Durch Quotierungsregeln gehandicapt.

Der Journalist Norbert Mappes-Niediek sucht nach Ursachen des Balkan-Konflikts und stellt Parallelen in der EU fest.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Die jugoslawischen Aufteilungskriege in der ersten Hälfte der 1990er Jahre waren kein Wahnsinn, schreibt der Journalist und zeitweilige UNO-Berater Norbert Mappes-Niediek in seinem Buch “Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann“, sondern das Ergebnis einer Verschwörung reformwilliger Eliten zum Nachteil der Bevölkerung gleich welcher Nationalität. Weil das jugoslawische System sich als nicht reformierbar erwiesen habe, sei der Krieg der geordnete Rückzug aus einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit gewesen.
So sei etwa nicht, wie eine im ideologischen Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus groß gewordene Generation von Europäern glaube, die Verteidigung des “realen Sozialismus“ durch die Serben und das Streben der anderen Völker nach Demokratie und Marktwirtschaft der Auslöser der Konflikte gewesen, sondern, so die These von Mappes-Niediek, das Dogma des “ethnischen Gleichgewichts“ zwischen den Volksgruppen im Vielvölkerstaat Jugoslawien habe die Zerstörung der Balkan-Republik bewirkt. Denn in der Zeit des Kalten Krieges, als der Ost-West-Gegensatz am schärfsten war, habe das neutrale, blockfreie Jugoslawien am besten zusammengehalten. Zerbrochen sei es just dann, als der Gegensatz sich durch den Zusammenbruch des Kommunismus auflöste.

In der Tat, Jugoslawien läßt sich nicht mit anderen kommunistischen Staaten vergleichen. Aus dem jugoslawisch-sowjetischen Konflikt von 1948 ging es bekanntlich mit einem eigenen Sozialismusmodell hervor. Und anders als in anderen kommunistischen Staaten wurden in Jugo¬slawien die Lebensbereiche durch Quoten geregelt: die ethnische Ausgewogenheit jeder einzelnen Entscheidung in ganz Jugoslawien war oberstes Prinzip. Anders als auch in anderen Republiken, in denen die einzelnen Staatsbürger und territorialen Einheiten die Repu¬blik konstituieren, waren es in Jugoslawien die unterschiedlichen Völker und Völkerschaften, die das Staatsgefüge prägten.
Die unterschiedlichen Republiken mußten sich je nach den dort herrschenden ethnischen Verhältnissen komplizierten Quotierungs- ¬und Abstimmungsmechanismen unterwerfen, nach denen politische Ämter, und sogar Arbeitsplätze in den Betrieben vergeben wurden. Alles war streng nach einem ethnischen Schlüssel festgelegt und keine der verschiedenen Gruppen durfte benachteiligt werden. Dieses komplizierte System der Quotierungen und quotierten Entscheidungen, so der Autor, trieb jeden, der sich etwa um die Wirtschaft, eine reibungslose Versorgung und eine rationale Ver¬waltung sorgte, über kurz oder lang zum Wahnsinn. Die für die praktischen Probleme auf der Ebene der Wirtschaft und Verwaltung zuständigen “Technomanager“, die sich durch die ethnischen Quotierungsregeln gehandicapt sahen, hatten sich auf der Ebene der “Politik“ mit den Wächtern über die Rechte der Völker und Völkerschaften, so genannten “Ethnarchen“, herumzuschlagen ge-habt, die auf ethnischen Proporz Rücksicht zu nehmen hatten und nicht auf “bessere Argumente“.
Den ethnischen Quotierungswünschen standen die Ansprüche wirtschaftlicher Effizienz stets gegenüber. Eben indem es den ethnischen Gegensatz „löste“, so Mappes-Niediek, geriet Jugoslawien in die “Ethno-Falle“. Am Ende des Weges standen klar umrissene, scharf positionierte und emotional hoch gerüstete Gemeinschaften. So wurden Muslime, Serben und Kroaten in den Mehrheitsgebieten des jeweils anderen Volkes nicht als Fremde verfolgt, sondern als potentielle Störenfriede beim Aufbau einer modernen, demokra¬tischen Gesellschaft: Es war ein “Krieg um der Demokratie wegen“. Daß es ohne Vertreibungen zu der angestrebten demokratischen “Bürgergesellschaft“ kommen könnte, hielten die Reformer in Jugoslawien für eine Illusion.
Nach Ansicht von Mappes-Niediek ist die Europäische Union viel zu hochmütig, um zu begreifen, wie jugoslawisch ihre Probleme sind. Ähnlich wie in Jugoslawien die “Technokraten“ sieht er die Mit¬glieder der EU-Kommission als diejenigen, die arbeiten, sachlich sind, fleißig und nach Möglichkeit gerecht, dann aber gehalten seien, sich in die “Politik“, die Wahrung des Gleichgewichts, nicht einzumischen. Eine einzige Volkswirtschaft, aber verschiedene nationale Identitäten; wirtschaftlich wachse alles zusammen, die Mechanismen der Entscheidungsfindung dagegen strebten auseinander:
das sei exakt die jugoslawische Mischung, die irgendwann in das Gefühl münde, jede Nation werde von der anderen ausgebeutet.
Unterschiede sieht Mappes-Niediek aber doch: So bestehe die EU etwa nicht aus “Völkern“ oder aus abstrakten “nationalen Gemeinschaften“, sondern aus fünfundzwanzig gleich¬berechtigten, souveränen Staaten. Das mache sie zwar noch weniger manövrierfähig als einen echten Vielvölkerstaat, behüte sie aber auch vor dessen quälenden täglichen Reibereien.
Mappes-Niediek versteht es, das jugoslawische Problem plastisch zu verdeutlichen und, wenn auch etwas gewagte, Vergleiche mit der EU zu ziehen. Aber genau das kann West-Europäer, wenn sie sich mit diesem Buch auseinandersetzen, dazu motivieren, eher auf identitätsstiftende Entscheidungen zu zielen als durch politisch fragwürdigen Proporz die einzelnen Staaten nationalistisch zu verfestigen.

NORBERT-MAPPES NIEDIEK: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann. Ch. Links Verlag, Berlin 2005. 220 Seiten, 14,90 Euro.

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