„Demokratie ist kein Dampfer, dessen Kapitän man sich anvertraut, sondern ein Boot, in dem wir alle mitrudern müssen“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zum 75-jährigen Jubiläum von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft am 30. Oktober 2025 in Karlsruhe.

Zu einem Geburtstag eingeladen zu sein, das alleine ist schon schön. Noch schöner ist es, wenn die Einladung einem Doppelgeburtstag gilt. Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft, beide gegründet knapp anderthalb Jahre nach Inkrafttreten unserer Verfassung, feiern ihren Fünfundsiebzigsten.

Und ich freue mich, heute zwei Institutionen zu würdigen, die alle beide zu den tragenden und damit unverzichtbaren Säulen unseres Rechtsstaates gehören: den Bundesgerichtshof als letzte Instanz in Straf- und Zivilangelegenheiten, als Wahrer der Rechtseinheit und des Rechtsfriedens. Und die Bundesanwaltschaft als oberste Strafverfolgungsbehörde auf dem Gebiet des Staatsschutzes und bei Völkerrechtsverbrechen.

Gerade in diesen Zeiten bin ich dankbar dafür, dass wir in Deutschland auf den Schutz unserer Rechte und unserer Sicherheit vertrauen können.

Die Herrschaft des Rechts ist eine kostbare Errungenschaft für und in unserer Demokratie. Wir können ihren Wert kaum überschätzen. Denn wenn wir uns in der Welt umsehen, dann zeigt sich: Autoritäre Kräfte testen aus, wie stabil unsere liberale Demokratie und ihre Institutionen sind. Wo immer die Feinde der Freiheit versuchen, eine Demokratie zu Fall zu bringen, greifen sie zuallererst die Justiz und deren Unabhängigkeit an. Beispiele dafür finden sich innerhalb wie außerhalb Europas – selbst dort, wo es für uns noch vor Kurzem nicht vorstellbar gewesen wäre.

Es muss uns große Sorgen machen, wenn oberste Gerichte gezielt umgestaltet werden, um deren Unabhängigkeit auszuhebeln; wenn Richterinnen und Richter politisch gegängelt, diffamiert und bedroht werden. Umso wichtiger ist es, denjenigen den Rücken zu stärken, die – wie die Beschäftigten der Justiz – tagtäglich mit großem Verantwortungsbewusstsein für die Stärke des Rechts eintreten. Denn eine starke Demokratie braucht einen starken Rechtsstaat. Und wer für diese Demokratie und diesen Rechtsstaat streitet, der hat mich dabei an seiner Seite!

Wir haben uns eine Verfassung gegeben, um die Ausübung staatlicher Macht an das Recht zu binden, sie zu kontrollieren und um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Ich bin froh, dass unser Parlament kürzlich Stellung und Struktur des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz gestärkt und auch Vorkehrungen gegen mögliche Blockaden im Wahlverfahren getroffen hat. Das ändert jedoch nichts daran, dass jede und jeder, der an den Verfahren beteiligt ist, in der Verantwortung bleibt: Wir alle müssen mit den Institutionen unseres Rechtsstaates sorgsam umgehen – gerade im politischen Diskurs. Daran müssen wir uns auch selbst erinnern.

Es nicht gut für unser Land, wenn wir Richterwahlen zum Gegenstand parteipolitischen Streits machen. Und ebenso schädlich ist es, wenn wir zulassen, dass man Gerichte sowie deren Richterinnen und Richter öffentlich verhöhnt, ihre Entscheidungen als politisch motiviert verleumdet oder gar demonstrativ ignoriert. Ich stimme Ihnen deshalb ausdrücklich zu, liebe Frau Limperg: Alle Gewalten müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein – dafür, die bewährten Wege des Miteinanders mit der notwendigen Umsicht zu beschreiten –, wie Sie es erst jüngst gefordert haben. Wir tun damit unserer Demokratie einen Dienst.

Sowohl der Bundesgerichtshof als auch die Bundesanwaltschaft genießen über alle demokratischen Parteien hinweg hohes Ansehen – auch international. Sie haben in dieser Zeit Herausragendes geleistet, um das Recht präzise zu analysieren und die ihnen zur Entscheidung vorgelegten Fragestellungen systematisch einzuordnen – Rechtsfrieden zu schaffen und zu wahren.

Ich bin auch froh darüber, dass sich das Gericht der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln und Traditionslinien gestellt hat. Diese Auseinandersetzung kam spät, aber wichtig scheint mir: Sie wurde in jüngerer Vergangenheit mit Nachdruck vorangetrieben. Und auch dafür möchte ich insbesondere Ihnen, Frau Limperg, ausdrücklich danken. Es ist maßgeblich Ihr Verdienst, dass der BGH sich so intensiv mit seiner Geschichte und der damit verbundenen Verantwortung befasst hat. Bei seiner Gründung lag es für zahlreiche Zeitgenossen noch nahe, die Traditionslinien des aus der Kaiserzeit stammenden Reichsgerichts unkritisch fortzuschreiben – eines Gerichts, das neben dem Volksgerichtshof im Nationalsozialismus mit seinen furchtbaren Unrechtsurteilen große Schuld auf sich geladen hatte. Nicht wenige der Juristen, die in den Dienst des neu gegründeten BGH traten, waren tief verstrickt gewesen in das Unrecht des NS-Staates. Und sie wurden dafür nicht zur Verantwortung gezogen. Dies wurde zu einem extrem belastenden Erbe für eine Institution, die doch eigentlich den neuen, rechtsstaatlichen Weg weisen sollte, auf den sich die junge Bundesrepublik 1949 gemacht hatte. Hinzu kamen dann Entscheidungen, die den Geist der totalitären Vergangenheit atmeten, etwa im Wiedergutmachungsrecht und bei der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen – gerade auch dort, wo Richter Unrecht begangen hatten.

So sorgte beispielsweise 1956 ein – aus heutiger Sicht skandalöses – Urteil des BGH dafür, dass unzählige Schreibtischtäter der NS-Zeit mit milderen Urteilen davonkamen oder gänzlich straffrei blieben. Auf der Anklagebank saßen damals Männer, die in den KZs Sachsenhausen und Flossenbürg an standrechtlichen Scheingerichtsverfahren beteiligt waren – und damit an der Ermordung von Widerstandskämpfern wie Dietrich Bonhoeffer oder Hans von Dohnanyi mitgewirkt hatten. „Die Folgen dieses Urteils waren verheerend“, sagte schon Ihr früherer Präsident Günter Hirsch. „Kein einziger Richter, kein Staatsanwalt wurde in der Bundesrepublik wegen der tausendfachen Justizverbrechen im Dritten Reich verurteilt.“

Es ist gut, dass sich der BGH auch diesem Teil seiner Vergangenheit gestellt hat. Selbstaufklärung, die Überprüfung, ob man seiner Verantwortung gerecht geworden ist und wo nicht, ist ein Beitrag zur demokratischen Kultur unseres Landes.

Lieber Herr Rommel, die Bundesanwaltschaft hat es ebenfalls unternommen, die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, insbesondere was Kontinuitäten anging, die sich personell und inhaltlich durch die frühen Jahre zogen. Indem wir uns die Aufarbeitung dieser Vergangenheit gegenwärtig halten, schärfen wir unseren Blick für die Herausforderungen, vor denen unser Rechtsstaat heute steht, und für die Gefahren für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung.

Gerade die Bundesanwaltschaft stellt sich diesen Gefahren entgegen. Sie hat in ihrer 75-jährigen Geschichte Spione enttarnt und den Kampf gegen die Feinde unserer rechtsstaatlichen Ordnung entschlossen vorangetrieben – gegen die Rote-Armee-Fraktion und den linksextremen Terror, gegen den islamistischen Extremismus, gegen die extreme Rechte.

Auch ihr Tätigkeitsfeld hat sich erweitert: So ist in jüngerer Zeit die Verfolgung von Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch hinzugekommen, etwa im Zusammenhang mit den Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staates, der ehemaligen syrischen Regierung oder im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Bundesanwaltschaft leistet mit ihrer Arbeit einen bedeutenden Beitrag dazu, schwere Völkerrechtsverbrechen nicht ungesühnt zu lassen. Das ist ein wichtiges Signal: an die Opfer dieser Verbrechen – und an alle, die das Völkerrecht missachten.

Wir alle wissen um die wachsende Bedrohung von innen wie von außerhalb: Wir müssen verstärkt auf der Hut sein vor Spionage, Desinformation und Cyberkriegen, nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Und auch die Bedrohungen durch Neonazis, Reichsbürger, Islamisten und andere extremistische Gruppen ist gewachsen. Es ist so notwendig wie gut, dass die Bundesanwaltschaft für die Aufgaben der Zeit gewappnet ist.

Tatsache ist, die Aufgaben haben sich nicht nur verändert, sie haben insgesamt auch kräftig zugenommen. Beim Bundesgerichtshof hat sich in den vergangenen 75 Jahren die Zahl der ursprünglich neun Zivil- und Strafsenate mehr als verdoppelt, darunter zwei Strafsenate mit Sitz in Leipzig.

Der BGH ist – wie Sie es jüngst formuliert haben, liebe Frau Limperg – eine starke Stimme im Rechts- und Verfassungsstaat der Bundesrepublik. Und er bleibt es, weil er, seine Richterinnen und Richter sich immer wieder den neuen Herausforderungen gestellt haben, die der Wandel von Staat, Gesellschaft und Technik mit sich brachte: etwa mit dem Herrenreiter-Urteil, das den Grundstein für den Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts legte, dessen Reichweite und Grenzen in vielen Folgeurteilen immer wieder neu vermessen wurden. Neu vermessen auch vor dem Hintergrund technologischer Entwicklung und – damit verbunden – veränderter gesellschaftlicher Praxis. Mit fortschreitender Bedeutung des Digitalen hat der BGH die Rechtsprechung zum Schutz der Privatsphäre stetig aktualisiert und die Spuren gelegt, die die Rechtsentwicklung zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vorbereiteten.

Ähnliches gilt für die zahlreichen Entscheidungen zum Verbraucherschutz, offline wie online – oder zur Frage, ob die Ergebnisse digitaler Überwachungsmaßnahmen eines anderen europäischen Mitgliedstaats im Strafverfahren verwertet werden können.

Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass auch die wachsende Bedeutung europäischer Rechtssetzung eine maßgebliche Herausforderung für den BGH darstellte. Schließlich wirkt das Unionsrecht mit seinen Verordnungen und Richtlinien auf zahlreiche Rechtsgebiete – insbesondere auch des Zivilrechts. Aus der Harmonisierung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergaben und ergeben sich eine Vielzahl von Auslegungs- und Anwendungsfragen. Nicht zuletzt der BGH ist damit befasst, sie zu beantworten – im vermutlich nicht immer streitfreien Zusammenspiel mit dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Ebenso galt es im Zuge der Wiedervereinigung, das Recht im Osten und Westen der Republik anzugleichen, die Rechtseinheit im gesamten bundesdeutschen Gebiet wiederherzustellen und das DDR-Unrecht aufzuarbeiten. Auch das eine Mammutaufgabe, die der BGH mit großer Kraft und zugleich mit Bedacht gemeistert hat!

Fragen des gesellschaftlichen und technischen Wandels werden Fragen des Rechts, die es in bestehendes materielles und Verfahrensrecht einzuordnen gilt. Das gilt gerade für die Digitalisierung. Sie hat unzählige neue rechtliche Fragen aufgeworfen – etwa zum Thema Filesharing, zu Fragen des digitalen Nachlasses oder in zunehmendem Maße auch zum Thema Künstliche Intelligenz, Stichwort Deepfakes. Ganz konkret spürte der BGH die Digitalisierung in den Massenverfahren zum sogenannten Dieselskandal, die es ohne den massiven Einsatz digitaler „Legal Tech“ so nicht gegeben hätte.

Mit seinen Urteilen hat der Bundesgerichtshof Rechtsgeschichte geschrieben, viele Kapitel Rechtsgeschichte in seinen fünfundsiebzig Jahren. Kein Jurastudent kommt an den großen Klassikern – von Jungbullen bis Pfeffertütenfall – vorbei. Sie haben Generationen von jungen Frauen und Männern begleitet, geprägt und – das darf ich im Rückblick auf mein eigenes Jurastudium sagen – vielleicht manchmal auch ein bisschen gequält.

Andere Gerichte, Rechtswissenschaft und Anwaltschaft analysieren und diskutieren die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs intensiv. Viele Vertreterinnen und Vertreter dieser Institutionen sind auch heute hier anwesend – ich finde, das ist ein schöner Ausdruck des intensiven dogmatisch-wissenschaftlichen Austauschs, den unser Land um juristische Auslegungs- und Rechtsfragen pflegt. Von ihm profitieren alle Seiten, denn auch der Bundesgerichtshof setzt sich in seinen Entscheidungen mit diesen Analysen auseinander. Dieser fachliche Diskurs ist wichtig, denn er hilft, unsere Rechtsprechung fortzuentwickeln. Wir brauchen ihn: so intensiv wie möglich und auf hohem juristischen Niveau.

Meine Damen und Herren, dass es ohne intakten Diskurs keine funktionierende Demokratie geben kann, wissen wir seit Jürgen Habermas. Die Demokratie braucht den Austausch und die Verständigung über ihre Strukturen und Entscheidungswege. Das gilt für Legislative, Exekutive und Judikative gleichermaßen. Wahr ist aber auch: Unser öffentlicher Debattenraum wird immer stärker von Manipulation und Propaganda durchdrungen und gestört. Insbesondere die zunehmende Verlagerung der öffentlichen Diskussion in sogenannte soziale Medien – samt der damit einhergehenden Veränderung von Sprache, des Verschwindens von Zwischentönen, der Polarisierung der Auseinandersetzungen – trägt dazu bei. Umso wichtiger ist es, den Menschen verlässlich und verständlich nahezubringen, wie unser Gemeinwesen funktioniert, einschließlich seines Rechtssystems. Und es ist wichtig, immer wieder klarzumachen: Wir können diesem Rechtssystem vertrauen, und dieses Vertrauen ist von unschätzbarem Wert.

Denn es ist das Recht, das die wertvollsten Errungenschaften dieses Gemeinwesens sichert und garantiert. Dazu gehören gesellschaftlicher Frieden und individuelle Freiheit – hier hilft das Recht, indem es Streit in geregelte Verfahren überführt und Entscheidungen ermöglicht, die verbindlich sind. Und es hilft, indem die Justiz systematisch abwägt und transparent entscheidet, indem sie schützt und straft. Als „Hort des Rechts, Stätte kritischer Vernunft und Pfeiler demokratischer Gleichheit aller vor dem Recht“ hat der frühere BGH-Präsident Karlmann Geiß den BGH bezeichnet. Das sind die Maßstäbe, an denen sich BGH und Bundesanwaltschaft fünfundsiebzig Jahre lang orientiert haben, was ihnen Autorität und Ansehen gesichert hat.

Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft leisten seit nunmehr 75 Jahren konsequent ihren Beitrag dazu, dem Recht Geltung zu verschaffen und dessen einheitliche Auslegung und Anwendung im Bereich des Straf- und Zivilrechts sicherzustellen. Ich weiß, dass diese Aufgaben – quantitativ genauso wie qualitativ – nicht einfach zu erfüllen sind. Und wir wissen alle, dass sie in Zukunft nicht einfacher werden. Auch deshalb wünsche ich mir, dass unserer Justiz – auf allen Ebenen – nicht nur der verdiente Respekt entgegengebracht wird, sondern ihr immer auch die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, selbst in Zeiten schmerzhafter fiskalischer Konsolidierungsdebatten.

Denn je bewegter und stürmischer die Zeiten sind, desto belastbarer müssen die Institutionen sein, die unser Miteinander in Freiheit und Gerechtigkeit regeln und gestalten – die Institutionen unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates.

75 Jahre Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft sind eine gute Gelegenheit, stolz zurückzublicken auf das, was durch diese Institutionen erreicht und errungen wurde – zum Wohle unseres Rechtsstaates und unserer Demokratie gleichermaßen. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen und uns den Wert dieser Institutionen bewusst machen. Mein Dank gilt allen, die mit ihrer Arbeit hierzu so klug, so tatkräftig und so gewissenhaft beigetragen haben und weiter jeden Tag beitragen.

Zugleich fordert uns dieses Jubiläum auf, achtsam und wachsam zu bleiben: Es gilt, den Rechtsstaat wertzuschätzen und ihn vor Schaden zu bewahren – für unser Land, für unsere Demokratie. Der Auftrag, die Demokratie zu schützen und sie zu verteidigen, ist kein Auftrag, der sich nur an die Politik richtet; das ist Aufgabe der Gesellschaft als Ganzer!

Daran erinnert uns immer noch und immer wieder der unvergessene ehemalige hessische Generalstaatsanwalt – und aufrechte Demokrat – Fritz Bauer. Er hat uns einen klugen, einen wichtigen Hinweis hinterlassen, den ich hier gerne in Erinnerung rufen möchte. „Demokratie ist kein Dampfer, dessen Kapitän man sich anvertraut, sondern ein Boot, in dem wir alle mitrudern müssen“, sagte er.

Lassen Sie uns in diesem Sinne arbeiten und aufeinander achten!

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