In Hannover wurde gestern der Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union (HU) an die im Mai 2014 in der JVA Berlin-Tegel von Mehmet-Sadik Aykol und Oliver Rast gegründete Gefangenengewerkschaft GG/BO verliehen.
In der Begründung hieß es:
„Es gehört seit Jahrzehnten zu den selbstgesteckten Zielen des Gesetzgebers, dass das Leben im Vollzug den Lebensbedingungen in der Freiheit so weit als möglich anzugleichen sei. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Sowohl die dürftige Entlohnung (weit unterhalb des Mindestlohns), als auch die fehlenden Beiträge zur Rentenversicherung stellen für die inhaftierten Arbeiter/innen eine doppelte Bestrafung dar. Es sind Bausteine für ihren Weg in die Altersarmut. Es gibt keine vernünftige Begründung, warum das so sein muss – außer der, dass sich an Gefangenen leicht sparen lässt, weil sie keine Lobby in der Öffentlichkeit haben“.
Damit setzt die Humanistische Union eine Tradition fort, die mit einer Reihe prominenter Kritiker/Reformer des deutschen Strafvollzugs begonnen hatte : Helga Einsele (1969), Gustav Heinemann (1970), Birgitta Wolf (1971) und Heinz-Dieter Stark (1977).
Der Fritz-Bauer-Preis ist die höchste Auszeichnung der Humanistischen Union. Der ideelle Preis wird im Gedenken an Dr. Fritz Bauer, den 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalt und Mitbegründer der Humanistischen Union verliehen. Der Preis wurde von der Humanistischen Union im Juli 1968, zwei Wochen nach dem Tod Fritz Bauers, gestiftet. Er wird derzeit alle zwei Jahre vergeben.
Die Laudatio hielt Prof. Dr. Kirsten Drenkhahn (Humboldt Universität Berlin).
Prof. Johannes Feest, der langjährige Leiter des Bremer Straffvollzugsarchivs, erinnerte zu Beginn der Veranstaltungsfeier in Hannover an die bürgerrechtliche Kritik des Strafvollzugs.
Die TP Presseagentur dokumentiert seinen Vortrag nachstehend:
Vortrag von Prof. Johannes Feest
„I. „nicht Verbesserung des Strafrechts, sondern Ersatz des Strafrechts durch Besseres“
Auf diesen Satz von Gustav Radbruch hat Helga Einsele sich im Jahre 1969 bezogen, als sie als erste Empfängerin des Fritz-Bauer-Preises geehrt wurde. Das sollte nicht zuletzt auch für den Strafvollzug gelten. Für den sie als Leiterin der Frauenanstalt in Frankfurt-Preungesheim Maßstäbe gesetzt hat. Und auch die nächsten PreisträgerInnen haben, jede auf ihre Weise dieses Ziel im Auge gehabt:
– Gustav Heinemann hat als Bundesjustizminister, den Strafvollzug und vor allem die Sicherungsverwahrung wesentlich reduziert (und im Ergebnis war die Abschaffung dieser menschenunwürdigen Institution in greifbarer Nähe)
– Birgitta Wolf, dieser „Engel der Gefangenen“ hat die Abschaffung der „strengen Einzelhaft“ erreicht. Aber ihre bislang unerreichte Maximalforderung war die Abschaffung des Strafrechts zugunsten eines „Konsequenzenrechts“
– Heinz-Dietrich Stark. Er war aufgrund einer Rebellion der Gefangenen in Santa Fu in sein Amt gekommen. Er inaugurierte eine Reihe vielbeachteter innerer Reformen: tagsüber offene Zellentüren (und Zellenschlüssel für alle Gefangenen); eigene Lichtschalter in allen Zellen; starke Formen der Mitbestimmung etc.).
Dies alles geschah vor Inkrafttreten des ersten deutschen Strafvollzugsgesetzes (1977).
Auch dieses Gesetz hätte den Preis verdient gehabt. Auch in ihm steckte der Wunsch nach grundlegenden Veränderungen, sowohl in rechtsstaatlicher wie in sozialstaatlicher Hinsicht:
Gerichtlicher Rechtsschutz einerseits. Im Gesetz verankert wurde aber auch eine sozialstaatliche Angleichung an die Maßstäbe außerhalb, insbesondere
– angemessene Bezahlung der Gefangenenarbeit
– Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
– Einbeziehung in die Sozialversicherung
– Öffnung der Anstalten, insbesondere durch Lockerungen des Vollzugs (etwas, was Fritz Bauer emphatisch unter dem Namen „Freigängertum“ gefordert hatte).
Und sogar das von Helga Einsele, schon vorher praktizierte Modells der „Mutter-Kind-Station“ wurde verbindlich im Gesetz verankert.
II. Was ist die Bilanz fast 50 Jahre nach dem ersten Fritz-Bauer-Preis?
Statt eines halbwegs übersichtlichen Strafvollzugsgesetzes hat uns die Föderalismusreform sechzehn Landesgesetze beschert (und die versehentlich in Kraft gebliebenen Teile des Bundesgesetzes). Wir haben es mit einer neuen normativen Unübersichtlichkeit zu tun.
Inhaltlich gibt es in einzelnen Bundesländern mikroskopische Verbesserungen, ebenso wie Verschlechterungen. Die innere Öffnung des Vollzugs ist nicht mehr, was sie nach Hamburger Vorbild einmal war (schon wegen Personaleinsparungen sitzen Gefangene wieder vielfach 20-23 Stunden pro Tag in ihrer Zelle. Die Vollzugslockerungen sind bundesweit drastisch zurückgenommen worden. Der offene Vollzug und gar das Freigängertum führen ein Schattendasein. Und der Vollzug der Sicherungsverwahrung hat sich bereits wieder verdreifacht.
Vor allem aber sind die sozialstaatlichen Elemente auf der Strecke geblieben. Sie waren schon im alten Bundesgesetz von den Finanzministern der Länder unter Finanzierungsvorbehalt gestellt worden. Ihr Inkrafttreten wurde immer weiter hinausgeschoben, bis die Föderalismusreform diese Peinlichkeit einer „Reformruine“ beendete. Die Landesgesetze enthalten diese Elemente überhaupt nicht mehr. Das ist durchaus konsequent, weil es sich in den meisten Fällen um Bundesrecht handeln würde, wozu den Ländern die Zuständigkeit fehlt. Damit sind diese Fragen gewissermaßen „aus den Augen, aus dem Sinn“. Deshalb ist es so wichtig, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, wie das Komitee für Grundrecht und Demokratie, und eben die Humanistische Union sich diese Sache annehmen. Und dazu gehört die heutige Preisverleihung an die GG/BO. Die erste in Sachen Strafvollzug seit 1977.
Aber bevor ich zum Stellenwert diese Preisverleihung komme (ohne der Laudatio vorgreifen zu wollen) noch ein paar Worte zur den „Mutter-Kind-Stationen“. Sie haben überlebt, sind aber von vielen Landesgesetzen auf Kleinkinder eingeschränkt worden. Wichtiger noch: man musste sich schon bald fragen, was schwangere Frauen und Mütter von Kleinkindern überhaupt im Gefängnis verloren haben. In der DDR wurde ihnen damals der Strafvollzug erspart, in Italien auch. Aber das ist alles Vergangenheit. Und die Mutter-Kind-Stationen sind ein deutscher Exportartikel. Man muss sich fragen, ob Helga Einsele nicht die umgekehrte Entwicklung bevorzugt hätte.
III. Wohin sollte die Reise gehen? Bzw. wie könnte die Ersetzung des Strafvollzuges durch etwas Besseres von statten gehen?
Die heutige Preisverleihung deutet in eine hoffnungsvolle Richtung: in der Begründung der Jury wird auf den Angleichungsgrundsatz Bezug genommen, der unverändert als Vollzugsgrundsatz in allem Gesetzen erhalten geblieben ist. Das entspricht auch den Vorgaben der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, wonach die Freiheitsstrafe nur den Entzug der Freiheit und nichts darüber hinaus Gehendes bedeutet. Tatsächlich erweist sich dieser Grundsatz als wichtigster Motor für Veränderungen. Denn je genauer man hinschaut, umso weniger überzeugen Einschränkungen, die im Namen der Freiheitsstrafe erhoben werden.
Warum sollen Gefangene keinen Zugang zum Internet haben? Warum sollen sie keine Mobiltelefone besitzen dürfen? Warum muss die Freiheitsstrafe in kasernenartigen Gebäuden vollzogen werden? Wozu überhaupt Massenmenschenhaltung? Und, bezogen auf die heutige Preisverleihung: wieso Arbeitspflicht? wieso kein Mindestlohn für gefangene Arbeiter? Wieso keine Einbeziehung in die Sozialversicherung? wieso keine gewerkschaftliche Vertretung? Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt bleibt dumm!
Wer diese Fragen zu Ende denkt, der findet, dass eine Durchsetzung dieser und ähnlicher Forderungen geeignet wäre, die Institution grundlegend zu verändern. Die britisch-amerikanische Schriftstellerin und Bürgerrechtsaktivistin Jessica Mitford hat dies strategisch wie folgt ausgedrückt: „Durch das Bestreben, die Rechte der Gefangenen als Bürger und Arbeiter zu etablieren, wird die Trennung zwischen ihnen und denen draußen verringert. In einem entscheidenden Sinne ist die innere Logik einer solchen Bewegung die Abschaffung des Gefängnisses, da in dem Maße, in dem solche Trennungen verwischt werden, das Gefängnis seiner lebendigen Funktion entkleidet wird“ (1977, 30).
Ich bezeichne diesen Abbau der Strafanstalt durch Angleichung als „abolitionistische Fort-Entwicklung“ des Strafvollzuges. Und ich hoffe sehr, dass sich die Humanistische Union und andere zivilgesellschaftliche Organisationen diese Strategie zu eigen machen.“
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Laudatio von Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn
„Fritz-Bauer-Preis für die Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation
Laudatio, Hannover, 17.9.2016
Kirstin Drenkhahn
Ich weiß leider nicht mehr, wann ich das erste Mal von der Gefangenen-Gewerkschaft gehört habe, aber ich weiß noch, dass ich das Ganze zuerst überhaupt nicht ernst genommen habe: Ich hätte nicht gedacht, dass die Initiatoren durchhalten. Zum Glück habe ich mich geirrt, und wir können heute den Fritz-Bauer-Preis an die Gefangenen-Gewerkschaft/ Bundesweite Organisation verleihen, die durch ihren Sprecher Oliver Rast vertreten wird. Die GG/BO hat sich gewünscht, dass ich die Laudatio halten möge. Ich habe mich darüber sehr gefreut und erfülle diesen Wunsch gerne.
Die Gefangenen-Gewerkschaft wurde im Mai 2014 in der JVA Tegel in Berlin gegründet von Oliver Rast und Mehmet Aykol. Während Oliver Rast viel Erfahrung mit der Organisation von Aktivismus hatte, hatte Mehmet Aykol sehr viel Zeit, Vollzugserfahrung und solide Rechtskenntnisse. Damit war die richtige Mischung aus Motivation und Können beisammen, um diese Idee von einer Gewerkschaft in die Tat umzusetzen. Es hat sicher auch geholfen, dass Oliver Rast zwischenzeitlich aus der Haft entlassen wurde und die Organisation von außerhalb pflegen und ausbauen kann, denn effektive Gewerkschaftsarbeit bedarf einer guten Öffentlichkeitsarbeit – wenn keiner mitbekommt, was man ändern will, ist es kaum möglich, etwas zu ändern. Das ist draußen immer noch erheblich besser möglich als drinnen, wo es an Ressourcen mangelt und der Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln stark beschränkt ist. Oliver Rast bastelt aber nicht nur Informationen ins Internet und telefoniert mit Journalisten und anderen interessierten Menschen, sondern er reist auch von einer Veranstaltung zur nächsten, um persönlich über die GG/BO und ihre Ziele zu berichten. Bei einer solchen Veranstaltung haben wir uns letztes Jahr im Herbst in Jena kennengelernt.
In den vergangenen zwei Jahren konnte die GG/BO mehrere Hundert Mitglieder in Justizvollzugsanstalten in der ganzen Bundesrepublik werben – allein in Tegel sind es wohl 200. Außerdem gibt es viel Unterstützung von außerhalb durch ein Unterstützer-Netzwerk und ad hoc bei einzelnen Aktionen.
Während es in der informellen Struktur im Vollzug heute sehr wichtig ist, einer Gruppe anzugehören, die sich meist nach ethnischen oder landmannschaftlichen Kriterien definiert und sich so von anderen Gruppen abgrenzt, steht die GG/BO allen offen, die für die Ziele der Organisation eintreten wollen und die wesentlichen Leitlinien anerkennen, nämlich Solidarität, Kollegialität, Emanzipation, Autonomie und Sozialreform. Wie es auf der GG/BO-Website heißt, schließt das jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aus. Ich finde, dass bereits dies angesichts der Bildung von ethnisch definierten Gruppen, zu denen ich auch Nazi-Gruppen zähle, sowie der weitverbreiteten Homophobie im Vollzug eine bemerkenswerte Anforderung ist. Bevor ich dazu noch mehr sage, möchte ich aber ein paar Gedanken zu den Zielen der GG/BO mit Ihnen teilen.
Die GG/BO hat den Anspruch, die soziale Frage hinter Gittern zu stellen – und das tut sie auch. Als Ziele benennt sie:
• Koalitionsfreiheit hinter Gittern,
• gesetzlicher Mindestlohn für Gefangenenarbeit und
• die volle Einbeziehung in die gesetzliche Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung.
Ich möchte mit dem letzten Punkt anfangen. Nachdem jahrzehntelang nicht ernsthaft über die Einbeziehung von gefangenen Arbeiterinnen und Arbeitern in die Renten- und Sozialversicherung gesprochen wurde, so wird jetzt wieder darüber diskutiert, was auch das Verdienst der GG/BO ist. Anfang Juni hat die Justizministerkonferenz beschlossen, der Finanzminister- und der Arbeits- und Sozialministerkonferenz vorzuschlagen, verschiedene Modelle, die in einem Bericht des Strafvollzugsausschusses der Länder vorgestellt werden, gemeinsam zu prüfen. Das hört sich erstmal nicht nach viel an, aber damit sind die Bundesländer weiter als jemals zuvor in den vergangenen vierzig Jahren seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes. Der Bericht des Strafvollzugsausschusses liegt mir leider nicht vor, so dass ich mich zu den Modellen, die dort vorgeschlagen werden, nicht äußern kann.
Diese Diskussion findet in einer ungünstigen Gesetzgebungs-Situation statt – so viel kann ich auch ohne den Bericht sagen – denn das Strafvollzugsrecht und die Strafvollzugsverwaltung sind, wie wir wissen, Ländersache, während die Gesetze, in denen die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung geregelt sind (die Sozialgesetzbücher 5, 6 und 11), Bundesgesetze sind. Die Bundesgesetzgebung ist also für den Strafvollzug an sich nicht mehr zuständig, aber für die wesentlichen ungelösten gesetzlichen Probleme des Strafvollzugs – finanziell wären allerdings die Bundesländer in der Pflicht. Bisher hat der Bundestag daher den schwarzen Peter hier immer den Ländern zugeschoben, wie zB in der Bundestagsdebatte um den Antrag der LINKEN vom Herbst 2014 über die Aufnahme von Gefangenen in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung (BT-Drs 18/2606, 18/2784 und Plenarprotokoll vom 18.12.2014). Vielleicht kommt hier nun tatsächlich mal ein bisschen Bewegung hinein, falls die Justizministerkonferenz, die eine Einrichtung der Bundesländer ist, ihren Beschluss vom Juni ernstnimmt.
Ein weiteres Problem ist aber bisher wohl nur von der GG/BO angesprochen worden bzw. von ihr als erstes, nämlich die Einführung des Mindestlohns für Gefangene. Auch hierbei handelt es sich um eine bundesgesetzliche Regelung, für die die Bundesländer als Arbeitgeber die finanziellen Lasten tragen müssten. Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (v. 11.8.2014) hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber. Zurzeit sind dies brutto 8,50 Euro pro Zeitstunde (§ 1 Abs. 2 Mindestlohngesetz), also 7-8-mal mehr als der Stundenlohn für arbeitende Gefangene bei 100% Leistung. Da es sich beim Mindestlohn um einen Bruttolohn handelt, würde seine Einführung für Gefangene, die der Anstalt arbeiten und nicht im Freigang in einem „freien Beschäftigungsverhältnis“, auch das Problem mit der Sozial- und Rentenversicherung lösen, denn es müssten Sozialabgaben gezahlt werden. Auf diesen Lohn entfallen übrigens auch grundsätzlich Steuern, also Einnahmen für den Staat.
Diese Frage nach der Einführung des Mindestlohns hängt interessanterweise auch mit dem rechtlichen Status der GG/BO zusammen. Nur weil ich meinen Verein „Gewerkschaft“ nenne, muss es noch kein Zusammenschluss im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG sein, der „jedermann“ (also nicht nur Deutschen) und für alle Berufe
„das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, […] gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Der Begriff „Arbeitnehmer“ kommt in dieser Norm nicht vor, trotzdem war genau dies, die Eigenschaft als Arbeitnehmer bzw. ihr Fehlen, die tragende Begründung des Beschlusses des Kammergerichts Berlin vom Juni 2015 (Forum Strafvollzug 2015, 280-283, Beschl. v. 29.6.2015), mit der Gefangenen der JVA Tegel die Koalitionsfreiheit, also das Recht, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren und zB Mitglieder zu werben, abgesprochen wurde. Die Argumentation ist im Einzelnen m.E. recht abenteuerlich. Es wird zB angeführt, dass es sich bei der Gefangenenarbeit im Vollzug nicht um ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis, sondern ein öffentlich-rechtliches handele und die Anstaltsleitung ein Direktionsrecht habe. Das ist zwar richtig, hat aber nicht notwendig etwas mit der Koalitionsfreiheit zu tun. Bei Beamten verhält es sich nämlich ähnlich – man wird ernannt und schließt keinen privatrechtlichen Arbeitsvertrag ab, der Dienstvorgesetzte hat bei den meisten Beamten ein Weisungsrecht (Ausnahmen: Richter und Hochschullehrer). Trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht Beamten schon 1965 Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG zugebilligt (BVerfGE 19, 303-323, Beschl. v. 30.11.1965). Im Übrigen würde der Abschluss privatrechtlicher Arbeitsverträge vermutlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der gefangenen Arbeiterinnen und Arbeiter verbessern, das Hinwirken darauf entspricht also der Zweckbestimmung in Art. 9 Abs. 3 GG.
Wirklich erstaunlich finde ich aber das Argument, dass die Koalitionsfreiheit nicht für Gefangene gelte, weil „die Gefangenenarbeit zudem nicht nur eine resozialisierungsorientierte Behandlungsmaßnahme [sei], sondern auch als Zwangsmittel zu dem durch die Freiheitsstrafe auferlegten Strafübel gehören [könne].“ Ich dachte, das hätten wir hinter uns gelassen, obwohl Gefangenenarbeit auch heute noch häufig eintönig und öde ist. Aber anscheinend haben es die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze von 2006 (Rec (2006) 2 on the European Prison Rules by the Committee of Ministers oft he Council of Europe to Member States) in den vergangenen zehn Jahren nicht von Straßburg nach Berlin geschafft. Dort, in den Strafvollzugsgrundsätzen, heißt es nämlich in Nr. 26.1,
„Gefangenenarbeit ist als ein positiver Bestandteil des Strafvollzugs zu betrachten und darf nie zur Bestrafung eingesetzt werden.“
Obwohl es sich bei dieser Regel um soft law handelt, das auch in den Mitgliedstaaten des Europarats, der für diese Regeln zuständig ist, nicht unmittelbar gilt, so ist sie doch ein internationaler Standard mit Menschenrechtsbezug. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug im Jahr 2006 dienen solche internationalen Standards als Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit deutschen Strafvollzugsrechts (BVerfGE 116, 69-95, Urt. v. 31.5.2006, Rn. 63). Einem Gefangenen eine Gewährleistung des GG mit dem Gegenteil des internationalen Standards zu verweigern, also hier mit der Behauptung, Arbeit im Vollzug diene auch der Strafe, ist ein echt starkes Stück. Es ist im Übrigen auch in sich nicht logisch. Wenn man nicht an schwarze Pädagogik à la Struwwelpeter glaubt, kann Gefangenenarbeit nicht gleichzeitig resozialisierend den Wert von ordentlicher Arbeit vermitteln und gleichzeitig strafen – entweder Arbeit ist als gut oder als schlecht konnotiert, beides zusammen geht nicht.
Ein kleines bisschen Verständnis kann man aber vielleicht doch haben, wenn gerade ein Berliner Gericht arbeitenden Gefangenen/gefangenen Arbeitern und Arbeiterinnen die Arbeitnehmereigenschaft abspricht. Daran ist eben der Mindestlohn geknüpft, und Berlin hat kein Geld.
Wie der Streit um die Koalitionsfreiheit von Gefangenen ausgeht, ist noch offen, denn zumindest das Oberlandesgericht Hamm meint, dass die Koalitionsfreiheit grundsätzlich auch für Gefangene gelte (Beschl. v. 2.6.2015, Forum Strafvollzug 2016, 77). Das Bundesverfassungsgericht hat darüber in der Sache noch nicht entschieden.
Ich habe vorhin versprochen, dass ich noch ein paar Worte zu den Leitlinien der GG/BO sage.
Solidarität, Kollegialität, Emanzipation, Autonomie, Sozialreform und Ablehnung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – eigentlich müssten das alle, die sich mit dem Strafvollzug beschäftigen, großartig finden.
Auch wenn es in vielen Landesstrafvollzugsgesetzen anders formuliert ist, so ist doch das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel nach wie vor, Gefangene zu befähigen,
„künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“.
Hier stürzen sich alle auf das Ende des Satzes, also die Vermeidung von Rückfällen, aber der Ausdruck „soziale Verantwortung“ ist eine Chiffre für ein legitimes und normkonformes Lebensziel und damit als Voraussetzung für die Rückfallfreiheit enorm wichtig. Es wird viel Wert daraufgelegt, dass die Gefangenen an der Realisierung des Vollzugsziels „mitwirken“. In einigen Jugendstrafvollzugsgesetzen gibt es sogar eine Mitwirkungspflicht. Was ist aber, wenn die Gefangenen auf eigene Faust darauf hinwirken und dazu gar nicht Hilfe von spezialisiertem Anstaltspersonal in Anspruch nehmen wollen?
Ich behaupte einfach mal, dass Gewerkschaftsarbeit etwas mit der Übernahme von sozialer Verantwortung zu tun hat – für die Gewerkschaften außerhalb des Vollzugs scheint mir das anerkannt zu sein. Nicht einmal die Arbeitgeberverbände werfen dem DGB ernsthaft vor, die Gesellschaft durch egoistische Forderungen zerstören zu wollen oder Sicherheit und Ordnung zu gefährden.
Wenn ich mir also wünsche, dass Gefangene während des Vollzugs der Freiheitsstrafe lernen, soziale Verantwortung zu übernehmen, dann kann mir im Hinblick auf das Resozialisierungsziel kaum etwas Besseres passieren, als dass sie sich politisch für Gruppeninteressen engagieren, ihre Grundrechte wahrnehmen und den Bezug zwischen ihrer Situation und aktuellen Fragen herstellen. Das Problem angemessen bezahlter Arbeit und sozialer Sicherung haben nämlich nicht nur Gefangene, sondern auch viele Menschen draußen (Stichwort: Projektarbeit, hochqualifizierte Praktikanten).
Mir ist natürlich klar, dass es anstrengend ist, sich als Strafvollzugsverwaltung und als Anstaltsleitung plötzlich mit einer gut organisierten Gefangenengruppe auseinandersetzen zu müssen, die so weitreichende Forderungen aufstellt wie die GG/BO – insbesondere wenn man die Forderungen eigentlich nicht so einfach als Nonsens wegwischen kann. Aber man kann nicht auf der einen Seite verlangen, dass Menschen für ihre eigenen Belange verantwortlich sein und Verantwortung übernehmen sollen, und auf der anderen Seite, dass sie das schön einzeln für sich allein machen sollen. Soziale Verantwortung hat immer etwas mit Gruppenbelangen zu tun und die versucht man am besten auch mit einer Gruppe durchzusetzen.
Mir scheint aber hinter dem Problem der Anerkennung der GG/BO als „richtige“ Gewerkschaft noch etwas Anderes zu stehen, dass mit der sozialen Verantwortung zu tun hat, nämlich die Grundrechtsfähigkeit von Gefangenen. Auch dies ist, wie die Frage, ob Gefangenenarbeit Strafe sein darf, lange geklärt: Gefangene Menschen sind Grundrechtsträger genau wie die Menschen außerhalb des Strafvollzugs. Ich glaube aber, dass diese rechtliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus den 1970er Jahren immer noch nicht wirklich kognitiv verarbeitet wurde. Nach wie vor herrscht – von einigen sogar ausdrücklich ausgesprochen – die Überzeugung vor, dass Gefangenen die Wahrnehmung von Grundrechten zugestanden wird, sofern es den Bedürfnissen des Strafvollzugs nach Sicherheit und Ordnung nicht entgegensteht. Hier steht also an erster Stelle der Staat, dann kommen die Bürger, die sich zufriedengeben müssen mit dem, was man ihnen gibt. Außerdem klingt hier an, dass „die“ das eigentlich gar nicht verdienen. Nach dem Grundrechtsverständnis für Menschen außerhalb des Strafvollzugs haben alle Grundrechte – ob man sie verdient, ist völlig irrelevant – und jede Einschränkung durch staatliche Eingriffe muss im Einzelnen begründet werden. Es läuft also genau andersherum.
Wenn die GG/BO jetzt ein Grundrecht für sich und ihre Mitglieder in Anspruch nimmt, dass bisher im Strafvollzug in Deutschland keine Rolle gespielt hat, ist der natürliche Reflex des Strafvollzugs Abwehr, denn daran hat der Staat bisher noch nicht gedacht und also noch nicht überlegt, ob man das erlauben kann. Das ist aber die falsche Denkrichtung: Man kann allenfalls überlegen, ob die Ausübung des Grundrechts eingeschränkt werden kann – was bei Art. 9 Abs. 3 GG gar nicht so einfach ist.
Um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die GG/BO bringt endlich Dynamik in die Diskussion um die Einbeziehung von Gefangenen in die Sozial- und Rentenversicherung, sie bietet Gefangenen die Möglichkeit der Übernahme sozialer Verantwortung schon während der Strafvollstreckung und sie legt den Finger in eine wirklich unangenehme Wunde, nämlich das Grundrechtsverständnis im Strafvollzug.
Dafür hat die Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation den Fritz-Bauer-Preis 2016 verdient und ich bin froh, dass sie ihn heute auch bekommt.“
Den Preis nahm der Mit-Gründer und Sprecher der GG/BO, Oliver Rast, entgegen. Mehmet-Sadik Aykol wurde von der JVA Berlin-Tegel ein Ausgang abgelehnt. Auch eine Überstellung mit einem Gefangenentransporter nach Hannover wurde ihm strikt verweigert. Die GG/BO ist der JVA Tegel sowie dem Berliner Justizsenator Thomas Heilmann ein Dorn im Auge.
TP
Foto: Prof. Johannes Feest
Bildquelle: TP Presseagentur Berlin
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