„Wo wie beim Bürgergeld die Kosten aus dem Ruder laufen, da muss gegengesteuert werden“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des 83. Deutschen Fürsorgetags am 16. September 2025 in Erfurt.

Der 83. Deutsche Fürsorgetag fällt in eine Zeit, in der in unserem Land eine große Sozialstaats-Debatte begonnen hat. Das konnten Sie nicht ahnen, als Sie den Termin für diesen Kongress festlegten. Aber ich finde, Sie hätten es gar nicht besser planen können.

Denn wo, wenn nicht hier, können wir diese Debatte so führen, dass sie uns auch tatsächlich weiterbringt: ernsthaft und mit Tiefenschärfe und vor allem verantwortungsvoll. Sie alle hier – Kommunen und Wohlfahrtsverbände, Praktikerinnen und Praktiker der sozialen Arbeit, Fachleute aus Sozialrecht und Sozialverwaltung –, Sie alle wissen, worum es geht: was wir schützen wollen, und wo wir korrigieren müssen.

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Ihnen allen auch von mir ein herzliches Willkommen zum 83. Deutschen Fürsorgetag!

Ich kann mir die Titelseiten der nächsten Monate bereits ausmalen. Wir alle ahnen: Heiße Debatten stehen uns bevor. Nicht zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wird über das Wie und Wieviel sozialstaatlicher Absicherung gerungen. Und – Sie wissen es – ich bringe bei dem Thema ein bisschen Erfahrung mit. Mir liegt viel daran, dass wir nicht aus Angst vor Erneuerung erstarren und dass Reformen, wo sie notwendig sind, gelingen. Wir haben es in der Hand, ob die aktuelle Debatte ins Nirwana laufen oder gar scheitern wird – oder ob es uns gelingt, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: unseren Sozialstaat wieder einmal zukunftsfähig zu machen und zu beweisen, dass Politik Probleme tatsächlich lösen kann.

Dafür muss uns erstens klar sein, worum es geht. Unser Sozialstaat ist ein Schatz. Und das ist nicht die übliche Floskel einer Sonntagsrede. Es geht hier nicht um Alltägliches, nicht um Beiwerk im gesetzgeberischen Unterholz. Unser Sozialstaat ist eine Ressource, die unser Land zu dem gemacht hat, was es ist – und die den beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg, die bislang so stabile Demokratie und den sozialen Frieden der letzten Jahrzehnte überhaupt erst möglich gemacht und abgesichert hat.

Der Sozialstaat ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist errungen und erkämpft worden – in der Auseinandersetzung mit einem Wirtschaftssystem, in dem vor 150 Jahren Einzelne und ganze Gruppen verarmt und schutzlos waren. Von den Anfängen der Rentengesetzgebung im Kaiserreich über Arbeits- und Unfallschutz in der Weimarer Republik bis zum ausgebauten System sozialer Sicherung dieser Tage – von der Kinder- und Jugendhilfe über die Eingliederungshilfe bis zur Grundsicherung – war es ein langer Weg, der fast immer zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führte.

Aber im Ergebnis sind die Abfederung sozialer Härten, die Unterstützung bei Krankheit und in Notfällen, die Hilfen für die, die sich nicht selbst helfen können, eine verlässliche Altersvorsorge – im Ergebnis hat diese gelebte Sozialstaatlichkeit die deutsche Demokratie in ganz besonderer Weise geprägt. Wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung zusammenzudenken, das macht soziale Marktwirtschaft aus; und das soll auch in Zukunft so bleiben! Dieses Bekenntnis steht am Anfang aller Reformanstrengungen – und ich bin froh, dass die regierenden Parteien dies genauso sehen.

Genauso klar ist aber etwas Zweites. Die hohe verfassungsrechtliche Stellung des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz und seine enorme Bedeutung für unsere Demokratie bedeuten nicht, dass der Sozialstaat der politischen Gestaltung entzogen ist. Wer wüsste das besser als der Deutsche Fürsorgetag, der bedeutendste Akteur in all den Diskussionen und Verständigungsprozessen vergangener Jahrzehnte, gleichzeitig Forum für die Debatte notwendiger Neuorientierungen, der sie sogar gefordert hat!

Solche Debatten sind per se nicht überflüssig oder gar skandalös, sie sind notwendig. Denn der Sozialstaat konnte in vielen Jahrzehnten für sozialen Ausgleich und für soziale Sicherheit sorgen, weil es immer wieder gelungen ist, ihn mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen anzupassen.

Sind wir heute also wieder an so einem Punkt, an dem Reformen notwendig sind? Ganz eindeutig ja! Denn – Sie alle spüren es – es ächzt im System. Wir sind – wieder einmal – gefragt, den Sozialstaat zukunftsfähig zu machen. Und damit meine ich zweierlei: einerseits, ihn tragfähig zu halten, also das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben, von Solidarität und Eigenleistung zeitgemäß zu justieren. Und andererseits, das Vertrauen in Gerechtigkeit und Fairness wiederherzustellen. Denn der Sozialstaat lebt von beidem: davon, dass er wirkungsvoll ist und die Menschen mit den Härten des Lebens nicht alleingelassen werden. Und genauso davon, dass es gerecht zugeht, dass jeder trägt, was er kann, und dass seine Leistungen nicht ausgenutzt werden von denen, die sie eigentlich gar nicht brauchen.

Wenn ich in Deutschland unterwegs bin, höre ich von vielem, was heute im Argen liegt. Von Menschen, die tatsächlich Hilfe bitter nötig haben, aber gar nicht wissen, welche Leistungen ihnen zustehen oder an welche Stelle sie sich wenden sollen. Viele sind von komplizierten Anträgen überfordert oder schämen sich, wie ein Bittsteller von einem Amt zum anderen zu laufen. Ich spreche mit Unternehmern, die sich über hohe Kosten und zu viel Bürokratie beschweren. Mit Alleinerziehenden, die sich Sorgen machen, weil sie ihren Kindern nicht ausreichend gesundes Essen kaufen können. Ich höre von Arbeitern und Angestellten, die sich ärgern, dass sie jeden Tag zur Arbeit gehen und ihre Nachbarsfamilie mit Sozialleistungen auch ohne Arbeit ganz gut über die Runden kommt. Und ich spreche mit Mitarbeitern in sozialen Einrichtungen, die darunter leiden, dass sie mehr Zeit mit dem Ausfüllen von Formularen verbringen als mit den Menschen, für die sie da sein wollen.

Es ist deshalb zwingend, dass wir uns jetzt schnell und entschieden daran machen, den Sozialstaat effizienter und bürgerfreundlicher zu machen. Ich bin froh, dass die Sozialstaatskommission ihre Arbeit in diesen Tagen aufgenommen hat. Was die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ an Vorschlägen für den Abbau von Bürokratie aufgelistet hat, gilt ausdrücklich auch und gerade für die Administration sozialstaatlicher Leistungen. Es geht um die Beseitigung von Fehlsteuerungen, eine bessere Treffgenauigkeit sozialer Transferleistungen, die Bekämpfung von Missbrauch, die Vermeidung von Fehlanreizen, die Reduzierung von Doppel- und Dreifachbeantragungen, mehr Austausch unter den Sozialbehörden, die Digitalisierung der Verwaltungsvorgänge. All das ist überfällig. Die Kommission muss nicht nur überzeugende Vorschläge liefern – all das muss schnell auch umgesetzt werden! Helfen Sie mit, auf dem Fürsorgetag und darüber hinaus, den Druck zu entfalten, damit das gelingt!

Aber natürlich werden die Verbesserung der Administration und die Vereinfachung von Antragsverfahren nicht ausreichen, um den Sozialstaat langfristig tragfähig zu halten. Wir alle wissen um den demographischen Druck – und wir wissen um die dazukommenden Mega-Aufgaben von Klimaschutz, äußerer Sicherheit und Transformation, die die finanziellen Handlungsspielräume des Staates in Zukunft insgesamt noch stärker in Anspruch nehmen.

Ich finde es schlicht unredlich zu behaupten, in unserem Sozialstaat schlummerten zig Milliarden versteckt, die sich problemlos einsparen ließen. Aber ebenso unredlich wäre es, bei dieser Einsicht stehen zu bleiben! Auch Leistungsbezieher müssen ein Interesse daran haben, dass diejenigen, die diese Leistungen mit Steuern und Abgaben finanzieren, nicht überfordert werden.

Ich bin überzeugt: Es gibt Handlungsspielraum, wenn wir bereit sind, Liebgewonnenes auf Notwendigkeit und Sinn zu hinterfragen. Sind wir bereit, zum Beispiel mit Pauschalen zu arbeiten, auch wenn sie im Einzelfall weniger zielgenau sind? Sind wir bereit, die Gießkanne beiseitezustellen und etwa Geringverdiener oder Menschen mit kleinen Renten gezielt zu unterstützen? Sind wir bereit, Gutverdienern auch aus der Mittelschicht mehr Eigenverantwortung zuzumuten? Nach meiner Auffassung ist der Sozialstaat nicht dazu da, die Lebenslagen von normal- oder gar gutverdienenden Haushalten mit steuerfinanzierten Leistungen noch komfortabler zu machen. Das muss ihn früher oder später überlasten.

Wo wie beim Bürgergeld die Kosten aus dem Ruder laufen, da muss gegengesteuert werden. Wenn Leistungsempfänger arbeitsfähig sind, müssen wir alles daransetzen, sie in Arbeit zu bringen. Wo die Demographie die Einnahme-Ausgabe-Balance in der Krankenversicherung, bei Pflege und Rente mittelfristig und langfristig bedroht, müssen verfügbare Stellschrauben genutzt und gegebenenfalls ergänzende Säulen hinzugefügt werden, um sie zukunftsfest zu machen.

Mein Rat ist: Nutzen wir alle Handlungsspielräume, die wir heute haben – mit Mut und Entschlossenheit!

Und seien wir ebenso mutig und entschlossen, uns für die Zukunft neuen Handlungsspielraum zu erarbeiten – indem wir in Wachstum und Beschäftigung investieren, und indem wir in die Menschen investieren! Wir haben die Erfahrung gemacht: Eine hohe Erwerbsquote sichert den Sozialstaat; hohe Arbeitslosigkeit gefährdet ihn. Es geht wieder einmal auch darum, unseren Sozialstaat da zu stärken, wo er Menschen stark macht. Der vorsorgende Sozialstaat ist mindestens so wichtig wie der nachsorgende. Dass Menschen aus eigener Kraft ihr Leben führen können, dass Armut gar nicht erst entsteht. Das ist verantwortliche Sozialpolitik, weil es die Menschen in Beschäftigung bringt! Ganz besonders denke ich an die Kinder aus armen Familien – ihnen müssen wir ein gesundes Aufwachsen und gute Bildung ermöglichen. Da müssen wir viel besser werden! Es darf doch nicht sein, dass in unserem Land 2,9 Millionen junge Erwachsene im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne Berufsausbildung dastehen – fast jeder Fünfte in dieser Altersgruppe! Das Bestreben, daran etwas zu ändern, ist vielleicht nicht so schlagzeilenträchtig wie die Forderung nach Kürzungen beim Bürgergeld. Aber da, bei diesen jungen Menschen ist das Potenzial, das wir jetzt ausschöpfen müssen.

Bei jeder Reform sollten wir auch darauf achten, dass wir die Arbeitsbedingungen für all jene verbessern, die tagtäglich soziale Arbeit leisten und sich um arme und bedürftige Menschen kümmern. Die meisten von Ihnen hier im Saal wissen, wovon ich spreche – ob Sie sich nun im Beruf oder im Ehrenamt engagieren, ob Sie in der Verwaltung, in Hilfs- und Beratungseinrichtungen, in Kitas und Schulen oder auf der Straße Unterstützung leisten. Und ich weiß aus vielen Besuchen, Begegnungen und Gesprächen: Sie alle versuchen nicht nur immer wieder aufs Neue, das Beste aus einer oft schwierigen Lage zu machen; es gelingt Ihnen auch immer wieder, gute Lösungen zu finden, um für bedürftige Menschen da zu sein, das kann man auch hier in Erfurt auf Ihrem „Markt der Möglichkeiten“ sehen.

Ob Sie für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen da sind oder alleinerziehende Mütter und Väter beraten und unterstützen; ob Sie in Ihrer Kommune oder im Pflegeheim dafür sorgen, dass alte Menschen ein möglichst selbstbestimmtes und aktives Leben führen können oder Obdachlosen wieder auf die Beine helfen und ihnen eine feste Unterkunft vermitteln; ob Sie Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung und Beruf begleiten oder Menschen helfen, einen Platz in der sich wandelnden Arbeitswelt zu finden; ob Sie digitale Lösungen in der Sozialverwaltung entwickeln oder die Ausbildung zu sozialen Berufen modernisieren: Sie alle leisten Dienst von Mensch zu Mensch. Ihre Arbeit ist anspruchsvoll und oft schwierig und herausfordernd. Aber sie ist unglaublich wertvoll und unverzichtbar! Auch das dürfen wir in der Reformdebatte nicht vergessen! Sie alle, die sich für das Soziale, für den Dienst am Menschen engagieren, verdienen die Anerkennung, den Respekt und die Unterstützung der ganzen Gesellschaft! Deshalb, meine Damen und Herren, will ich Ihnen heute im Namen unseres Landes danke sagen: Danke für Ihre Leidenschaft, für Ihre Menschlichkeit, für Ihr großartiges Engagement. Sie alle machen unser Land zu einem menschlicheren Ort. Dafür meinen ganz, ganz herzlichen Dank!

Vor uns liegt eine gewaltige Herausforderung. Aber ich erinnere daran: Die jetzige Krise ist nicht die erste und einzige in den letzten drei Jahrzehnten. Immer wieder haben wir es geschafft, das Ruder herumzureißen. Dass wir schwere und schwerste Krisen – die Arbeitsmarktkrise der Jahrtausendwende, die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 – überwunden haben, das könnte uns Selbstbewusstsein geben. Aber ich weiß auch: Von allein passiert das nicht. Und einfach ist es schon gar nicht. Wir brauchen jetzt mutige Politik, die um ihre Verantwortung weiß. Um die Übernahme dieser Verantwortung haben sich Parteien und Personen in den Parteien beworben. Und: Dafür wurden sie gewählt! Liebe Koalition: Jetzt geht es nicht um Parteitaktik oder Umfragen. Es geht um unser Land! Es geht um den schwierigen Ausgleich von Interessen und um kluge Entscheidungen in der Sache. Dieser Verantwortung müssen Sie gerecht werden!

Ich sage das mit so großer Eindringlichkeit, weil ich überzeugt bin, dass in dieser Herausforderung auch eine Chance liegt – für die Politik, ja für unsere Demokratie. Durch Reformen des Sozialstaats können wir verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Weil wir Dinge verbessern, die viele Menschen tatsächlich aufregen, die ihnen Sorgen machen, die sie angehen. Wir können beweisen, dass unser Staat handlungsfähig ist. Auch deshalb gilt: Sozialreformen sind Demokratiepolitik! Liebe Koalition: Seien Sie beherzt und hartnäckig – Ihr Mut wird sich auszahlen, für uns alle!

Ein letzter Rat: Seien wir umsichtig. Eine Sozialstaatsreform lässt sich nicht mit der Kettensäge erledigen. Wir können sie nur miteinander bewältigen, nicht gegeneinander. Wir brauchen keine erhitzten Debatten, in denen die eine Seite „kein Sozialabbau!“ schreit und die andere Seite „pure Verschwendung!“. Behalten wir im Blick, dass es unterschiedliche Lebenslagen gibt, unterschiedliche Startchancen und unterschiedliche Fähigkeiten. Auch im Miteinander der Generationen. In Wahrheit gibt es doch in jeder Altersgruppe Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten, Einkommen und Vermögen – statt einfach nur „die“ rücksichtslosen Boomer oder „die“ faule Gen-Z. Hören wir auf, in Klischees zu denken und mit einseitigen Vorschlägen zu provozieren! Bemühen wir uns um Ausgewogenheit, eine faire Debatte und eine faire Verteilung der Lasten! Am Ende ist nicht die Reform an sich entscheidend – sondern gut gemacht muss sie schon sein.

Erhalten wir den Schatz, der unser Sozialstaat ist. Reformieren wir ihn, um Wohlstand, Solidarität und Zusammenhalt zu bewahren. Und dass wir Reformen können, das haben wir in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder gezeigt. Beweisen wir jetzt, dass wir es nicht verlernt haben. Vertrauen wir auf unsere Kraft – und trauen wir uns etwas zu. Ich bin überzeugt: Reformen sind machbar, wenn es dabei fair und menschlich zugeht. Wir haben es in der Hand!

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