Rede von Außenminister Heiko Maas am 20. Juli 2018 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin.

20.07.2018 – Rede.

„Zukunft braucht Erinnern“.

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, lieber Michael Müller,
sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundestags, lieber Thomas Oppermann,
sehr geehrte Frau Kollegin von der Leyen,
sehr geehrter Herr Prof. Kirchhof,
sehr geehrter Herr Smend,
sehr geehrter Herr Professor von Steinau-Steinrück,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor zehn Tagen erreichte uns die Nachricht, dass China die Künstlerin Liu Xia nach Deutschland ausreisen lässt. Die letzten acht Jahre hatte sie im Hausarrest verbracht. Der Grund dafür: Sie war mit dem Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verheiratet.

Ein Freund der beiden wurde nach der Freilassung im Spiegel interviewt. Auf die Frage, welchen Beitrag Deutschland zu der Freilassung geleistet hat, sagte er: „Die deutsche Regierung hat sich unbeirrbar, über Jahre hin nachhaltig für diesen Fall eingesetzt. (…) Für mich ist die Fahne Deutschlands die Flagge der Menschlichkeit. Wenn ich sie flattern sehe, erfüllt mich das mit innerer Wärme.“

Diese Sätze – vor 74 Jahren wären sie undenkbar gewesen. Deutschlands Fahne war damals das Banner der Tyrannei und der Niedertracht. „Menschlichkeit“ und „Deutschland“ – zwischen diesen Worten klaffte ein unüberbrückbarer Gegensatz.

Heute, am 20. Juli, gedenken wir den Männern und Frauen, die diesen Gegensatz nicht länger hinnehmen wollten. Die sich nicht abfinden wollten mit dem Ende der Menschlichkeit in ihrem Land. Sie kämpften – so heißt es im Entwurf der leider nie gehaltenen Regierungserklärung der Widerstandskämpfer – für die „Majestät des Rechts“, für die „Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung“.

Das nationalsozialistische Regime fürchtete die Macht dieser Ideen. Es fürchtete sie so sehr, dass es diejenigen umbrachte, die dafür eintraten.

Ludwig Beck, Friedrich Olbricht, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften fielen dieser Raserei hier im Bendlerblock in der Nacht des 20. Juli 1944 zum Opfer. Vor ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit können wir uns heute nur in Demut verneigen.

Ihre Tat verlieh dem Widerstand das, was der Historiker Peter Hoffmann einmal die „Legitimation des Manifesten“ genannt hat. So wie Hitler für den Wahnsinn des Nationalsozialismus stand, so war das Attentat auf ihn äußerster Ausdruck des Aufbegehrens gegen die Tyrannei. Dadurch erhielt der Widerstand in seiner ganzen Breite Sichtbarkeit. Das Attentat zeigte der Welt: Es gibt noch ein anderes, ein besseres Deutschland.

Wir denken deshalb heute nicht nur an die fünf Männer, deren Namen hier verewigt sind.
Wir gedenken auch all derjenigen, die in den dunkelsten Stunden unserer Geschichte an die Menschlichkeit geglaubt und menschlich gehandelt haben.

  • Die Verfolgten halfen so wie Maria Nickel aus Kreuzberg, die einer jüdischen Familie gefälschte Papiere besorgte.
  • Die mit Flugblättern gewarnt haben vor dem unmenschlichen Regime – wie Hans und Sophie Scholl oder der Hamburger Lehrling Helmuth Hübener.
  • Die sich nicht abgefunden haben mit der Verrohung eines ganzen Landes und dafür oft mit ihrer Freiheit oder sogar ihrem Leben bezahlen mussten.

Der Mut dieser Menschen berührt und bewegt uns bis heute. Er bewegt uns deshalb, weil in unserer Bewunderung auch immer die Frage mitschwingt: Wie hätte ich gehandelt? Hätte ich den Mut aufgebracht, mein Leben in Gefahr zu bringen? Hätte ich es riskiert, dass meine Familie, meine Freunde für mein Handeln zur Verantwortung gezogen werden? Hätte ich Widerstand geleistet, wohl wissend, dass ich in den Augen meiner Mitmenschen als Verräter gelten würde?

Machen wir es uns nicht zu einfach. Zu unterschiedlich sind die Zeiten. Zu existenziell sind die Fragen. Und jeder Versuch einer Antwort wäre entweder wohlfeil oder entmutigend.

Und doch lehren uns diese Fragen etwas, das im Alltagsgeschäft unserer modernen Demokratie nicht gerade alltäglich ist: Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, in einem Land zu leben, das uns eine Antwort auf diese existenziellen Fragen nicht mehr abverlangt. Das es uns dadurch leichter macht, für unsere Überzeugungen einzustehen.

Dankbarkeit aber auch gegenüber den Männern und Frauen des 20. Juli, die durch ihren Widerstand ein Zeichen des Anstands und der Hoffnung gesetzt haben.

Meine Damen und Herren,
Die Gegnerschaft zur Diktatur führte ganz unterschiedliche Kräfte zusammen. Neben den Widerstandskämpfern im Militär stand auch eine breite zivile Opposition: Vertreter der Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen, der Kirchen, Angehörige des Kreisauer Kreises, Politiker wie der Sozialdemokrat Julius Leber oder der nationalkonservative Carl Friedrich Goerdeler, Beamte und Unternehmer, Frauen und Männer ganz unterschiedlicher Überzeugungen.

Anders als wir kannten sie Demokratie und politische Parteien höchstens als instabile Konstrukte. Internationale Zusammenschlüsse wie der Völkerbund hatten sich als kraft- und wirkungslos erwiesen.
Nationalismus und Revanchismus waren keine extremen Randerscheinungen, sondern sie waren der Mainstream.

Die historische Forschung hat die Motive und Wege des deutschen Widerstands immer wieder auch kritisch ausgeleuchtet:

  • Die wechselhafte Beziehung einzelner Widerstandskämpfer zum NS-Regime.
  • Die langen, manchmal von Irrtümern gezeichneten Wege in den Widerstand.
  • Die Zweifel an den Attentatsplänen und am Einsatz von Gewalt.
  • Die Gründe für den späten Zeitpunkt der Tat.

So wichtig diese Aufarbeitung ist – sie birgt auch eine Gefahr. Die Gefahr, die Ursachen für den Fehlschlag des Umsturzversuchs ausgerechnet bei den wenigen zu verorten, die den Mut zum Handeln aufbrachten. Deren Verdienst es war, es gewagt zu haben.

Um über den Widerstand zu urteilen, müssten wir die Gewissensqualen der Männer und Frauen nachempfinden können, die am
20. Juli zur Tat geschritten sind. Ihre Zerrissenheit zwischen Loyalität und Aufbegehren. Zwischen Angst und Opferbereitschaft. Zwischen dem Zweifel am Erfolg der Umsturzpläne und dem Wissen um deren Notwendigkeit.
All dies scheitert an der historischen Distanz. An der Schwierigkeit, die unterschiedlichen Wege in den Widerstand überhaupt nachvollziehen zu können.

Alle Widerstandskämpfer einte aber eines: ihre Entschlossenheit, gegen das vom Regime millionenfach verübte Unrecht aufzustehen. Dem Bösen durch Worte und durch Taten ein Ende zu bereiten.

Damit brachen sie mit dem, was der Historiker Fritz Stern als das „feine Schweigen“ bezeichnet hat. Er beschreibt damit die Haltung all derjenigen, die Hitler zwar nicht fanatisch zujubelten, die aus Angst oder Opportunismus aber die Augen verschlossen vor der Barbarei. Deren Gewissen sie eben nicht wie die Männer und Frauen des Widerstands zum bedingungslosen Handeln drängte.

Auch hier verbietet die historische Distanz wohlfeile Kritik. Denn aktiven Widerstand gegen das NS-Regime einzufordern hieße in letzter Konsequenz, jeder und jedem den Mut zum Märtyrertum abzuverlangen.

Historische Distanz hindert uns aber nicht daran, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Erschreckend ist, dass das feine Schweigen nicht mit dem NS-Regime endete. Auch in der Bundesrepublik wurden die Helden des Widerstands und ihre Familien gemieden, oft sogar als Verräter verunglimpft. Erinnerung an die Opfer war Privatsache. Und Hinterbliebene mussten viel zu lange auf staatliche Wiedergutmachung und die Aufhebung der Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs warten – sofern es überhaupt dazu gekommen ist.

Und heute? Unser Blick auf den Widerstand hat sich zum Glück zum Positiven gewandelt. Großen Anteil daran haben die „Stiftung 20. Juli“, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und natürlich die Familienangehörigen und Hinterbliebenen der Opfer. Ich freue mich, dass viele von Ihnen heute hier sind. Sie haben durch Ihr Engagement dafür gesorgt, dass sich der 20. Juli in der deutschen Geschichte und in der Erinnerung als ein Wendepunkt zum Guten eingeprägt hat.

Zu erinnern bedeutet niemals nur Rückschau. Erinnern ist immer auch Auftrag.
Das gilt umso mehr, als die Erinnerung an den Widerstand bald ja ohne Zeitzeugen auskommen muss.

Heute berufen sich ausgerechnet diejenigen auf ihr „Recht zum Widerstand“, die Volksvertreter lautstark als „Volksverräter“ schmähen. Die Erinnerung als „Schuldkult“ abtun und die freie Medien als „Lügenpresse“ diffamieren. Das ist beschämend. Und ich halte es für unerträglich, dass die vom Widerstandskämpfer Josef Wirmer entworfene Fahne des 20. Juli auf Kundgebungen von Neonazis missbraucht wird. Dieses Symbol – ein Kreuz in den demokratischen Farben Schwarz, Rot und Gold – sollte über dem vom Nationalsozialismus befreiten Deutschland wehen. Es sollte die Ideale verkörpern, für die die Frauen und Männer des 20. Juli ihr Leben gegeben haben. Es war eine Flagge der Menschlichkeit.

Erinnern ist Auftrag. Und deshalb darf es kein feines Schweigen geben, wenn Wutbürger und Ewiggestrige solche Symbole des Widerstands perfide umdeuten. Erinnern heißt dann auch: laut und deutlich zu widersprechen. Mit dem Satz von Kurt Tucholsky im Kopf: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“

Dazu bedarf es keines Märtyrertums. Im Jahr 2018 reicht dafür Zivilcourage.
Mischen wir uns ein, wenn Diskussionen im Familien- und Freundeskreis in dumpfe Ressentiments abgleiten!
Setzen wir Argumente und Fakten gegen die Untergangsszenarien reaktionärer Populisten!
Äußern wir uns differenziert, wenn Nationalisten allzu einfache Lösungen vorgaukeln!

Das alles gehört zu einem zeitgemäßen Erinnern an den 20. Juli 1944. Das haben Sie, die Nachfahren der Widerstandskämpfer, uns heute durch Ihren Aufruf im Tagesspiegel noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Europa braucht Unterstützer wie Sie – heute mehr denn je!

Ich möchte an die Ideen von Männern wie Adam von Trott zu Solz erinnern, der für seine Beteiligung am Widerstand am 15. August 1944 in Plötzensee gehängt wurde. Auf dem Weg in mein Büro im Auswärtigen Amt komme ich jeden Tag an der Ehrentafel vorbei, auf der sein Name steht.

Für ihn und seine Mitstreiter des Kreisauer Kreises war klar: Frieden in Europa gelingt nur durch die Überwindung von Grenzen. Ihre Hoffnungen ruhten auf einer europäischen Föderation – mit eigenen Streitkräften, einer Zollunion, einer einheitlichen Währung und einem gemeinsamen höchsten Gerichtshof.

Unser friedlich geeintes Europa hat dort seine Wurzeln. Wer also heute die Europäische Union und ihre Errungenschaften in Frage stellt, der legt auch dort die Axt an.

Die europäische Dimension des Widerstands kann zu einem gemeinsamen europäischen Erinnern führen. Auch in anderen Ländern setzten viele der Vordenker Europas ihr Leben im Widerstand aufs Spiel.
– Robert Schuman zählt natürlich dazu. Nach seiner Deportation nach Deutschland und der anschließenden Flucht engagierte er sich in der französischen Résistance.
– Oder Sicco Mansholt, späterer Präsident der Europäischen Kommission, der in den Niederlanden Untergetauchte und Verfolgte während der deutschen Besatzung unterstützte.

Fritz Stern hat hier im Bendlerblock bereits vor acht Jahren ein europäisches Erinnern vorgeschlagen. Ein Erinnern, das natürlich die Unterschiede offenlegt zwischen dem Widerstand gegen eine fremde Besatzungsmacht und dem Widerstand gegen eine Diktatur im eigenen Land. Das aber auch die Gemeinsamkeiten aufzeigt, allen voran den Mut aller Widerstandskämpfer im Ringen um die Menschlichkeit.

Ein Schritt dahin wäre, junge Menschen in allen Teilen Europas mit der gegenseitigen Geschichte des Widerstands vertraut zu machen. Ich glaube, das wäre auch eine gesunde Immunisierung gegen die populistische Propaganda in vielen europäischen Ländern. Ich freue ich mich deshalb, dass die Stiftung 20. Juli, das Auswärtige Amt und die deutschen Auslandsschulen hierzu schon im Gespräch sind und gemeinsam aktiv werden wollen – Besonders mit Blick auf das 75. Jubiläum des Attentats im kommenden Jahr.

Meine Damen und Herren,
eine der wenigen Akten des Auswärtigen Amts zum 20. Juli, die den Brand des Gebäudes in der Wilhelmstraße im April 1945 überlebt hat, enthält einen Vermerk über den Schauprozess gegen den Diplomaten Ulrich von Hassell. Als einer der Köpfe des zivilen Widerstands wurde er am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und noch am selben Tag umgebracht. Der Vermerk zitiert aus dem Todesurteil gegen von Hassell. Der Volksgerichtshof warf ihm vor, er „habe die Saat [zwar] nicht gesät, sie aber reifen lassen.“

Welche Ironie steckt in einem solchen Satz! Ausgerechnet das schrecklichste deutsche Gericht bezeugt darin ganz unbeabsichtigt die zukunftsweisende Kraft des Widerstands.

Helmuth von Moltke hat diese Kraft gespürt, als er in einem Abschiedsbrief aus dem Gefängnis in Tegel schrieb: „Ich bin wie ein stiller Sämann übers Feld gegangen(…). Der Samen aber, den ich gesät habe, der wird nicht umkommen, sondern wird eines Tages seine Frucht bringen(…).“

Heute wissen wir: Der Aufstand der Anständigen war nicht vergebens. Die Saat ist aufgegangen und zwar in unserem Grundgesetz, das die Würde des Menschen über alles andere stellt. Sie ist gewachsen und gereift durch die ehrliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht. Ihre Früchte sind unsere freie Gesellschaft und Deutschlands Ansehen in Europa und in der Welt.

Der 20. Juli 1944 steht daher nicht für das Scheitern des Widerstands. Er markiert den Aufbruch zu einem neuen, zu einem besseren Deutschland. Dem Deutschland der Menschlichkeit, von dem der chinesische Menschenrechtsaktivist vergangene Woche gesprochen hat.

Unsere Aufgabe ist es, dieses menschliche Deutschland in einem vereinten Europa zu bewahren. Mit aller Kraft, die dafür auch aus dem Erinnern an den 20. Juli 1944 erwächst.

Zukunft braucht Erinnern.

Vielen Dank!

Fotoquelle: © 2014 Gedenkstätte Deutscher Widerstand

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