Aufklärung vs. Gefängnis: Eine Nagelprobe unserer Zeit.

Von Dr. Thomas Galli, TP-Gastbeitrag.

Im Verlauf der öffentlichen Diskussion (die letztlich schon Jahrzehnte andauert, mal lauter und meist leiser) über die Sinnhaftigkeit der Institution Gefängnis gab es im Verlauf der letzten Monate fast keinen aktuell in Justiz oder Politik Verantwortlichen, der das Gefängnis öffentlich als sinnvolle Institution bezeichnet hätte. Ganz zu schweigen davon, dass die Wissenschaft dem Strafvollzug die Stange gehalten hätte.  Die wenigen Argumente wiederum, die für das Gefängnis in Stellung gebracht worden sind („Die Opfer wollen das“, „Wir brauchen das zur Abschreckung“, „Die Straftäter müssen im Gefängnis eine Tagesstruktur lernen“, „Das Gefängnis hat nun einmal Tradition“), sind oft genug widerlegt worden. Das soll hier nicht wiederholt werden, und auch zu möglichen Alternativen ist schon viel gesagt bzw. geschrieben worden. Und auf die plump-leeren Worthülsen von AfD und Co. („Konsequent gegen Straftäter vorgehen“) näher einzugehen, würde diesen den falschen Anschein eines tieferen Inhalts verleihen. Der Tenor in den allermeisten Gesprächen war (jedenfalls „hinter der Kamera“) vielmehr: das stimmt schon, das Gefängnis ist (zumindest zum größten Teil) Unsinn, aber es durch sinnvollere Alternativen ersetzen zu wollen, ist reine Utopie. Der Unsinn scheint also tief und fest in Stein gemeißelt – wird es uns je gelingen, ihn aufzulösen?

Die entscheidende Frage ist: Wie könnte es gelingen, das Gefängnis durch sinnvollere Alternativen zu ersetzen, und warum ist das so schwer, wenn es doch fast alle, die Ahnung davon haben, für Unsinn halten? Und inwiefern könnten mögliche Antworten auf diese Fragen auf grundsätzliche, strukturelle Probleme hinweisen, die sich auch in anderen Bereichen unseres Zusammenlebens negativ auswirken?

Letztlich ist unser gesellschaftliches Handeln in vielen Bereichen wohl noch zu wenig durch ein langfristiges und komplexes Denken gesteuert und begleitet. Wir stecken fest im Gefängnis der einfachen Wahrheiten, des impulsgesteuerten Handelns, der symbolhaften Politik der Lippenbekenntnisse, der kurzfristig-skandalorientierten medial geschaffenen Realität, des Nicht-über-den-Tellerrand-Hinausschauens. Es gibt wohl nur ein wirksames Mittel, die Mauern dieses Gefängnisses zu durchbrechen: die Aufklärung.

Politiker sind, wie alle Menschen, mal mehr und mal weniger idealistisch und intrinsisch motiviert. Sie brauchen aber alle einen gewissen gesellschaftlichen Rückhalt, um überhaupt politisch gestalten zu können. Die riesigen bürokratischen Justizapparate wiederum arbeiten in erster Linie der Politik und dem eigenen Fortkommen, nicht notwendigerweise dem Wohl der Allgemeinheit zu. Dem entsprechend scheint ein Ersatz des Gefängnisses durch Sinnvolleres in erster Linie über die Aufklärung der Allgemeinheit realistisch zu sein.

Große Teile der Allgemeinheit gehen noch davon aus, dass der Strafvollzug insbesondere durch Abschreckung und Resozialisierung seiner Insassen kriminalitätsreduzierend wirkt (obwohl faktisch das Gegenteil der Fall ist). Der in uns Menschen nach wie vor vorhandene Vergeltungswunsch kann so mit einem ruhigen Gewissen ausgelebt werden. Das machen sich populistisch orientierte Vertreter der Politik zu Nutzen. Sie profitieren also vom weit verbreiteten Nichtwissen bzw. falschen Vorstellungen, und bestärken diese gerne. Den mit am stärksten menschlichen Trieben, der Aggression, dem Wunsch nach Rache und der Angst, unreflektiert nachzugeben, ist viel leichter und erfolgsversprechender, als mit viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit einen vernünftigeren Weg umzusetzen. Wie soziale Aggressionen und Ängste wider jede Vernunft ausgenutzt und geschürt werden, kann derzeit auch insbesondere am Umgang mit Flüchtlingen gezeigt werden. Wäre aber immer noch eine Mehrheit der Gesellschaft für Gefängnisse, wenn sie wüsste, dass diese nicht resozialisierend, sondern gegenteilig wirken, und damit die Zahl der durch Straftaten Geschädigten erhöhen?

Der Trieb nach Rache (Vergeltung ist nicht mehr als das etwas vernünftigere Kind der Rache) hat sicher evolutionäre Gründe. Gruppen von Menschen, die sich rächten, wurden weniger häufig angegriffen als solche, die dies nicht taten. Heute aber ist der Vergeltungstrieb, zumindest innerhalb einer modernen Gesellschaft wie unserer, in großen Teilen sozial schädlich. Es wird noch Jahrhunderte dauern, bis er im Individuum weniger stark ausgeprägt ist als im Moment. Aber wir haben eben schon jetzt die Möglichkeit, ihn auf einer gesellschaftlichen, staatlichen Ebene, zu reflektieren, anstatt ihn fast ungehemmt auszuleben. Nicht zuletzt schaffen wir mit dieser rational basierten Reflektion auch die Grundlage dafür, dass er sich langsam aus uns „herauswächst“ und auf ein sozial, aber auch individuell gesünderes Maß reduziert wird. Denn die sozialpsychologische Forschung deutet darauf hin, dass zwar fast alle Menschen denken, ihnen ginge es besser, wenn sie Vergeltung für ein erlittenes Unrecht üben könnten, wenn sie dann aber tatsächlich Vergeltung üben dürfen, geht es ihnen schlechter als denen, die das nicht konnten. Wenn wir unseren Kindern also eine sozial und psychologisch bessere Welt hinterlassen wollen, tun wir gut daran anzufangen, unseren archaischen Rachetrieb rational zu reduzieren. Menschen zur Vergeltung einzusperren, ist jedenfalls Unsinn, dieser Gedanke muss möglichst vielen Menschen bewusst gemacht werden.

Und wenn man schließlich den ganz großen Bogen spannt, von der Sesshaftwerdung des Menschen bis zum heutigen Tag, dann wird einem, wenn man sich intensiver mit den Entstehungsvoraussetzungen von Kriminalität und dem Umgang mit Straftätern befasst, ein weiterer, sehr grundsätzlicher Zusammenhang bewusst, der die Grundlagen des Strafrechts allgemein betrifft, der aber auch mitursächlich dafür sein dürfte, dass sich insbesondere die Institution Gefängnis wider alle menschliche Vernunft so gut halten kann, und der durch Aufklärung auch zunehmend ins gesamtgesellschaftliche Bewusstsein gerückt werden sollte. Als Nomade kannte der Mensch kein Eigentum, keinen Besitz, kein Kapital. Seinen Halt und seine Sicherheit fand er im sozialen Zusammenwirken. Jeder leistete etwas für die Anderen, und andere leisteten etwas für ihn. Der Sinn der menschlichen Existenz lag also im Schwerpunkt im Sozialen. Die Nomaden haben dem entsprechend die bestraft, die sich unsozial verhalten haben. Mit der Sesshaftwerdung des Menschen hat dann zunehmend das Kapital an Einfluss gewonnen, in dem der moderne Mensch seinen Sinn und Halt sucht. Die Kehrseite des Kapitals ist die Schuld, da der Wert und die Macht desjenigen, der über Kapital verfügt, darauf beruht, andere Menschen zu verpflichten, etwas zu tun oder zu lassen. Andere stehen also in seiner Schuld. Und das betrifft zwar nicht ausschließlich, aber eben auch, die strafrechtliche Schuld (die ihrerseits nicht ausschließlich Kehrseite des Kapitals ist). Dieser Zusammenhang erschließt sich ohne Umstände, wenn man sich die Vielzahl der Vermögensdelikte ansieht, die ja in erster Linie das Kapital und seine Nutznießer schützen. Es wird also nicht mehr in erster Linie der bestraft, der sich unsozial verhält, sondern der, der die Herrschaft des Kapitals gefährdet. Nun scheint der Kapitalismus bei allen seinen Nachteilen nach allem, was wir wissen, im Vergleich etwa zum Kommunismus die bessere und sozial gesündere Gesellschaftsform zu sein. Auf Dauer kann er aber nur für die Menschheit sinnvoll sein, wenn er im Dienst des Sozialen steht, und nicht das Soziale in seiner Schuld. Und an unserem Strafrecht, das ja nur die Spitze eines Eisbergs gesellschaftlichen Verhaltens und Denkens ist, lässt sich erkennen, dass wir immer wieder große Gefahr laufen, dem Kapital die vollkommene Herrschaft über uns Menschen zu gewähren. Wenn man „das Soziale“ als Prozess eines gerechten Austausches von Geben und Nehmen begreift, dann liegt in vielen Straftaten zwar die Verletzung eines anderen Individuums, aber kein unsoziales Verhalten. Vielmehr sind viele Straftaten zumindest auch als Folge ungerechter sozialer Verhältnisse zu begreifen. Diejenigen, die von dieser Ungerechtigkeit profitieren und sie schaffen und ausbauen, werden nicht bestraft. Überspitzt formuliert kann man sagen, dass wir vielfach die falschen bestrafen. Wir sollten die bestrafen, die sich unsozial verhalten, und verhalten uns statt dessen oft genug selbst unsozial, indem und insbesondere auch wie wir strafen. Eine Gesellschaft, die überleben und sich weiterentwickeln will, kann, ja muss vom Individuum bestimmte Verhaltensweisen einfordern und sozial schädliches Verhalten unterbinden. Insoweit steht das Individuum in der Schuld der Gesellschaft, und nur insoweit kann das Konzept strafrechtlicher Schuld grundsätzlich Sinn machen. Wenn wir dieses Konzept aber, und das ist derzeit zunehmend der Fall, nicht mehr in den Dienst des Sozialen, sondern in den des Kapitals stellen, vergrößert es die Gräben der sozialen Ungerechtigkeit und schädigt damit auf Dauer die ganze Gesellschaft. Diese Zusammenhänge aber werden allzu sehr ins soziale Unbewusstsein, hinter die Gefängnismauern, abgeschoben.

Die Aufklärung über diese und andere Zusammenhänge also wird uns den Weg aus dem Gefängnis weisen. Aber ist es dort, im Gefängnis, nicht auch irgendwie ganz bequem? Zumindest hat man ein Dach über dem Kopf und etwas Warmes zu essen. Und man weiß, wo man hingehört. Warum sollten wir diesen zwar lebensfernen, aber doch sicheren Ort verlassen, und die großen Mühen und Gefahren der Aufklärung auf uns nehmen, mit letztlich ungewissem Ziel?

Weil es unsere Schuld ist, der wir uns nicht entledigen können. Jeder Mensch muss die natürliche Schuld tragen, im Rahmen seiner Möglichkeiten Schaden nicht nur von sich, sondern auch von anderen abzuhalten. Ohne diese Schuld hätte die Menschheit auf Dauer keine Überlebenschancen. Wenn wir diese Schuld ungerecht verteilen, dann nimmt sie zu, wird schwerer und belastet die lebendige Fortentwicklung des Menschen. Nur, wenn wir sie gerecht verteilen, wird sie leichter, und lässt sich gemeinsam sogar als sinnstiftend ertragen: „Die Schwere der Schuld.“

Foto: Thomas Galli

Bildquelle: Diana K. Weilandt

Podiumsdiskussion mit Thomas Galli am 30.09.2016 > https://www.youtube.com/attribution_link?a=DytJhx-CZJc&u=%2Fwatch%3Fv%3Dfx6GE57nkpw%26feature%3Dshare

Thomas Galli war 15 Jahre im Strafvollzug, zuletzt als Anstaltsleiter in der sächsischen JVA Zeithain beschäftigt. Er wird künftig als Rechtsanwalt arbeiten und hat nun seine Anwaltszulassung erhalten. Außerdem ist Thomas Galli seit einigen Wochen Vorstandsmitglied in der Opfervereinigung „netzwerkB“, die ihrerseits selbst für die Abschaffung der Gefängnisse ist. Ein Beitrag darüber folgt.

Bekannt geworden ist Thomas Galli insbesondere durch das Buch „Die Schwere der Schuld“, das auf dieser TP-Homepage rezensiert wurde. Auch weitere Beiträge über bzw. mit Thomas Galli sind hier eingestellt.

20 Antworten

  1. Herr Dr. Galli erkennt: „Und wenn man schließlich den ganz großen Bogen spannt, von der Sesshaftwerdung des Menschen bis zum heutigen Tag…“ , dass die Schuld, die es vorgeblich zu vergelten gilt, in den Schulden begründet liegt, die das Kapital dem Schuldner auferlegt.
    Ausgenommen hiervon wird die natürliche Schuld. Es gilt also zu differenzieren, zum einen die natürliche, zum anderen die kapitale Schuld.
    Zur kapitalen Schuld hat David Graeber, einer der Begründer der Occupy-Bewegung, diesem Grundübel sein Buch „SCHULDEN“ gewidmet, das eine deckungsgleiche Analyse zu dem bildet, was Herr Dr. Galli erkennt, denn Graeber packt das Problem der kapitalen Schulden an der Wurzel, indem er bis zu ihren Anfängen in der Geschichte zurückgeht. Das Buch führt mitten hinein in die Krisenherde unserer Zeit: Über 5000 Jahre, von der Antike bis in die Gegenwart, sind revolutionäre Bewegungen immer in Schuldenkrisen entstanden. Graeber sprengt dabei – ähnlich Dr. Galli – die moralischen Fesseln, die uns auf das Prinzip der Schulden verpflichten. Denn diese Moral ist eine Waffe in der Hand des Kapitals. Die weltweite Schuldenwirtschaft ist eine Bankrotterklärung der Ökonomie. Der Autor enttarnt Geld- und Kredittheorien als Mythen, die die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen vorantreiben, ebenso, wie Dr. Galli die Gefängnisse als Mythen der Resozialisierung enttarnt.
    Im Kern sind das Buch und Dr. Gallis Gedanken ein hohes Lied auf den Schuldenerlass, auf die Freiheit: Das sumerische Wort »amargi«, das Synonym für Schuldenfreiheit, ist Graeber zufolge das erste Wort für Freiheit in menschlicher Sprache überhaupt. Erlässt man einem Menschen, einer Kommune, einem Staat die Schuld, entläßt man sie in die Freiheit.
    Übrigens eine Grundforderung aus den Evangelien – vgl. Mat. 18, 21-35; L. 17,4 – die sich in unserer thomistischen Rspr. leider noch nicht durchgesetzt hat.

  2. Dem kann man sich nur anschließen. Allerdings scheinen einige Bundesländer die Resozialisierung ganz abschaffen zu wollen, wie etwa Hamburg die Vollzugslockerungen, und Therapien ganz auf Null fahren will. Das sind dann aber auch die ersten, die schreien, wenn aus einem Ladendieb ein Schwerverbrecher wird nach der Entlassung aus der Haft – eigentlich völlig unlogisch. Einige Verantwortliche orientieren sich m.E. zu sehr am amerikanischen Strafvollzug, den ich für kontraproduktiv halte.

      • Auch in der SPD gibt es viele Konservative, wer kann etwas Positives zu den Grünen sagen, ich zähle garantiert nicht dazu. Die Zustände in Hamburger Haftanstalten haben sich gegenüber den 1980er und 1990er Jahren richtig geändert, offene Vollzuge sind nach Schließung einiger Haftanstalten kaum noch vorhanden.

  3. Herr Dr. Galli, Sie scheinen Ihre Beamtenstelle aufgegeben zu haben. Ich verneige mich u. entschuldige mich zugleich für frühere anzügliche Bemerkungen!

    Interessant finde ich Ihre moralphilosophische Argumentation („Weil es unsere Schuld ist … Jeder Mensch muss die natürliche Schuld tragen, im Rahmen seiner Möglichkeiten Schaden nicht nur von sich, sondern auch von anderen abzuhalten.“)
    Wäre es so, müsste ich (u. müssten sehr viele, vielleicht Sie auch) unter dem Druck solcher „Schuld“ zusammenbrechen. Denn was heißt „im Rahmen seiner Möglichkeiten“? Natürlich steht es Ihnen frei, eine Mutter Theresa zu werden. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass dies nicht im Rahmen des (individuell) Möglichen läge.

    Tatsächlich gibt es keinen vernünftigen Grund, den Rahmen meiner Möglichkeiten für eine generalisierte Schuldbewältigung auszuschöpfen. Ja, es gibt nicht einmal einen vernünftigen Grund, dem Bettler an der Straßenecke einen Euro zu geben.

    • Na, von Mutter Theresa und einer Heiligsprechung bin ich weit entfernt:) Ich meine auch mit „im Rahmen der Möglichkeiten“ nicht, dass jeder, der theoretisch die Möglichkeit dazu hätte, Mutter Theresa wird, sondern dass sich jeder im individuell unterschiedlichen Umfang im weitesten Sinne sozial engagieren kann und sollte, ohne dass er freilich selbst darunter leidet. Ganz im Gegenteil kann es ja gerade sinnstiftend sein, diese „Schuld“ gegenüber unserer menschlichen und sozialen Existenz zu erfüllen. Der „vernünftige Grund“ liegt meiner Ansicht nach darin, dass bei einer stärkeren Ausprägung des Sozialen die Menschheit an sich profitiert.

    • Herr Roth, eine weitere Voraussetzung für moralisches Handeln ist zweifellos ‚richtiges Lesen‘. Ich schrieb: „es gibt nicht einmal einen vernünftigen Grund, dem Bettler an der Straßenecke einen Euro zu geben.“ Ist das etwa identisch mit „helfen“? Dann hätten Sie Ihr Gewissen im Sinne von Herrn Gallis ‚Möglichkeitsrahmen‘ schnell erleichtert 🙂

      … Und Herr Galli ist wahrscheinlich ein optimistischer Idealist! Als pessimistischer Realist lehne ich allerdings eine „„Schuld“ gegenüber unserer menschlichen und sozialen Existenz“ ab. Wer sollte die mir (uns) auferlegen? Es müsste schon der Höchste Richter sein, der dann gute Gründe (Erbschuld gehört nicht dazu) anzuführen hätte. Manche Leute haben übrigens enorme Schwierigkeiten mit ihren Schuldgefühlen, an die eine geschickte Politik aus manipulativen Gründen gerne appelliert.

      Ich bedauere es persönlich sehr, dass die Föderalismusreform, die nach Ansicht mancher Vollzugsexperten zu einem „Wettbewerb der Schäbigkeit“ geführt haben sollte, nicht so weit geht, den Bundesländern wirkliche justizielle Handlungsfreiheit zu gewähren. Dann hätte z.B. Brandenburg mal (kurze) Freiheitsstrafe u. Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen, Hamburg den (offenen) Regelvollzug mit Sozialpädagogen vollstopfen können, u. Herrn Galli hätte ich gewünscht, mal die (oder ein paar) Gefängnisse schließen zu können. Bayern hätte nach meiner Empfehlung den Resozialisierungsgrundsatz abgeschafft u. wäre auf Verwahrvollzug (mit viel Sport) umgeschwenkt.
      Wäre interessant geworden!

      • Herr Sohn, ich sehe das grundsätzlich ähnlich. Es wurden und werden ja viele, auch berechtigte, Einwände gegen die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Vollzug der Strafe auf die Länder erhoben. Aber die letzten Jahre haben meiner Ansicht nach eben auch die Vorteile gezeigt. Fortschrittlichere (aus meiner Sicht) Bundesländer können Dinge umsetzen, die andere sich noch nicht trauen. Wenn also zum Beispiel der unüberwachte Langzeitbesuch etwa für Ehepaare in Sachsen und anderen Bundesländern auch weiterhin so problemlos verläuft und sich positiv auf das Klima in Haft und die Resozialisierungschancen danach auswirkt, dann wird irgendwann z.B. Bayern auch nicht mehr anders können, als ihn einzuführen. Und genauso könnte es sein, wenn auch die Grundlagen des Strafens (in einem gewissen Rahmen) in die Kompetenz der Länder gingen. Der Wettbewerb der Schäbigkeit, der ja, wie Sie zu Recht sagen, befürchtet wurde, ist zumindest im Vollzug ja aus meiner Sicht nicht eingetreten. Eher im Gegenteil.

  4. Zur „Aufklärung vs. Gefängnis“ gehört auch, dass dem Steuerzahler bewußt gemacht wird, dass ein Gefängnisplatz – zurzeit 145 € pro Tag – rund 53.000,00 € im Jahr kostet.
    Ein Arbeitsplatz mit 39 Std. pro Woche und 10 Euro Stundenlohn, demzufolge rund 1.640,00 € oder rund 20.000,00 € per annum. Addiert man dazu noch die Arbeitgeberanteile, sowie Lohnersatz für Kranken- und Urlaubszeiten, ergibt sich ein jährliches Brutto von 30.000,00 €.
    Der Gemeinschaft der Steuerzahler würden damit pro Haftplatz 23.000,00 € Ersparniss verbleiben.
    Weitergedacht gibt es zurzeit in der BRD rund 70.000 belegte Haftplätze, wovon zirka 50.000 entfallen könnten, folgt man der von Herrn Dr. Galli bewiesenen Logik.
    Das hätte wiederum eine Ersparnis von zurzeit 1,15 Milliarden Euro zur Folge.
    Ein weiterer Synergieeffekt wären Lohnsteuerzahlungen, Beiträge zu den Sozialversicherungen und die Ersparnisse der sog. Resozialisierung.
    Wer dann noch gegenargumentieren will, dass man im Gegenzug rund 30% der im Vollzug tätigen Personen entlassen müßte, irrt!
    Denn dem sei gesagt, dass die permanenten Krankenstände im Vollzug ähnlich hoch sind. Man mithin diese Sozialbetrüger eh freisetzen kann, ohne auch nur einen spürbaren Verlust verzeichnen zu müssen.

    • Aber, aber …. krankgeschriebene Vollzugsbedienstete als „Sozialbetrüger“ zu bezeichnen, das ist nicht sehr kollegial, Herr Schuh.

      Vergessen Sie bei Ihrer Rechnung nicht, dass Kriminalität u. Strafvollzug eine Geschäftsbranche sind. Gut vorbereitet, werden neu errichtete Gefängnisse heute von einer strukturschwachen Gemeinde begrüßt. Ihr ziemlich links orientierter Kollege Sessar hat das mal sehr intelligent beschrieben:
      „Sessar, Klaus (2001). Funktionalität des Verbrechens : verzwickte Gedanken zu einem verzwickten Thema. In: Gutsche, Günther; Thiel, Knuth (Hrsg.), Gesellschaft und Kriminalität im Wandel. Zur Funktionalität des Verbrechens (S. 16-32). Mönchengladbach: Forum-Verl. Godesberg.“

  5. „Wir sollten die bestrafen, die sich unsozial verhalten, und verhalten uns statt dessen oft genug selbst unsozial, indem und insbesondere auch wie wir strafen.“

    Ein erster Schritt wäre doch schon, Denen, die sich auf Kosten Anderer bereichern, konsequent Grenzen zu setzen. Viele Strafmaßnahmen im eigentlichen Sinne würden sich damit erübrigen. Einfach, weil sich das Verbrechen nicht mehr lohnt. Ein Beispiel: http://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/ako-jugendamt-100.html
    Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass die Missbrauchskriminalität an der als Kaderschmiede geltenden und vom Jesuitenorden geführten Schule mit angeschlossenem Internat, dem Aloisiuskolleg, über Jahrzehnte hinweg systematisch und systemisch betrieben wurde. Hier ein wissenschaftlich fundierter Untersuchungsbericht aus dem Jahre 2011 http://www.bishop-accountability.org/news2011/01_02/2011_02_16_TheJesuiten_SchwereGrenzverletzungen.pdf

    Als im Januar 2010 der so genannte „Missbrauchstsunami“, angeschoben von einer das Berliner Canisiuskolleg betreffenden Berichterstattung, erst über den Klerus, dann über gesamte Gesellschaft hereinbrach, reagierten Teile der die Schule mittragenden Elternschaft sofort. Und zwar mit diesem Brief
    http://v1.prmitteilung.de/kostenlosepressemitteilungen/321diskussion-um-vorwuerfe-sexuellen-missbrauchs-am-aloisiuskolleg-alts

    Ich vermute stark, so manch einer der Unterzeichnenden würde seine Unterschrift aus der heutigen Sicht heraus gern rückgängig machen. 2017 jährt sich der „Canisiusday“ ein siebtes Mal. Eine gute Gelegenheit für eine Revision.

    Der Gewohnheitsmissbraucher, der aktuell wegen Betruges in Bonn vor Gericht steht, könnte ins Gefängnis wandern. Natürlich wäre es besser, er bekäme eine Gelegenheit den Schaden, den er angerichtet hat wieder gut zu machen und seine beschädigte Persönlichkeit, mit der er wieder und wieder Andere schädigt, zum Guten zu verändern. Ein Stück weit also zu heilen. Allerdings wäre da wohl in seinem Leben derart viel aufzuräumen, dass seine Prognose schlecht ist. Denn sein Umfeld, bestehend aus Bad Godesberger HonoratiorInnen, bestätigt ihn ja in seiner Haltung. Was tun mit solchen Menschen? Wie mit den NutznießerInnen der Verbrechen verfahren?

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die als Kinder und/oder Jugendliche Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

    • Frau Oetken, ich sehe es wie Sie, dass denen, die sich auf Kosten Anderer bereichern, oder denen, die Anderen (immer wieder) Schaden zufügen, konsequent Grenzen gesetzt werden müssen. Zur Frage, wie das in jedem Fall gelingen soll, habe ich auch keine Patentlösung. Ich denke auch, dass es keine gibt, so unbefriedigend wie das ist. Aber unstrittig dürfte dafür notwendig sein, dass jeder einzelne Fall von Gewalt und Missbrauch aufgeklärt und aufgearbeitet wird. Und dies vor allem auch dann, wenn solche Fälle in einem strukturierten System wie Schule, Kirche usw. passieren, da hier die Gefahr besonders groß ist, dass es immer wieder passiert, wenn aus dem Schlimmen der Vergangenheit keine Lehren für die Zukunft gezogen werden. Aus meiner Sicht fehlt aber bei vielen Institutionen und strukturellen Gebilden die Fähigkeit und die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion, die ja Voraussetzung dafür wäre. Das geht schon beim kleinsten „Institut“, der Familie, los. Welcher Familienverband, in dem es z.B. zu einem sexuellen Missbrauch kam, ist zu einer kritischen Selbstreflexion fähig, bei der jedes Mitglied der Familie nach seinem Anteil an dem schrecklichen Geschehen fragt. Vom Missbraucher selbst ganz zu schweigen. Und bei größeren Instituten wird oft genauso „gemauert“ wie in der Familie.

      • Sehr geehrter Herr Galli,

        sicherlich ist die Vorstellung, ein Kind werde von einer erwachsenen oder jugendlichen Person missbraucht für Menschen, die eine integere Persönlichkeit besitzen schrecklich. Oft reagieren Leute mit „so etwas kann ich mir gar nicht vorstellen“. Trotzdem ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, die sich bei den Betroffenen oft in der weiteren Biografie fortsetzt, sehr verbreitet. Alle kulturellen Phänomene, die sehr lange existieren und so häufig vorkommen wie Kindesmissbrauch, erfüllen auch sozial stabilisierende Effekte. Mögen sie für sich betrachtet noch so schrecklich sein. Die zu identifizieren, zu validieren und von den Tabus zu befreien, stellt für mein Dafürhalten eine der größten und wichtigsten Herausforderungen dar, der wir uns stellen müssen, wenn wir Kinder vor sexueller Ausbeutung und Gewalt schützen wollen. Ich vermute, dass das größte Hemmnis die Auseinandersetzung mit den Realitäten der Sexualität in unserem Alltag ist. Der einzige Bereich, in dem sonst noch so viel gelogen, verdrängt und verschwiegen wird ist, wenn es um Finanzen geht. Und zwar die eigenen. Der Zusammenhang ist viel stärker, als man erstmal annehmen wollte. Aber er ist offensichtlich. Beim familiären Missbrauch geht es oft um Geld und beim institutionellen auch. Bei den christlichen Kirchen genauso wie an Tatorten wie der Odenwaldschule oder den Jugendwerkhöfen der DDR.

        MfG,
        Angelika Oetken

  6. Sehr geehrter Herr Galli, gibt es zum Gefängnis schon Alternativen, Ideen, Praxisberichte, Konzepte, die Ihrer Meinung nach ausbaubar wären?

    lg

    Christian Zajer

    • Sehr geehrter Herr Zajer,
      das ist auch meiner Meinung nach die entscheidende Frage. Ich werde dazu, weil mein Ansatz einer Antwort etwas länger ausfällt, in Kürze nach Absprache mit der TP Presseagentur einen weiteren Gastbeitrag verfassen. Ich bin dann gespannt auf Ihre Rückmeldung/Ihre Ansicht.
      Herzliche Grüße Thomas Galli

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