Begeisterung für die Segnungen des Strafrechts kommt bei mir nicht auf.

TP-Interview mit Dr. Olaf Heischel, Rechtsanwalt und Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirates.

Frage:

Herr Dr. Heischel, die Strafe soll die Schuld des Täters ausgleichen und ihm die Möglichkeit zur Sühne geben; sie soll die verletzte Rechtsordnung wahren und den Rechtsfrieden wiederherstellen.
Sind diese Strafzwecke mit dem Urteil gegen die Politbüromitglieder Günther Kleiber (3 Jahre), Egon Krenz ( 6 1/2 Jahre) und Günter Schabowski (3 Jahre) wegen mehrfacher Totschlagsfeststellungen überhaupt vereinbar?

Dr. Heischel:

Ich kenne die Urteile gegen die hier Genannten nur aus der Presse, also nicht im Detail. Wenn man die Strafmaße gegen die Politbüromitglieder in Verhältnis zu den genannten abgeurteilten Straftaten setzt, wären sie vergleichsweise milde davon gekommen.
Ich bezweifle allerdings, daß die Strafaussprüche sonderlich viel mit der hierzulande herrschenden Theorie über die vier Zwecke von Strafe zu tun haben, also mit der Abschreckung des Täters, der Abschreckung anderer von Straftaten, der Sühne des geschehenen Unrechts und der Resozialisierung.
Ich selbst bin aus verschiedenen Gründen skeptisch gegenüber diesen Theorien, vom Strafen als Strafen halte ich überhaupt nichts, da zumindest der Sühnegedanke pure Verdummung ist: Er suggeriert, man könne geschehenes Unrecht durch ein Gegen-Unrecht „ausgleichen“. Das aber wird weder dadurch wahr, daß es im Alten Testament steht, noch dadurch, daß es der in dieser Hinsicht überhaupt nicht aufklärerische Kant für das „moderne“ Strafrecht propagierte.
Die mit Ihrer Frage angesprochene Wiederherstellung des Rechtsfriedens könnte schon eher ein Argument sein. Allerdings war die Störung des Rechtsfriedens durch die Absetzung der Betroffenen aus ihren Ämtern längst vorbei. Und das historisch-barbarische Recht auf Vergeltung – damals übrigens überwiegend im Sinne von Schadensersatzzahlungen an Opfer und Hinterbliebene (der Wortstamm von „gilt“ und Geld ist der Gleiche) – verschwindet gottseidank langsam aus dem Strafrechtssystem.
Insgesamt halte ich die Ahndung des falschen Verhaltens der DDR-Führungsriegen durch die Strafjustiz für einen unbeholfenen Versuch, darauf aufmerksam zu machen, daß auch jeder „da Oben“ Verantwortung auszuüben hat. Was ja ein sehr lobenswertes Ansinnen, aber meines Erachtens nicht Aufgabe der Strafjustiz ist.

Frage:

Entsteht hier nicht – in Anbetracht der vergleichsweise milden Strafen – der Eindruck, daß das Urteil als Alibi dienen sollte, im Rechtsstaat gibt es keine Siegerjustiz?

Dr. Heischel:

Der Vorwurf, daß dies „Siegerjustiz“ sei, drängt sich manchem vielleicht dadurch auf, daß die „Oberen“ in den alten Bundesländern, von Kohl über Koch bis Landowski, kaum jemals ernsthaft wegen ihrer Missetaten verfolgt werden. Das ist eine Sache, die die Kluft zwischen Volk und Regierung verbreitert, und es wird dazu führen, daß die Wahlbeteiligungen hier bald so niedrig sein werden wie in den USA.

Frage:

Ein Fluchthelfer, der einen Grenzsoldaten der DDR erschossen hatte, wurde zunächst wegen Totschlags zu einem Jahr auf Bewährung, auf Revision der Staatsanwaltschaft wegen Mordes zum gleichen Strafmaß verurteilt (ebenfalls auf Bewährung). Wird hier offensichtlich bei der Vergangenheitsbewältigung mit unterschiedlichen Maßen gemessen?

Dr. Heischel:

Ich kenne die Einzelheiten des erwähnten Falles nicht und vermute, daß die Sache etwas länger her ist. Ich kenne auch den anderen Fall, daß ein DDR-Grenzer zur Ermöglichung seiner Flucht Kameraden erschossen bzw. schwer verletzt hat, und der wurde relativ ernsthaft dafür bestraft.

Frage:

Nun ja, Sie meinen offenbar den Fall Weinhold. Der scheint mir mit 5 1/2 Jahren Freiheitsentzug für zwei Tote, die er zu verantworten hat, eher relativ milde als relativ ernsthaft bestraft worden zu sein.

Dr. Heischel:

Nein, ich meine nicht den Fall Weinhold, sondern einen anderen, der nicht durch die Presse ging, sondern den ich aus einer meiner Tätigkeiten aus dem Gnadenausschuß kenne. Aus Gründen des Datenschutzes kann ich dazu keine Angaben machen. Aber: Selbstverständlich wurde in Zeiten des Kalten Krieges und danach auch von der Justiz mit zweierlei Maß gemessen. Schließlich reklamierte der Westen für sich, Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Barbarei zu verteidigen. Seit dem Kosovo-Krieg weiß man, daß dafür auch Bomben abgeworfen werden dürfen.

Frage:

Von Kritikern der Urteile gegen Grenzsoldaten der DDR und Funktionsträgern wird häufig der Satz des ehemaligen Bundesjustiz- und Außenministers Klaus Kinkel ins Feld geführt, der sagte: „Es muß uns gelingen, das SED-Regime zu delegitimieren.“
Angesichts der relativ milden Strafen: Entpuppen sich die Urteile gegen Ostdeutsche nicht doch als eine Alibimaßnahme, um Kinkels Herzenswunsch zu erfüllen, denn als Schuldausgleich hinsichtlich der vorgeworfenen Straftaten, zumal die Strafen ja auch nicht im geschlossenen, sondern im offenen Vollzug angetreten werden mußten?

Dr. Heischel:

Daß die Justiz handelt, um einen Herzenswunsch Klaus Kinkels zu erfüllen, glaube ich nicht. Ob oder daß die ausgesprochenen Strafen keinen angemessenen Schuldausgleich darstellten, ist für mich nicht diskussionswürdig, da ich, wie gesagt, die These vom „Schuldausgleich durch Strafen“ für blödsinnig halte.
Die Reformer des mittelalterlichen Strafens, wie etwa der von Kant geschmähte Beccaria, oder Franz von Liszt, geben mit dem Satz „Nur die notwendige Strafe ist gerecht“, weitaus interessantere und zivilisationsgemäße Denkaufgaben für uns. Zum Beispiel, ob eine Strafe – wie hoch? – notwendig ist, um schlechte Taten – welche? – eines ehemals Mitregierenden für Andere – wen? – zu kennzeichnen.
Daß die Strafen im offenen Vollzug angetreten wurden, entsprach den gesetzlichen Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes. Da kann man die Justiz nur loben, daß sie sich nicht durch Stimmungsmache hat beirren lassen.

Frage:

Kennen Sie vergleichbare Fälle aus Ihrer Praxis als Vollzugsratsvorsitzender, daß verurteilte Totschläger ihre Strafe im offenen Vollzug antreten konnten?

Dr. Heischel:

Daß wegen Kapitaldelikten verurteilte Straftäter ihre Strafe im Offenen Vollzug verbüßen, gibt es auch sonst, jedenfalls in Berlin, doch ab und zu. Daß jene oft vorher eine relativ lange Zeit im geschlossenen Vollzug verbringen, liegt zum einen daran, daß gegen sie regelmäßig bis zum Urteil Untersuchungshaft vollzogen wird, ihnen also die Möglichkeit genommen wird, zu beweisen, daß sie weder flucht- noch wiederholungsgefährdet im Sinne der gesetzlichen Vorschriften für die Unterbringung im Offenen Vollzug sind. Es liegt auch daran, daß manche weiter gefährlich sind, und es liegt am Opportunismus der Justizverwaltung gegenüber der veröffentlichten Meinung, daß dies in manchen Fällen als Vorwand für eine allzulange Unterbringung im geschlossenen Vollzug genommen wird.

Frage:

Kleiber und Schabowski sind ja sehr schnell begnadigt worden. Ist nicht darin ein Indiz für ein Scheingefecht gegen die Politbüromitglieder zu sehen, die ja stets ihre strafrechtliche Verantwortung bestritten haben?

Dr. Heischel:

Nein. Meines Wissens hatten diese Begnadigungen Gnadengründe im üblichen Sinne, also insbesondere solche der Gesundheit und der Schadenswiedergutmachung, welche jedenfalls von Schabowski offensiv und öffentlich durch sein Schuldbekenntnis tatsächlich geleistet wurde. Der Mann hat, anders als Kanzler Kohl 11 Jahre später, glaubhaft Schmerz über sein früheres Verhalten gezeigt und damit Verzeihung ermöglicht.
Dabei hat ihm vielleicht auch der Kontrast mit dem sich eher gegensätzlich verhaltenden Egon Krenz geholfen – und natürlich sein berühmter Patzer, der zur Öffnung der Mauer führte.

Frage:

Können Sie bei all den Argumenten, die von Kritikern der Urteile gegen Ostdeutsche im Zusammenhang mit den Grenztoten hervorgebracht wurden, den Vorwurf der Siegerjustiz nachvollziehen?

Dr. Heischel:

Ja. Aber vom Wortsinn ist „Sieger“ meines Erachtens etwas neben dem Kern. Ich glaube, es ging weniger um die Schmähung der Besiegten, als darum, daß die „Anständigen und Gerechten“ in West und Ost tatsächlich ernsthaft Vergangenheitsbewältigung betreiben wollten – eine Vergangenheitsbewältigung, wie man sie sich in der den 60er Jahren hinsichtlich der Nazis wünschte.
Aber muß Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht geschehen? Kann sie überhaupt? Ganz abgesehen von den Unzulänglichkeiten der Strafverfolgung: Schalck-Golodkowski, eine der wichtigen Stützen des Systems der DDR, war möglicherweise immun, weil er zuviel wußte. Während seine Sekretärin in Untersuchungshaft gefangen am Plötzensee saß, saß er friedvoll am Tegernsee, in der Villa eines Geschäftspartners. Begeisterung für die Segnungen des Strafrechts kommt da bei mir nicht auf.

Frage:

Nun hat sich ja auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen Krenz & Co. ausgesprochen. Hätten sie sich demzufolge die Menschenrechtsbeschwerde ersparen können oder brauchen sie sich jetzt berechtigt nicht den Vorwurf machen, es wenigstens nicht versucht zu haben?

Dr. Heischel:

Daß die Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet wurden, halte ich im Hinblick auf die aufgeworfenen Fragen, insbesondere zum Rückwirkungsverbot, für absolut nachvollziehbar. Das mußte versucht werden.
Daß der Europäische Gerichtshof die Beschwerden zurückgewiesen hat, ist heikel. Unmittelbar empfinde ich jedoch die Beendigung des öffentlichen Zeterns der Verurteilten als angenehm, auch wenn der Gerichtshof damit wahrscheinlich aus rechtlicher Sicht etwas Falsches abgesegnet hat.
Denn daß die Betroffenen Verantwortung hatten, ist ebenso Fakt, wie die Tatsache, daß sie sich mit diesem Problem lediglich in der Masse von jährlich etlichen tausend einfachen Kriminellen befinden, denen man mit dem Strafrecht zwar Recht, aber nicht das Rechte antut.

Frage:

Sehen Sie durch die Urteile den Opferinteressen Genüge getan?

Dr. Heischel:

Die Frage ist meines Erachtens falsch. Wie gesagt, haben „Opferinteressen“ grundsätzlich im Strafrecht nichts zu suchen!! Auch die geltende Sühnedoktrin meint keine Opferbefriedigung, sondern einen ideellen Schuldausgleich, ein quasi metaphysisches Tallionssystem.
Opfern von Straftaten ist ernsthafte Hilfe in materieller und ideeller Hinsicht zu leisten im Sinne eines direkten Ausgleichs der erlittenen Schäden. Die Sühne- und Rachegelüste, die wir alle als Opfer von Straftaten haben, sind spontane Ersatz-Reaktionen auf die Unmöglichkeit, Schmerz und Verlust ungeschehen zu machen. Dem kann man sinnvoller nachgehen, als mit Strafen. Schabowski hat, wie gesagt, mit Um-Verzeihung-Bitten eine von vielen Möglichkeiten gezeigt, wie man diese Sorte Schaden ausgleichen kann. Für andere Taten gibt es andere Wege.

Frage:

Erich Mielke wurde wegen zweifachen Polizistenmordes, der eigentlich verjährt war, verurteilt, wegen der Mauertoten ließ man ihn laufen.
Ist das nicht das offenkundigste Beispiel für die Berechtigung des Auftretens von Justizkritikern hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung Ost – wenn Sie z.B. auch den Vergleich ziehen zwischen Mielke und dem Fluchthelfer, dessen Tat knapp 30 Jahre her war, Mielkes Taten dagegen über 60 Jahre?

Dr. Heischel:

Natürlich erscheint das Mielke-Verfahren wegen der von Ihnen angesprochenen Besonderheit abgeschmackt. Offenkundig scheint mir, daß recht krampfhaft etwas gesucht wurde, um eine der Gallionsfiguren des DDR-Unterdrückungsapparates doch noch öffentlich zu brandmarken.
Es ist gerade deshalb ein hervorragendes Beispiel für die Unzulänglichkeit der Strafjustiz als Instrument der Unrechtsbewältigung. Wie bei dem schon erwähnten Schalck-Golodkowski, dort aber aus anderen Gründen.

Interview: Dietmar Jochum

Foto/Bildquelle: kanzlei-gleisdreieck.de

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