„Da geht es um den Kern des Menschenbildes unserer Verfassungsordnung“.

Der CDU-Politiker Hermann Gröhe verteidigt die Entscheidung des Bundestages gegen die doppelte Widerspruchslösung in der Organspende.

Der frühere Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) verteidigt das Votum des Bundestages gegen die sogenannte doppelte Widerspruchslösung und für die Entscheidungsregelung in der Organspende. Gröhe sagte der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Montagausgabe): „Ich erkenne an, dass Menschen nach einem radikalen Neuanfang in den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organspende rufen. Aber gerade bei schwierigen Entscheidungen müssen sich unsere ethischen Leitplanken bewähren.“

Der CDU-Politiker fügte hinzu: „Es wäre nicht angemessen, das Selbstbestimmungsrecht zu relativieren. Da geht es um den Kern des Menschenbildes unserer Verfassungsordnung.“ In Deutschland gebe es im Übrigen kein Zustimmungs-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Krankenhäuser müssten besser werden bei der Identifizierung von Patienten, die für eine Organspende in Frage kämen. Daher sei die 2019 beschlossene Strukturreform der entscheidende Schritt.

Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das am 20. Januar 2020 in der Wochenzeitung „Das Parlament“ erscheinende Interview vorab im vollen Wortlaut:

Herr Gröhe, die Widerspruchslösung bei der Organspende kommt nicht. Erleichtert?

Ich bin davon ausgegangen, dass es knapp wird. Viele im Kollegenkreis haben lange überlegt, wie sie sich entscheiden. Das war bis zum Schluss offen. Es war eine sehr leidenschaftliche Debatte. Das ist angemessen, denn es geht um das Leid von Menschen, die auf ein lebenswichtiges Spenderorgan warten. Es war aber auch eine respektvolle Debatte. Eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts in der Hoffnung, mehr Organe zu gewinnen, wäre verfassungsrechtlich bedenklich gewesen. Insofern bin ich erleichtert. Aber angesichts der Hoffnungen, die viele Patienten, aber auch Transplantationsmediziner in die Widerspruchslösung gesetzt haben, nimmt uns dieses Ergebnis auch in die Pflicht zu zeigen, dass der Weg, das Selbstbestimmungsrecht zu wahren, erfolgreich sein kann. Wir können uns also nicht zurücklehnen.

Ist damit das Thema vom Tisch?

Nein, wir haben vergangenes Jahr die Strukturreform für die Organspende in den Kliniken beschlossen. Der Aufbau einer Unterstützungsstruktur gerade für kleinere Krankenhäuser ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Das sollte das Parlament genau beobachten, um eventuell nachsteuern zu können. Die jetzige Entscheidung gibt uns auf, diesen Weg fortzusetzen. Es steht aber in einem Jahr nicht gleich die nächste Grundsatzentscheidung an. Wir haben mit  beiden Gesetzen eine gute Basis, um besser zu werden bei der Organspende.

Wäre eine Radikalreform nicht einen Versuch wert angesichts der niedrigen Spenderzahlen?

Gerade bei ernsten Themen besteht die Gefahr, dass man glaubt, mit radikalen Lösungen etwas ändern zu können. Ich erkenne an, dass Menschen nach einem radikalen Neuanfang in den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organspende rufen. Aber gerade bei schwierigen Entscheidungen müssen sich unsere ethischen Leitplanken bewähren. Es wäre nicht angemessen, das Selbstbestimmungsrecht zu relativieren. Da geht es um den Kern des Menschenbildes unserer Verfassungsordnung.

Zudem haben wir kein Zustimmungs-, sondern ein Umsetzungsproblem. In mehreren tausend Fällen im Jahr kommt es nicht zur Diagnose eines vorhandenen Hirntods, der Voraussetzung ist für eine mögliche Organspende. Wir müssen daher in den Krankenhäusern besser werden bei der Feststellung derjenigen Sterbenden, die für eine Organspende in Frage kommen. Deswegen ist die 2019 beschlossene Strukturreform der entscheidende Schritt.

Möglicherweise sind Patienten auf der Warteliste nun enttäuscht. Was sagen Sie denen?

Ich nehme die Enttäuschung ernst. Einige dieser Patienten sind meinen Argumenten aber zugänglich. Wenn jemand sagt, wir müssen etwas Radikales tun, um mehr Organe zu bekommen, sind wir schnell bei der Frage, ob wir nicht auch bei einem Herztod Organe entnehmen wollen. Wenn der Eindruck entstünde, wir seien zu allem bereit, um an mehr Organe zu kommen, würde das Vertrauen in die Organspende gefährdet. Wir brauchen das Vertrauen und sind auf einem guten Weg. Wir haben bei Fällen, in denen ein Hirntod vorliegt und die für eine Organspende in Betracht kommen, eine Zustimmung von 75 Prozent.

Also gibt es keine Vertrauenskrise?

Die Vertrauenskrise gab es infolge der Skandale 2012, damals hatten nur rund 22 Prozent einen Organspendenausweis, heute sind es fast 40 Prozent. Das   heißt, das Werben für die Organspende war durchaus erfolgreich.

Wie muss man sich Reform denn jetzt konkret vorstellen?

Wir wollen die hausärztliche Beratung stärken, denn Ärzte sind zentrale Vertrauenspersonen. Die Ärzte sollen den Patienten alle zwei Jahre anbieten, mit ihnen über die Organspende zu reden. Da können dann Themen wie der Hirntod oder andere Fragen besprochen werden. Die Behördenkontakte sollen  dazu genutzt werden, denjenigen Menschen, die einer Spende ohnehin positiv gegenüberstehen, die Entscheidung zu erleichtern und sich zum Beispiel in das geplante Online-Register einzutragen. Das Bürgeramt soll niemanden überzeugen. Die eigentliche Beratung übernimmt natürlich kein Kommunalbeamter, sondern der Hausarzt.

Werden mit dem Online-Register die älteren Leute nicht überfordert?

Das glaube ich nicht. Das Hauptproblem ist auch nicht der Umgang mit dem Internet, sondern die tiefsitzende Überzeugung älterer Leute, sie seien zu alt für eine Organspende. Die andere Frage, die von Senioren immer wieder gestellt wird, ist, ob auch alles getan wird, um den Patienten zu retten oder die Ärzte sich schon auf die Verwertung der Organe freuen. In Deutschland wird alles getan, um Patienten zu retten, ob der einen Organspendenausweis hat oder nicht. Das Online-Register wird außerdem ein zusätzliches Angebot sein.

Es gibt Vorschläge, mehr Lebendspenden zuzulassen, wie stehen Sie dazu?

Da bin ich skeptisch. Ich habe höchsten Respekt vor der Lebendspende, das ist ein wirklich herausragender Liebesbeweis. Weil die Spender sich einem nicht unerheblichen gesundheitlichen Risiko aussetzen, ist es klug, dass die Lebendspende an eine besondere verwandtschaftliche Nähe geknüpft ist: Partner füreinander, Kinder für Eltern, Geschwister füreinander. Dabei würde ich bleiben. Bei möglichen Kettenspenden etwa könnte aus Selbstlosigkeit am Ende womöglich ein Geschäftsmodell werden.

Mit der Hirntod-Diagnose sind der Organspende enge Grenzen gesetzt. Wäre es nicht sinnvoll, die Grenze weiter auszulegen wie in anderen Ländern?

Es hat tatsächlich in letzter Zeit Appelle gegeben, den Herzstillstand auch als Voraussetzung für die Entnahme zuzulassen. Die Bundesärztekammer hat jedoch wiederholt erklärt, dass der Herzstillstand keine gleichwertig sichere Feststellung des Todes ermöglicht wie die Hirntod-Diagnose. Ich rate deswegen davon ab.

Was sagen sie Menschen, die sich bei dem Thema nicht entscheiden wollen?

Ich würde auch an deren Tür beharrlich anklopfen. Wenn 84 Prozent der Bürger für die Organspende sind, aber nur 38 Prozent einen Organspendenausweis haben, würde ich mich erst einmal darauf konzentrieren, die große Zahl derer, die positiv eingestellt sind, aber das nicht fixiert haben, zu gewinnen. Es ist bei Menschen, die vielleicht ein traumatisierendes Erlebnis hatten, nicht angemessen, einen Überredungsversuch zu starten. Da sollte man einfach mal abwarten. Menschen ändern auch ihre Meinung im Laufe der Zeit. Und jeder von uns kann plötzlich auf ein Spenderorgan angewiesen sein.

Rechnen Sie damit, dass wir bald auf künstliche Organe zugreifen können?

Wir haben bereits Kunstherzen, die übergangsweise eingesetzt werden, bis ein menschliches Organ zur Verfügung steht. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass wir in einigen Jahren auf bestimmte weitere künstliche Organe oder  Gewebe zurückgreifen können. In der Transplantationsmedizin gibt es fortschrittliche Entwicklungen, die hoffen lassen.

Fraktionsoffene Abstimmungen sind selten. Sollte es das öfter geben?

Bei Fragen der Begleitung am Lebensende oder zur vorgeburtlichen Diagnostik steht nicht die Parteizugehörigkeit im Zentrum, sondern die persönliche Sichtweise. Solche Debatten wird es womöglich durch Fortschritte in der Medizin künftig auch häufiger geben. Und sicher tun sie dem Ansehen des Parlaments gut.

Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld

Hermann Gröhe (CDU) ist seit 1994 Mitglied des Bundestages und war von 2013 bis 2018 Bundesgesundheitsminister.

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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