Kopftuchverbot – Benachteiligung wegen der Religion.

Die Klägerin ist Diplom-Informatikerin; sie bezeichnet sich als gläubige Muslima und trägt als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Die Klägerin bewarb sich beim beklagten Land im Rahmen eines Quereinstiegs mit berufsbegleitendem Referendariat für eine Beschäftigung als Lehrerin in den Fächern Informatik und Mathematik in der Integrierten Sekundarschule (ISS), dem Gymnasium oder der Beruflichen Schule. Das beklagte Land lud sie zu einem Bewerbungsgespräch ein. Im Anschluss an dieses Gespräch, bei dem die Klägerin ein Kopftuch trug, sprach sie ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz* an. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen.

Nachdem ihre Bewerbung erfolglos geblieben war, nahm die Klägerin das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Anspruch. Sie hat die Auffassung vertreten, das beklagte Land habe sie entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihrer Religion benachteiligt. Zur Rechtfertigung dieser Benachteiligung könne das beklagte Land sich nicht mit Erfolg auf § 2 Berliner Neutralitätsgesetz berufen. Das darin geregelte pauschale Verbot, innerhalb des Dienstes ein muslimisches Kopftuch zu tragen, verstoße gegen die durch Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit. Das beklagte Land hat demgegenüber eingewandt, das Berliner Neutralitätsgesetz sei verfassungsgemäß und auch unionsrechtskonform. Die darin geregelte Verpflichtung der Lehrkräfte, im Dienst u.a. keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG bzw. der unionsrechtlichen Vorgaben dar. Angesichts der Vielzahl von Nationalitäten und Religionen, die in der Stadt vertreten seien, sei eine strikte Neutralität im Unterricht aus präventiven Gründen erforderlich; des Nachweises einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität bedürfe es nicht. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung i.H.v. 5.159,88 Euro verurteilt. Gegen diese Entscheidung hat das beklagte Land Revision eingelegt, mit der es sein Begehren nach Klageabweisung weiterverfolgt. Die Klägerin  hat Anschlussrevision eingelegt, mit welcher sie die Zahlung einer höheren Entschädigung begehrt.

Sowohl die Revision des beklagten Landes als auch die Anschlussrevision der Klägerin hatten vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Klägerin kann von dem beklagten Land nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung i.H.v. 5.159,88 Euro verlangen. Die Klägerin hat als erfolglose Bewerberin eine unmittelbare Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Der Umstand, dass ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle die Klägerin im Anschluss an das Bewerbungsgespräch auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz angesprochen und die Klägerin daraufhin erklärt hat, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen, begründet die Vermutung, dass die Klägerin wegen der Religion benachteiligt wurde. Diese Vermutung hat das beklagte Land nicht widerlegt. Die Benachteiligung der Klägerin ist nicht nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Das beklagte Land kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf die in § 2 Berliner Neutralitätsgesetz getroffene Regelung berufen, wonach es Lehrkräften ua. untersagt ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke und damit auch ein sog. islamisches Kopftuch zu tragen.  Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an die der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden ist, führt eine Regelung, die – wie § 2 Berliner Neutralitätsgesetz – das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs durch eine Lehrkraft im Dienst ohne Weiteres, dh. schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule verbietet, zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, sofern das Tragen des Kopftuchs – wie hier im Fall der Klägerin – nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. § 2 Berliner Neutralitätsgesetz ist in diesen Fällen daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt. Eine solche konkrete Gefahr für diese Schutzgüter hat das beklagte Land indes nicht dargetan. Aus den Vorgaben von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, die der nationale Gesetzgeber mit § 8 Abs. 1 AGG in das nationale Recht umgesetzt hat, und aus  den in Art. 10 und Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union getroffenen Regelungen ergibt sich für das vorliegende Verfahren nichts Abweichendes. Den Bestimmungen in §§ 2 bis 4 Berliner Neutralitätsgesetz fehlt es bereits an der uinionsrechtlich erforderlichen Kohärenz. Mit den Ausnahmeregelungen in den §§ 3 und 4 Berliner Neutralitätsgesetz stellt der Berliner Gesetzgeber sein dem § 2 Berliner Neutralitätsgesetz zugrundeliegendes Regelungskonzept selbst in Frage. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Höhe der der Klägerin zustehenden Entschädigung hielt im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Kontrolle stand.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. August 2020 – 8 AZR 62/19 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. November 2018 – 7 Sa 963/18 –

*§ 2 Neutralitätsgesetz  Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.

CDU Berlin fordert Reform des Neutralitätsgesetzes.
Als Reaktion auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, das Tragen religiöser Symbole durch Lehrerinnen und Lehrer grundsätzlich zuzulassen, fordert der stellvertretende Vorsitzende der CDU Berlin, Falko Liecke, eine Reform des Neutralitätsgesetzes. Das Gesetz müsse so formuliert werden, dass die Gefahr für den Schulbetrieb und die staatliche Neutralität, die von religiösen Symbolen ausgeht, schon im Gesetz klar benannt wird und die Verantwortung nicht auf einzelne Schulen abgeladen wird.
 
Falko Liecke: „Schon heute gibt es einen Kampf um die Deutungshoheit an Berliner Schulen. Wenn salafistische Moscheen unter den Augen des Staates Kinder indoktrinieren und in der Grundschule gegenüber auf einmal viele Kinder mit Kopftüchern auftauchen, haben unsere gemeinsamen Werte schon jetzt einen schweren Stand. Gleichberechtigung von Mann und Frau, Rechtsstaatlichkeit und alleiniger Geltungsanspruch unserer Rechtsordnung finden in der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen nicht mehr statt. Berlin muss sich dem entschlossen entgegen stellen und nicht aus falsch verstandener Toleranz einknicken.
 
Der politische Islam nutzt jede Schwäche. Er nutzt jede Möglichkeit, um sein fundamentalistisches Religionsverständnis gegen die staatliche Neutralität in Stellung zu bringen. Er nutzt unsere Freiheitsrechte, um sie abzuschaffen. Das Kopftuch ist oftmals das Symbol für dieses rückwärtsgewandte und freiheitsfeindliche Islamverständnis. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes ist darum auch ein Schlag ins Gesicht all jener mutigen Muslime, die sich für einen modernen und aufgeklärten Islam einsetzen und deswegen angefeindet und bedroht werden.
 
Ich erwarte vom Berliner Senat den klaren politischen Willen, Kopftücher und andere religiöse Symbole bei Vertretern unseres Staates nicht zuzulassen. Dazu muss der Senat noch in diesem Jahr ein Neutralitätsgesetz vorlegen, das rechtssicher ist.“
Kopftuchurteil: „Starkes Signal gegen die Diskriminierung“.

„Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat ein wichtiges Urteil zum Schutz von muslimischen Frauen vor Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt gefällt“, erklärt Christine Buchholz, religionspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, zur gestrigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Buchholz weiter:

„Das Urteil ist ein wichtiges Signal gegen die Vorverurteilung und Stigmatisierung von muslimischen Frauen mit Kopftuch. Es kann Beschäftigte ermutigen, gegen die Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Religion vorzugehen – ob in der Privatwirtschaft oder bei öffentlichen Arbeitgebern. Denn muslimische Frauen mit Kopftuch werden bei der Arbeitssuche um ein Vielfaches häufiger abgelehnt als Frauen ohne sichtbares muslimisches Symbol. Nun müssen in Berlin und in anderen Ländern, in denen es diskriminierende Kopftuchverbote in Bereichen des öffentlichen Dienstes gibt, die Konsequenzen gezogen werden. Für DIE LINKE widerspricht die individuelle Religionsfreiheit von Beschäftigten nicht der Neutralität des Staates – anders als das Kreuz an der Wand in bayrischen Behörden. Das Gericht argumentiert, dass ein generelles Verbot religiös geprägter Kleidungsstücke ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Religionsfreiheit sei. Das Gericht erkannte an, dass die klagende muslimische Bewerberin eine unmittelbare Diskriminierung wegen ihrer Religion erfahren hatte.“

„Staatliche Neutralität ist die Voraussetzung für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft“.

Zum Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom gestrigen Tag erklärt der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel:

„Die gute Nachricht lautet: Das Neutralitätsgesetz ist weiter in Kraft. Das Gericht hat zwar die Entschädigung für die Bewerberin aus arbeitsrechtlichen Gründen bestätigt, aber das Neutralitätsgesetz bleibt bestehen. Für die Neuköllner Schulen ist das die wichtigste Botschaft.   Ich erwarte trotzdem, dass die Bundesländer sich jetzt auf einheitliche Formulierungen und einen einheitlichen Umgang mit Neutralitätsgesetzen konzentrieren. Denn die Schulen – Schüler*innen, Kollegium und angehende Lehrkräfte – brauchen Rechtssicherheit im Klassenzimmer. Dazu ist ein Neutralitätsgesetz nötig, das auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand hat.   Die vorderste Aufgabe des Staates ist es darauf zu achten, dass das Grundgesetz eingehalten wird. Dazu dient das Neutralitätsgesetz. Bei Religionsfreiheit ist immer die positive und die negative Religionsfreiheit zu berücksichtigen: Die Freiheit, seinen Glauben leben zu dürfen und die Freiheit, einen Glauben nicht leben zu müssen.   Es ist nicht staatliche Aufgabe, dies zu bewerten. Niemand ist anders gestellt, weil er oder sie christlich, muslimisch oder jüdisch ist. Genauso ist niemand anders gestellt, weil er oder sie sich entschieden hat, nicht oder etwas anderes glauben zu wollen. Das Neutralitätsgesetz sichert die Klassenräume gegen religiöse Instrumentalisierung, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, ab.   In Neukölln beobachten Schulleitungen einen zunehmenden Bekenntniszwang an Schulen. Schüler*innen fühlen sich verstärkt durch konfrontative Religionsbekundungen diskriminiert. Aber Religionsbekundungen haben nichts im Klassenraum zu suchen. Ich bin überzeugt, dass das Neutralitätsgesetz die Grundvoraussetzung für Antidiskriminierung ist. Denn staatliche Neutralität ist die Voraussetzung für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft.“    

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