davon aus, so kommt eine Befugnis zum Schußwaffengebrauch allein nach der für den Grenzdienst geltenden Sondervorschrift des § 11 UZwG in Betracht.

a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung liegen vor.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 UZwG können die in § 9 Nr. 1, 2, 7 und 8 UZwG genannten Vollzugsbeamten im Grenzdienst Schußwaffen auch gegen Personen gebrauchen, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgeführten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen. Der Angeklagte gehörte als für den Grenzaufsichtsdienst in der Tatnacht eingesetzter Beamter zu dem zum Schußwaffengebrauch berechtigten Personenkreis. Zwar mag die Befugnis, unmittelbaren Zwang, d.h. hier den Schußwaffengebrauch, mit den Angeklagten dienstrechtlich bindender Wirkung nach § 7 UZwG anzuordnen oder einzuschränken, bei dem Zeugen D. gelegen haben (vgl. dazu Abs. 10 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministers der Finanzen zum Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes in der Fassung vom 20. April 1983 – UZwVwV-BMF). Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist aber auszuschließen, daß der Kreis der vom Angeklagten wahrzunehmenden Grenzschutzaufgaben in der Tatnacht nach einer innerdienstlichen Anordnung eingeschränkt gewesen ist. Daher kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Anordnung eine Rechtfertigung des Angeklagten nach § 11 UZwG mit strafrechtlicher Wirkung überhaupt ausschließen könnte.

Der Angeklagte durfte nach § 11 Abs. 1 Satz 2 UZwG die mündliche Weisung, zu halten, durch einen Warnschuß ersetzen, weil sie von den fliehenden Motorradfahrern nicht mehr verstanden worden wäre. Mit der Abgabe des zweiten Warnschusses war gleichzeitig dem Gebot des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 UZwG, den Schußwaffengebrauch anzudrohen, Genüge getan (vgl. Abschn. IX Abs. 2 Satz 2 und 3 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministers des Inneren zum Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes – UZwVwV-BMF Abs. 37 Satz 2 und 3). Auch die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 UZwG sind erfüllt. Bei der gegebenen Sachlage versprachen andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges als der Einsatz der Schußwaffe keinen Erfolg.

b) Dem Gebrauch der Schußwaffe stand § 12 Abs. 2 Satz 2 UZwG nicht entgegen.

Nach dieser Vorschrift ist es verboten zu schießen, wenn durch den Schußwaffengebrauch für die Vollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden, außer wenn es sich beim Einschreiten gegen eine Menschenmenge nicht vermeiden läßt. Indem das Gesetz in § 12 Abs. 2 Satz 2 UZwG nicht schlechthin verbietet, auf Unbeteiligte zu schießen, sondern nur auf „für die Vollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte“, stellt es darauf ab, wie sich die Sachlage dem Beamten in der konkreten Situation vor Abgabe des Schusses darstellt, und nicht darauf, welcher Sachverhalt sich nachträglich als richtig erweist (vgl. Krüger, Polizeilicher Schußwaffengebrauch 4. Aufl. S. 35; Pioch, UZwG § 12 Anm. b zu Abs. 2; Jess/Mann, Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch die Bundeswehr – UZwGBw – § 16 Rd. 10 zu der mit § 12 Abs. 2 Satz 2 UZwG identischen Vorschrift des § 16 Abs. 2 Satz 2 UZwGBw). Der Nebenkläger war für den Angeklagten nicht ein erkennbar Unbeteiligter im Sinne dieser Bestimmung. Unbeteiligter wäre er gewesen, wenn er von den beiden Zollbeamten nicht hätte angehalten und überprüft werden dürfen und deren Anhalteverfügung sich nicht auch gegen ihn gerichtet hätte. Die Anhalteverfügung betraf, wie sich aus den Ausführungen oben unter Ziff. 1 ergibt, auch ihn. Ob er wie ein Unbeteiligter zu behandeln gewesen wäre, wenn er – anders als der Fahrer des Motorrades F. H. – anhalten und sich kontrollieren lassen wollte, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn das Landgericht stellt nicht fest, daß er die gemeinsame Flucht nicht gebilligt habe, geschweige denn, daß dem Angeklagten ein der Flucht entgegenstehender Wille des Nebenklägers erkennbar gewesen sei. Die auf beiden Motorrädern sitzenden vier Personen gehörten offensichtlich zusammen. Sie haben unmittelbar hintereinander die Flucht vor der Grenzpolizei ergriffen. Ihre Verbundenheit untereinander wird durch den Zuruf des zuerst fliehenden R. H. an den Fahrer des zweiten Motorrades „Hau ab!“ deutlich. Unter diesen Umständen durfte nach der Lebenserfahrung auf Einvernehmen der vier jungen Männer geschlossen werden. Ausweichlich der Urteilsgründe hat der Nebenkläger im übrigen nicht einmal behauptet, mit dem Verhalten des Fahrers F. H. nicht einverstanden gewesen zu sein.

c) Der Abgabe des Schusses stand auch § 12 Abs. 2 Satz 1 UZwG nicht entgegen.

Nach dieser Vorschrift darf Zweck des Schußwaffengebrauchs nur sein, angriffs- und fluchtunfähig zu machen. Das Landgericht versteht dies dahin, daß „Schüsse … deshalb nur abgegeben werden (dürfen), wenn aufgrund der Sichtverhältnisse, der Wetterlage, der Entfernung, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs und der übrigen Umstände die Abgabe eines genau gezielten Schusses möglich ist“. Diese Begrenzung des Schußwaffengebrauchs wird zwar im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für viele Fälle berechtigt sein, ergibt sich aber in der vom Landgericht angenommenen – von den Umständen des Einzelfalls losgelösten – Unbedingtheit nicht aus dem Gesetz. Das Landgericht übersieht, daß unabhängig von den Sicht- und Entfernungsverhältnissen jede Schußabgabe auf ein sich mit hoher Geschwindigkeit entfernendes Fahrzeug mit dem Risiko der Verletzung oder gar der Tötung der Flüchtenden verbunden ist (vgl. BGHSt 26, 99, 104; Triffterer MDR 1976, 355, 356). Das gilt insbesondere für ein mit zwei Personen besetztes Motorrad, und zwar – schon wegen der Sturzgefahr – auch dann, wenn nur das Motorrad getroffen wird. Dürfte nur geschossen werden, wenn der Vollzugsbeamte sicher sein könnte, die fliehenden Fahrer nicht lebensgefährlich zu verletzen, so dürfte auf ein mit hoher Geschwindigkeit wegfahrendes Motorrad niemals geschossen werden. Das müßte dazu führen, daß Terroristen, Schmuggler und andere Straftäter sich durch den Einsatz schneller Fahrzeuge im Schutz der Dunkelheit mit Erfolg den von Ort zu Ort wechselnden Grenzkontrollen entziehen könnten. Dem will § 12 Abs. 2 Satz 1 UZwG nicht Vorschub leisten. Diese Vorschrift verbietet einen Schuß nicht schon dann, wenn der Vollzugsbeamte eine tödliche Verletzung des Fliehenden nicht ausschließen kann, ohne sie billigend in Kauf zu nehmen. Das Landgericht konnte nicht feststellen, daß der Angeklagte mit direktem oder auch nur bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt oder etwas anderes bezweckt hat, als die Anhalteverfügung durchzusetzen, also die Motorradfahrer fluchtunfähig zu machen. Eine solche Motivation läßt § 12 Abs. 2 Satz 1 UZwG zu.

d) Aus den bisherigen Ausführungen folgt zunächst, daß § 12 UZwG der Schußabgabe nach § 11 UZwG nicht entgegenstand. Damit ist aber noch nicht die Rechtmäßigkeit des Schußwaffengebrauchs indiziert. Wird auf eine Person geschossen, so ist dies als besonders schwerer Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu werten (vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr 9. Aufl. S. 544). Der mit Verfassungsrang ausgestattete und in § 11 Abs. 2 BGSG, § 4 Abs. 2 UZwG noch einmal hervorgehobene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, von an sich gesetzlich zugelassenen Zwangsmaßnahmen abzusehen, wenn ein zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. Auch wenn die in den §§ 11 ff. UZwG umschriebenen Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch im Grenzdienst erfüllt sind, darf nicht ohne weiteres auf sich der Kontrolle entziehende Personen geschossen werden. Der Beamte muß vor dem Einsatz der Schußwaffe die in der jeweiligen Situation auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit des Fliehenden unter sorgfältiger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen. Dabei darf er den Zweck des § 11 UZwG berücksichtigen, im Interesse einer wirksamen Grenzsicherung vor besonders gefährlichen Tätern den Schußwaffengebrauch über die sonst zu beachtenden einschränkenden Voraussetzungen des § 10 UZwG hinaus zu erleichtern (vgl. Riegel, Bundespolizeirecht § 11 UZwG Anm. 1, Polizei- und Ordnungsrecht der Bundesrepublik Deutschland S. 169; Pioch aaO § 11 Anm. 3 b zu Abs. 1). Ein Ermessensfehlgebrauch und damit rechtswidrig wäre es, wenn der Beamte eine solche den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtende Abwägung fehlerhaft oder gar nicht vornimmt, etwa auf einen seiner Anhalteverfügung nicht nachkommenden Grenzgänger schießt, ohne geprüft zu haben, ob die ihm bekannten Gesamtumstände auf eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hindeuten, wenn der Grenzgänger unkontrolliert entkommt. Je gefährlicher der Schuß ist, desto höher muß die Gefahr sein, deren Abwehr er begegnen soll.

III. Das Landgericht hat wegen seiner Auffassung, daß in Fällen der vorliegenden Art der Einsatz von Schußwaffen gegen Personen generell verboten sei, nicht geprüft, ob der Angeklagte die erforderliche einzelfallbezogene Abwägung vorgenommen hat, insbesondere, ob bestimmte Verdachtsmomente ihn veranlaßt haben, die gesetzliche Anhaltepflicht durch den Schußwaffengebrauch gegen die bereits 100 m entfernten Motorradfahrer durchzusetzen. Der bisher festgestellte Sachverhalt trägt deshalb nicht die Annahme einer rechtsfehlerfreien Ermessensentscheidung des Angeklagten.

Der Senat ist überzeugt, daß auch in einer neuen Hauptverhandlung – wie schon bisher – die den Angeklagten bei der Schußabgabe leitenden Motive nicht mit Sicherheit festgestellt werden können. Der Angeklagte hat von Anfang an behauptet, daß sich der Nebenkläger nach dem Start des Motorrades zu ihm umgedreht und er in dessen Hand eine Schußwaffe erkannt habe. Das Landgericht hält die eine (Putativ) Notwehr ergebende Einlassung für widerlegt. Auf Rechtsfehler bei der Widerlegung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Denn nichts spricht dafür, daß dem Angeklagten, falls auch eine neu entscheidende Strafkammer seine Einlassung für widerlegt halten würde, eine Motivlage nachgewiesen werden könnte, die unter den hier vorliegenden Umstände einen Ermessensfehlgebrauch ergäbe. Nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ muß von dem für den Angeklagten günstigsten Vorstellungsbild ausgegangen werden, das unwiderlegbar in Betracht kommt. Wenn die Einlassung des Angeklagten über eine Bedrohung durch den Nebenkläger eine bloße Schutzbehauptung ist, läßt sich nach dem vom Landgericht insoweit ohne Rechtsfehler festgestellten Sachverhalt nicht ausschließen, daß er sich bei dem Tatentschluß von folgenden den Schußwaffengebrauch im Grenzdienst rechtfertigenden Umständen leiten ließ:

Es handelte sich um vier nicht identifizierte junge Männer auf schnellen Motorrädern, die um 2.00 Uhr nachts von der niederländischen Grenze herkamen. Der Angeklagte bemerkte, daß sie den ihnen die Weiterfahrt versperrenden VW-Bully als Dienstfahrzeug des Zolls oder der Polizei erkannt hatten. Er hörte, wie sie sich durch Zuruf über die Polizeiflucht verständigten. Unmittelbar danach fuhr das Motorrad, auf dem der Nebenkläger saß, so dicht an den die Maschinenpistole in der Hand haltenden Angeklagten heran, daß dieser zurückweichen mußte. Das Motorrad überquerte sodann diagonal die Kreuzung und fuhr auf der Gegenfahrbahn davon. Dabei nahmen die Fahrer in Kauf, daß auf sie geschossen würde. Denn die zwei vom Angeklagten abgegebenen Warnschüsse waren unüberhörbar gewesen. Infolge des schnellen, die Beamten überraschenden Geschehens konnten die Kennzeichen nicht festgestellt werden. Ein Einholen der Flüchtenden mit dem VW-Bully war ausgeschlossen. Zeit, Ort und das auffällige, das eigene Leben aufs Spiel setzende Verhalten der vier jungen Männer rechtfertigte schon objektiv den Verdacht, daß es sich bei ihnen um gefährliche Straftäter, etwa Schmuggler harter Drogen, handelte, jedenfalls aber, daß sie einen besonders schwerwiegenden gesetzwidrigen Grund zur Flucht hatten. Der Angeklagte stand vor der Wahl, die Motorradfahrer unerkannt entkommen zu lassen und dadurch auch anderen Tätern einen Anreiz zu gleichartigem Verhalten zu geben oder aber zu versuchen, durch einen weiteren Schuß das Anhalten zu erzwingen, um die aus den Gesamtumständen gefolgerte erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Ein längeres Abwägen oder eine Rücksprache mit dem erfahreneren Zeugen D. war nicht möglich, weil nur der sofortige Einsatz der Waffe noch Erfolg versprach. Der Angeklagte konnte nicht wissen, daß die Motorradfahrer, wie sie später behauptet haben, lediglich „Angst um ihren Führerschein gehabt“ hatten, weil sie angeblich nicht wußten, wieviel Alkohol sie vor Fahrtantritt getrunken hatten. Gegen die Richtigkeit ihrer Angaben spricht im übrigen, daß F. H. zwei Stunden später nur einen Blutalkoholgehalt von 0,11 Promille und der Nebenkläger einen solchen von 0.05 Promille hatte.

Unter den dargelegten Umständen erscheint es ausgeschlossen, in einer neuen Hauptverhandlung den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte nicht von einer den Schußwaffengebrauch im Grenzdienst rechtfertigenden Gefahr ausging, sondern in Verkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes etwa glaubte, allein deswegen auf den davonfahrenden Motorradfahrer schießen zu dürfen, weil sie dem Anhaltegebot nicht nachgekommen waren. Der Senat hat den Angeklagten daher entsprechend § 354 Abs. 1 StPO freigesprochen.

dokumentiert aus BGHSt 35, 379

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