Staatsraison ist prinzipiell Opportunitätsprinzip.

TP-Interview mit dem Sachbuchautor Jürgen Roth.

Frage:

Herr Roth, wie oft sind Sie verklagt bzw. einstweilige Verfügungen gegen Sie erwirkt worden?

Roth:

So richtig zählen kann ich das nicht mehr. Aber sicher schon sehr häufig in der Vergangenheit, also mindestens acht oder neun Mal, was Unterlassungserklärungen oder einstweilige Verfügungen angeht – in der Regel immer beim Landgericht Berlin oder Landgericht Hamburg ….

Frage:

… also bei der so genannten Spezialkammer des Presserechts…

Roth:

… man nennt sie auch Pressezensurkammer in Fachkreisen – wogegen die sich natürlich wehren -, aber das gehört im Prinzip dazu und außerdem lernt man daraus, man formuliert immer vorsichtiger, was natürlich ein großes Problem ist, weil man im Grunde genommen bestimmte Dinge, die so offensichtlich sind, wo die Dokumentenlage teilweise offensichtlich ist, daß man das einfach nicht mehr benutzen kann, weil wir eben diese Hamburger oder Berliner Rechtsprechung haben.

Frage:

Kann es auch daran liegen, daß sie in ihren Formulierungen überzogen bzw. an der Wahrheit vorbei formuliert haben?

Roth:

Nein, an der Wahrheit vorbei sicherlich nicht, weil, ich habe noch nie den Falschen getroffen mit dem, was ich gesagt habe. Das Problem war unter Umständen die Beweislage, das heißt, ich habe mich beispielsweise auf Polizeiunterlagen verlassen oder ich bin das Risiko eingegangen, wissentlich, daß ich die Quellen nicht verraten kann. Da war also das Abwägen: geht die betroffene Person vor Gericht oder geht sie nicht. Wenn sie vor Gericht geht, weiß ich, ich verliere, weil ich die Quelle nicht offenbaren kann, weil der Quellenschutz mir wichtiger ist als alles andere. Und da fängt man halt eine einstweilige Verfügung. Das ist nicht weiter schlimm, da mache ich mir wirklich keinen großen Kopf darüber.

Frage:

Da wird an der Wahrheit also nicht gerüttelt?

Roth:

Sicherlich habe ich manchmal Fehler gemacht, aber ich habe sicherlich kein einziges Mal den Fehler gemacht, daß ich, wie gesagt, jemanden beschuldigt habe in kriminelle Machenschaften verstrickt zu sein, der es nicht war. Es war allenfalls die Frage der Beweisbarkeit.

Frage:

Sie sprechen ja in ihrem letzten Buch „Anklage unerwünscht“ davon, daß Staatsanwälte in Machenschaften von Politikern und Wirtschaftsbossen verstrickt sind. Haben Sie dafür Beweise?

Roth:

Natürlich habe ich Beweise. Und die Beweise werden in dem Buch ja auch teilweise, soweit das überhaupt möglich ist, zitiert. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen aus Sachsen. Und es gibt natürlich aber auch aus Hessen Beispiele, wo nicht unbedingt Staatsanwälte in korrupte Machenschaften verstrickt sind, aber in dem Moment, wo man der Macht sozusagen in den Hintern kriecht, ist das auch eine Form von Korruption. Und das finden Sie natürlich in allen Bundesländern – ob alt oder neu.

Frage:

Die französische Untersuchungsrichterin Eva Joly spricht davon, daß Staatsanwälte in Deutschland nicht unabhängig sind, weil sie den jeweiligen Justizministern oder Justizsenatoren unterstehen – also gewissermaßen politisch indoktriniert sind.
Würden Sie hier von DDR-Verhältnissen sprechen?

Roth:

Nein, wir haben glücklicherweise keine DDR-Verhältnisse. Wir haben aber ein Verhältnis, daß sozusagen das Legalitätsprinzip oder die Legalität überhaupt – was die Justiz angeht -, eine immer geringere Rolle spielt. daß Sie sicher bestimmte Gerichte haben, wo Sie im Prinzip Recht haben müßten, aber nie Recht bekommen werden, weil die Positionen teilweise entweder mit Angehörigen der CDU oder der SPD besetzt sind, also parteipolitische Anbindungen gegeben sind. Zur Zeit der DDR hatten wir eine politische Justiz, und heutzutage haben wir eine politisierte Justiz. Das ist der Unterschied. Das ist schon gravierend, aber eine politisierte Justiz heißt dann auch, sie ist abhängig von bestimmten politischen Entscheidungen. Das hat es in der Vergangenheit in dieser Form nicht gegeben.

Frage:

Sie haben die Beweislast angesprochen. Ist es nicht schwieriger, als Sie es möglicherweise beschreiben, z.B. in diesen Arzthaftungsprozessen?

Roth:

Es kommt schon auf das Spektrum innerhalb von juristischen Auseinandersetzungen an. Was jetzt die Arzthaftung angeht, also die ärztlichen Kunstfehler auf der einen Seite und überhaupt in diesem Bereich – da kommt ja noch die Gutachtertätigkeit hinzu -, da ist das Problem, daß die Justiz oder viele Richter das Problem nicht begreifen, also die intellektuelle Kapazität etwas gering ausgefallen ist; und dann ist es klar, daß in der Regel der Patient – der immer der Schwächere ist, weil er gar nicht das Kapital, das Geld hat – sozusagen hinten ansteht, weil der Arzt oder die Interessenvertretung der Ärzte wirklich Geld, das Kapital, im Hintergrund haben. Aber es gibt natürlich auch andere Fälle, die schildern wir ja gerade in diesem Buch, z.B. eines Arztes, der wirklich Geld hatte, der von der Staatsanwaltschaft beschuldigt wurde, Abrechnungsbetrug, fahrlässige Tötung usw. begangen zu haben, aber nun wirklich unschuldig war, aber von der Justiz in den Ruin getrieben wurde, weil es auf der anderen Seite Staatsanwälte gibt, die sozusagen blindwütig agieren. Sie haben wirklich teilweise Existenzen von Menschen zerstört.

Frage:

Wenn Richter keine Ahnung haben oder Staatsanwälte, sind sie dann nicht verpflichtet, alle Gutachter auszuschöpfen, die Ihnen zur Verfügung stehen?

Roth:

Gutachter auszuschöpfen bedeutet Geld, bedeutet Zeitaufwand. Es gibt Gutachter, die wirklich objektiv arbeiten, es gibt aber auch viele Gutachter – das sind bestimmte Gutachter -, die arbeiten für die entsprechenden Interessenvertreter. Und ein Geschädigter hat dann überhaupt keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Es gibt ja bestimmte Gutachtercliquen, die immer von den gleichen Gerichten beauftragt werden. Das finden sie beispielsweise im Wirtschaftsstrafrecht, das finden sie bei Insolvenzverfahren. Aber insbesondere im Insolvenzrecht sind es teilweise immer die gleichen Gutachter, die teilweise mit den Richtern – um es zurückhaltend auszudrücken – ein brüderliches Verhältnis haben.

Frage:

Ist das auch im Strafrecht so oder nur im Zivilrecht?

Roth:

Das ist im Zivilrecht sicher sehr ausgeprägt; im Strafrecht hängt es davon ab, wie finanziell potent der Angeklagte ist oder nicht. Es gibt sicher viele Fehlurteile, wo der Angeklagte nicht über die finanziellen Mittel verfügt, sich einen guten Rechtsanwalt zu leisten, der dann eben alle Mittel ausschöpft, weil er sie ausschöpfen kann aufgrund der Honorare, die er bekommt. Diese Möglichkeit hat ja der normale Sterbliche nicht.

Frage:

Ich rede jetzt von den Gutachtern.

Roth:

Nein, da denke ich, daß die Gutachter relativ unabhängig sind meines Wissens. Da habe ich nichts anderes im Kopf.

Frage:

Sie sprechen dennoch von Cliquen.

Roth:

Im Zivilrecht – im Wirtschaftsstrafrecht genau so -, werden ja dann von großen Kanzleien teilweise Gutachter beauftragt, die natürlich bestimmte Interessen haben, weil ihre Klienten im Grunde genommen aus dem gleichen Sumpf wie die Angeklagten kommen. Aber ich glaube, das kann man wirklich nicht generalisieren, weil es soll auch andere geben, die wirklich unabhängig arbeiten.

Frage:

Sie haben insbesondere bemängelt, daß in der sog. Leuna-Affäre sechs Staatsanwaltschaften die Ermittlungen verweigert haben. Inwiefern ist die Beweislage hier doch schwieriger, als Sie das in Ihren Buch beschreiben – auch wenn Sie auf die Bank hinweisen, die letzten Endes hinsichtlich Geldwäsche nicht durchleuchtet wurde?

Roth:

Das ist natürlich ein schwaches Argument – würde ich meinen, weil die Staatsanwaltschaft das Material, das ihr von Bertossa, dem Genfer Generalstaatsanwalt, zur Verfügung gestellt wurde, überhaupt nicht ausgewertet hatte. Bertossa hat sich ja bitter darüber beschwert, daß das Material, das er, zwar nicht im LKW, aber im großen VW-Bus vollbeladen nach Saarbrücken und Augsburg gebracht hat, nicht ausgewertet wurde. So gesehen hängt das schon ein bißchen unter Umständen mit den Arbeitskapazitäten der Staatsanwaltschaften zusammen, hängt aber auch natürlich damit zusammen, daß Leuna eine hochgradige politische Affäre ist. Und daß überhaupt kein Interesse bestanden hat, die Hintergründe, insbesondere was den Geldverkehr angeht, die Finanztransaktionen, die Spenden an die CDU, die alle damit zusammenhängen, aufzuklären; also ich glaube, eine Staatsanwaltschaft wäre sowieso überfordert, weil sie auch wiederum nicht die Kapazitäten hat und ihr die Kapazitäten nicht zur Verfügung gestellt werden. Da hätte man eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft mit verschiedensten Staatsanwälten bilden müssen.

Frage:

Wie man das z.B. hier in Berlin mit dem Bankenskandal gemacht hat?

Roth:

Ja, der Bankenskandal, halleluja, den hat es hier zwar gegeben, aber erst einmal hat er alle anderen Aktivitäten lahmgelegt. Das darf man ja auch nicht vergessen. Und so richtig aufgeklärt ist der Bankenskandal ja bis zum heutigen Tage nicht. Wenn Herr Landowski mit dieser billigen Strafe weggekommen ist, wo er natürlich einen weitaus größere Verantwortung getragen hat, wenn bekannt ist, daß bevor die Staatsanwaltschaft gekommen ist, im Großen und Ganzen schon Akten vernichtet worden bzw. nach London gebracht worden sind, dann sind schon Zweifel angebracht, ob das ein positives Beispiel für die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität ist.

Frage:

Sehen Sie eine Chance, daß gewisse Skandale wie die Leuna-Affäre oder die Schmiergeldaffäre in Sachen Karl-Heinz Schreiber jemals aufgeklärt bzw. zu einer Verurteilung führen werden?

Roth:

Nein, die werden nie zu einer Verurteilung führen, die werden auch nie aufgeklärt werden; zumindest werde ich es nicht erleben – Sie vielleicht oder Ihre Kinder, wenn mal die Archive geöffnet werden sollten -, aber es gibt in der Justiz das raison d’etat, also die Staatsraison, die spielt eine größere Rolle als die Aufklärung von Verbrechen.

Frage:

Inwiefern ist die Staatsraison mit dem Opportunitätsprinzip zu sehen?

Roth:

Na ja, Staatsraison ist prinzipiell Opportunitätsprinzip. Mit dem Legalitätsprinzip ist sie nicht in Einklang zu bringen, weil natürlich alle Straftaten verfolgt werden müssen, aber es werden halt, sozusagen wie die Nachrichtendienste arbeiten, also nach dem Opportunitätsprinzip – ist es sinnvoll oder ist es nicht sinnvoll oder welche politische Interessen spielen eine Rolle -, daß Informationen weitergegeben werden oder nicht. Und genauso ist es eben im Bereich der Justiz. So ist es halt.

Frage:

In einem Fall Ihres Buches „Deutschlandclan“ schildern sie als „Ausmaß der Schieberei“, daß z.B. ein SPD-Staatssekretär problemlos seinen bisherigen Job mit einem hohen Posten in der Wirtschaft wechseln konnte. Für Friedrich Merz von der CDU war der Wechsel in Ordnung.

Roth:

Hier geht es um wirtschaftliche Interessen von großen Konzernen, und da spielt die SPD die gleiche unrühmliche Rolle wie sie die CDU traditionell schon immer gespielt hat.

Frage:

Hier hackt also die eine Krähe der anderen kein Auge aus.

Roth:

Hier hackt ein moralisch Korrupter dem anderen moralisch Korrupten kein Auge aus. Und deswegen ist es ziemlich gleichgültig, ob er zur SPD oder zur CDU oder FDP gehört. Die decken sich ja in aller Regel ab; und verfolgen auch ideologisch-wirtschaftspolitisch die gleichen Interessen. Deswegen ist ja Schröder ein so gutes Beispiel für die moralische Verkommenheit.

Frage:

Nun haben Sie in mindestens einem Fall geschrieben, wo Staatsanwälte kaltgestellt wurden, die ermitteln wollten, wo sie nicht ermitteln sollten. Inwiefern kann man hier noch von dem Prinzip sprechen: eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus?

Roth:

Bei der Justiz ist das gleiche Prinzip, daß man sich gesellschaftlich immer noch sozusagen versucht auf der gleichen Ebene zu bewegen wie die Kapitalbesitzer, also, sie fühlen sich als auserlesen, genießen ihr Machtgefühl teilweise. Es gab ja mal den Versuch der Demokratisierung der Justiz, die ja mehr oder weniger gescheitert ist aufgrund der politischen Situation von Rot-Grün spätestens. Diese Form einer demokratischen Justiz, die transparent ist, die gibt es nicht mehr. Wenn Sie in einem kleinen Ort sind, nennen wir mal Potsdam, da kennt jeder jeden, da geht man in einen Golfclub, man ist gemeinsam im Lyonsclub, im Rotaryclub, und dann hat man eine…., das sind die Netzwerke, um die es heutzutage geht. Und da wird in der Tat niemand dem anderen weh tun oder besonders weh tun, sondern da wird man Informationen austauschen. So geschieht es ja auch. Da wird man für sich sorgen. So ist es ja auch in Sachsen geschehen. Und es gibt überhaupt kein Interesse, wenn dann ein Richter korrupt ist oder ins Puff geht – das kann er ja auch, das sei ihm ja gegönnt -, etwa zu unternehmen. Selbst wenn er dann erpreßt wird, wird das alles abgedeckt. So gesehen nähern wir uns gewissen feudalistischen Verhältnissen. Und die sind mehr oder weniger in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt.

Frage:

Die Gerichte sind angeblich frei…

Roth:

… ja, ja …..

Frage:

…angeblich, die Staatsanwalten sind es nicht, sie sind – zumindest – politisiert. Sehen Sie eine Hoffnung, daß sie mal frei sind und demzufolge Straftaten in der Tat nach dem Legalitätsprinzip verfolgen können?

Roth:

Also ich glaube schon, weil, es hindert sie ja niemand, wann können sie denn verlieren, wenn sie das machen?

Frage:

Sie können z.B., wie Sie in Ihrem Buch bzw. Büchern selbst schildern, kaltgestellt werden.

Roth:

Ja, sie werden kaltgestellt, aber sie können natürlich trotzdem nach dem Legalitätsprinzip dafür sorgen, daß Verfahren durchgesetzt werden. Wenn sie dann versetzt werden, ist es etwas anderes. Aber es gibt ja sozusagen die Unterstufen, daß man Verfahren überhaupt nicht mehr eröffnet, aussagt – der Karriere wegen.

Frage:
Wir kennen das ja auch aus dem Flickskandal, daß Finanzbeamte versetzt werden, weil sie aufgeklärt haben.

Roth:

Das gleiche finden Sie in Hessen. Da sind Finanzbeamte, die in bestimmten Bereichen ermitteln wollten – da geht es um Geldverschiebungen nach Liechtenstein und Luxemburg -, halt gemobbt und dann ist die Abteilung aufgelöst worden. Die sie verfolgen wollten, durften nicht verfolgt werden. Das stützt ja alles so ein bißchen meine Angst oder meine These, daß sozusagen diese korruptiven Netzwerke alle Bereiche der gesellschaftlichen, der politischen Elite sozusagen erreicht haben, daß es da keine Ausnahmen mehr gibt. Wenn Sie mir vor zehn oder fünfzehn Jahren die Frage gestellt hätten: gibt es korrupte Richter, gibt es korrupte Staatsanwälte?, hätte ich eigentlich eher „Nein“ gesagt. Und heute sage ich: Aber selbstverständlich. Und zwar nicht als Einzelfälle, sondern teilweise, zumindest in bestimmten Bundesländern, als Strukturproblem.

Frage:

Ist der Rechtsstaat in Gefahr?

Roth:

Solange wir einen noch einigermaßen kritische Öffentlichkeit haben, ist der Rechtsstaat nicht in Gefahr. Der Rechtsstaat gerät eher in Gefahr durch den Schäubleschen Sicherheitswahn. Das heißt, es gibt ein interessantes Phänomen, daß sozusagen unter dem Vorwand des Terrorismus Grundrechte prinzipiell eingeschränkt werden, sozusagen als Vorwand im Kampf gegen Terrorismus Sicherheit versus Freiheit. Ob die Kriminalität nun wirklich den Rechtsstaat bedroht oder ob das der Terrorismus ist, ob es Wirtschaftskriminalität ist, die wirklich weitaus bedrohlicher als Terrorismus ist und weitaus mehr Opfer gefordert hat in der Vergangenheit und immer noch fordert, der wird ja ständig abgebaut dieser Bereich. Und der Bereich innere Sicherheit gegen Terrorismus, das hat ja schon wahnhaften Charakter im Grunde genommen. Das ist die einzige Gefährdung unserer Verfassung. Und damit unserer Demokratie.

Frage:

Der alte Goethe hatte mal gesagt: Im Auslegen seid’s frisch und munter, und legt ihr’s mal nicht aus, dann legt was unter. Können Sie solche Schliche in der deutschen Justiz eher mehr oder weniger bestätigen?

Roth:

Eigentlich eher mehr als weniger bestätigen. Aber je intensiver man sich damit beschäftigt, um so ohnmächtiger wird man, weil man sieht, man wird immer mehr konfrontiert mit genau solchen Vorgängen und steht ohnmächtig da, weil man im Grunde genommen nichts mehr tun kann, weil das Medium, das mir als Journalist und Publizist zur Verfügung steht, sehr beschränkt ist. Die Möglichkeiten der Veränderungen sind noch beschränkter und die Hilfe, die man anbieten kann, ist demnach eben sehr selektiv und kann nur noch reduziert wahrgenommen werden. Wie gesagt, ich bin da im Zustand, ja wirklich der Ohnmacht. Die Justiz ist ja eine wesentliche Stütze sozusagen des demokratischen Systems. Die politische Elite ist schon mehr oder weniger weggefallen, ziemlich erodiert. Die Justiz galt in der Vergangenheit sozusagen als einer der Träger des demokratischen Staates. Wenn der beginnt wegzubrechen, dann wird die Demokratie ein massives Legitimationsproblem haben.

Frage:

Wo wäre es angebracht, daß die Staatsanwaltschaft mal wirklich vom Opportunitätsprinzip Gebrauch macht?

Roth:

Sie hat z.B. bei Journalisten nichts zu suchen. Ich weiß, es laufen Verfahren wegen Geheimnisverrats, und da macht die Staatsanwaltschaft gerne Hausdurchsuchungen. Da hat sie im Grunde genommen im Bereich der Grundrechte nichts zu suchen. Da kann sie auch nichts zu suchen haben. Ansonsten, denke ich, der rechtliche Rahmen ist doch eigentlich abgesteckt, wo die Staatsanwaltschaft etwas zu suchen hat und wo sie nichts zu suchen hat. Auch im Bereich der Bagatellkriminalität hat die Justiz nichts zu suchen. Die Staatsanwaltschaft hat sich auf die qualitative Kriminalität zu konzentrieren.

Frage:

Was ist das?

Roth:

Qualitative Kriminalität ist Internetkriminalität, organisierte und Wirtschaftskriminalität, und alles was sozusagen vom Strafgesetzbuch von einer bestimmten Größe definiert wird. Aber Ordnungswidrigkeiten, Schwarzfahren, kleiner Ladendiebstahl, das kann die Stadtverwaltung machen oder wer auch immer, dazu brauchen wir keine gut ausgebildeten Juristen. Das kann ich ja selbst machen.
Es ist charakteristisch für sozusagen die klasse Justiz in Deutschland, daß sie in dem einen Fall mit allen Mitteln das Verfahren wegen Ladendiebstahls im Werte von 85 Cent betreibt – überlegen Sie mal, was das gekostet hat -, und auf der anderen Seite, da geht es um Insolvenzbetrug, meines Wissens um mindestens 20 Millionen Euro, da wird das Verfahren eingestellt.

Frage:

Sie haben eine „klasse“ Justiz erwähnt. Würden Sie von einer solchen in Deutschland sprechen?

Roth:

Nein, zumindest für die nicht so Vermögenden gibt es nicht so diese „klasse“ Justiz, sondern da ist das sozusagen die alte Justiz. Da wird nicht abgewogen, da wird erbarmungslos durchgegriffen.

Interview: TP Presseagentur, Dietmar Jochum, 2007

Fotoquelle: By Henryk Plötz – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15417631

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