TP-Interview mit Prof. Dr. Adam Strzembosz, Präsident des Obersten Gerichtshofes der Republik Polen.
TP: Herr Strzembosz, in der Bundesrepublik Deutschland wird die kommunistische Vergangenheit der DDR bewältigt hauptsächlich durch Gerichte. Von Vertretern der ehemaligen DDR wird dabei behauptet, daß nirgendwo so schlimm umgegangen wird, mit dem Strafrecht, wie in der Bundesrepublik Deutschland. Meine Frage: Wie sieht es in Polen aus?
Strzembosz: Hier muß man die Rechtsregelungen, die in Polen existieren, beachten. In der polnischen Rechtsordnung und Rechtsverfassung gibt es ein international anerkanntes Prinzip der Nichtverjährung der Verbrechen gegen die Menschheit. Es wurde auch die Regelung eingeführt, daß Verbrechen, die von den Funktionsträgern in Ausübung ihrer Ämter begangen wurden, nicht der Verjährung unterliegen. Es geht hier natürlich um die politischen Verbrechen. Die Anwendung dieser Gesetze ist aber aus zweierlei Gründen eingeschränkt:
Das Sammeln von Beweisen gegen die Verbrechen gegen die Menschheit oder anderer Verbrechen, die nicht der Verjährung unterliegen, ist schwierig, weil sie einen sehr weit zurückliegenden Zeitraum betreffen und darüber hinaus sich die Rechtsprechung bisher nicht darauf konzentriert hat. Es sind aber auch sehr viele Verbrechen anderer Art hinzugekommen.
Und da eben diese Verbrechen so angewachsen sind, gibt es Schwierigkeiten subjektiver und objektiver Art. Das Gerichtswesen ist auch mit laufenden Verfahren anderer Art, die aus völlig anderen Bereichen kommen, überlastet.
TP: Demzufolge geht der polnische Staat nicht etwa deshalb „lascher“ mit Funktionsträgern des ehemaligen kommunistischen Systems um, weil er ein gutes Herz hat, sondern weil er einfach überlastet ist und es auch gewisse rechtliche Schwierigkeiten gibt.
Strzembosz: Das ist weitgehend so. Die polnische Gesellschaft übt auch keinen Druck hinsichtlich der Verfolgung dieser Verbrechen aus. Es gibt keine Revanchismusstimmungen in Polen. Für diese Frage interessiert sich vor allem die ältere Generation, die den Totalitarismus direkt in seiner schärfsten Form erlebt hat.
Für die jüngere Generation sind es historische Ereignisse oder Fakten, die ihnen oft nicht gut genug bekannt sind. Trotzdem sind solche Prozesse wie der gegen die Täter, die im Dezember 1970 den Befehl gaben, auf die Arbeiter zu schießen, die (nach einem Streik, Anm. d. Interv.) zur Arbeit auf die Werft zurückkehrten, sowie der Prozeß wegen der Erschießung der Bergleute in Wujek 1981, der Öffentlichkeit wohl bekannt. Die Tatsache, daß sich diese Prozesse aber in die Länge zogen, rief negative Stimmungen in der Bevölkerung hervor. Hierzu gibt es in Polen eine heftige Debatte und scharfe Kritik. Der – durch die Unmöglichkeit einer Identifizierung der Täter bedingte – Freispruch für die Funktionäre, die auf die Bergleute von „Wujek“ geschossen haben, hat die öffentliche Meinung sehr erregt.
Auch diejenigen, die Opfer während des stalinistischen Regimes wurden, verlangen, daß die Sache vor Gericht kommt und die Schuldfrage geklärt wird. Sie üben keinen besonderen Druck auf das Strafmaß aus. Ihnen geht es in erster Linie um Aufklärung. Eine negative Reaktion ruft allerdings das Fehlen politischer Folgen für die Mitarbeit am kommunistischen Regime hervor. Ebenfalls negativ wird beurteilt, daß die Funktionäre der ehemaligen Sonderdienste (hier sind das Amt für Sicherheit und militärische Geheimdienst gemeint, Anm. d. Aut.) aus der Zeit des schärfsten Terrors ihre Privilegien (hohe Rente, Wohnungen etc.) behalten haben.
TP: In Deutschland führt man hauptsächlich die Prozesse mit dem Argument, dem Opferinteresse Genüge zu tun. Wird man eigentlich durch die Art und Weise, wie man in Polen die Vergangenheit bewältigt, dem Interesse gerecht?
Strzembosz: Es wurden die Urteile gegen die Leute, die für die Unabhängigkeit des polnischen Staates gekämpft haben, aufgehoben. Diese Regelung bezieht sich auf die Fälle zwischen 1944 und 1956. Eine entsprechende Rechtsregelung wurde am 23.02.1991 eingeführt. Es wurden nicht nur die Urteile aufgehoben, sondern auch Entschädigungen für die Opfer oder für ihre Familien geleistet, falls die Opfer ein Todesurteil erhalten haben oder im Gefängnis – oder nachdem sie es verlassen haben – gestorben sind.
TP: Worin lagen die Schwierigkeiten, daß es hinsichtlich der Angelegenheiten von 1970 und 1981 keine Urteile gab?
Strzembosz: Soweit es um die Bergleute aus dem Bergwerk „Wujek“ geht, so hat das damalige Amt für Sicherheit versucht, alle Schuldbeweise zu vertuschen. Es wurde kein Prozeß durchgeführt, im Gegenteil: man gab sich alle Mühe, die Täter nicht bekannt werden zu lassen. Der Prozeß, der mit den sogenannten „Ereignissen“ in Danzig im Jahre 1970 verbunden ist, konnte aufgrund tatsächlicher oder auch vermeintlicher Krankheiten mancher Angeklagten immer noch nicht beginnen.
TP: Wann wird in Polen die Vergangenheitsbewältigung abgeschlossen sein?
Strzembosz: Dieser Prozeß wird sich noch viele Jahre hinziehen. Man sollte aber damit rechnen, daß neue Beweismaterialien ans Licht kommen und dann von den Gerichten neue Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, die sich auf diese Beweise stützen. Nach den Wahlen ist auch damit zu rechnen, daß neue Rechtsregelungen durch das Parlament beschlossen werden, die beispielsweise den ehemaligen kompromittierten Richtern und Staatsanwälten ihre Privilegien entziehen und es erlauben werden, diejenigen Richter aus der Rechtsprechung zu entfernen, die der richterlichen Unabhängigkeit untreu geworden sind.
TP: Hätte das Konsequenzen für die Beschuldigten?
Strzembosz: Vor allem ist vorauszusehen, daß die heute noch Privilegierten ihre Privilegien gegenüber der restlichen Bevölkerung verlieren würden. Ich denke auch, daß die Verfolgung der „stalinistischen“ und auch späterer Verbrechen energischer sein wird, und nicht nur die Ausführenden, sondern auch die Befehlenden und die Initiatoren der Verbrechen umfassen wird.
TP: Wird dieser politische Wille in die Tat umgesetzt werden können?.
Strzembosz: In der vergangenen Legislaturperiode des Parlaments war dieser politische Wille bei der regierenden Koalition nicht zu sehen. Nach den Wahlen, die am 21. September stattfanden, sollte der Wille, mit der Vergangenheit abzurechnen, sehr viel größer sein, auch im justitiellen Bereich. Dafür spricht das am 17.12. vom Sejm verabschiedete (aber vom Senat noch nicht geprüfte) Gesetz, das bis zum Ende des Jahres 2000 die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter erlaubt, die wegen Aktivitäten für die Unabhängigkeit Polens, für die Menschenrechte und ähnliches drakonische Urteile fällten, im Prozeß das Recht auf Verteidigung einschränkten, im Verfahren grundlos die Öffentlichkeit ausschlossen und somit die Pflicht zur Unbefangenheit und Unabhängigkeit bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen nicht erfüllten.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1997
Übersetzung: Lukasz Galecki, Leipzig; Agnieszka Grzybkowska, Berlin.
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