Nach
Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte
haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden.
Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die
Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und
grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit
zu leisten.
Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien. Sie
war seit April 2015 bei der Beklagten, einem Unternehmen mit Sitz in Bulgarien,
als Sozialassistentin beschäftigt. In dem in bulgarischer Sprache abgefassten
Arbeitsvertrag ist eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart,
wobei Samstag und Sonntag arbeitsfrei sein sollten. Die Klägerin wurde nach
Berlin entsandt und arbeitete gegen eine Nettovergütung von 950,00 Euro
monatlich im Haushalt der über 90-jährigen zu betreuenden Person, bei der sie
auch ein Zimmer bewohnte. Ihre Aufgaben umfassten neben Haushaltstätigkeiten
(wie Einkaufen, Kochen, Putzen etc.) eine „Grundversorgung“ (wie Hilfe bei der
Hygiene, beim Ankleiden etc.) und soziale Aufgaben (zB Gesellschaft leisten,
Ansprache, gemeinsame Interessenverfolgung). Der Einsatz der Klägerin erfolgte
auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags, in dem sich die Beklagte
gegenüber der zu betreuenden Person verpflichtete, die aufgeführten
Betreuungsleistungen durch ihre Mitarbeiter in deren Haushalt zu erbringen.
Mit ihrer im August 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin unter Berufung auf
das Mindestlohngesetz (MiLoG) weitere Vergütung verlangt. Sie hat geltend
gemacht, bei der Betreuung nicht nur 30 Wochenstunden, sondern rund um die Uhr
gearbeitet zu haben oder in Bereitschaft gewesen zu sein. Selbst nachts habe
die Tür zu ihrem Zimmer offenbleiben müssen, damit sie auf Rufen der zu
betreuenden Person dieser – etwa zum Gang auf die Toilette – Hilfe habe leisten
können. Für den Zeitraum Mai bis August 2015 und Oktober bis Dezember 2015 hat
die Klägerin zuletzt die Zahlung von 42.636,00 Euro brutto abzüglich erhaltener
6.680,00 Euro netto nebst Prozesszinsen begehrt. Die Beklagte hat
Klageabweisung beantragt und gemeint, sie schulde den gesetzlichen Mindestlohn
nur für die arbeitsvertraglich vereinbarten 30 Wochenstunden. In dieser Zeit
hätten die der Klägerin obliegenden Aufgaben ohne Weiteres erledigt werden
können. Bereitschaftsdienst sei nicht vereinbart gewesen. Sollte die Klägerin
tatsächlich mehr gearbeitet haben, sei dies nicht auf Veranlassung der
Beklagten erfolgt.
Das Landesarbeitsgericht hat der Klage überwiegend entsprochen und ist im Wege
einer Schätzung von einer Arbeitszeit von 21 Stunden kalendertäglich
ausgegangen. Hiergegen richten sich die Revision der Beklagten und die
Anschlussrevision der Klägerin mit Erfolg. Das Berufungsgericht hat im
Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass die Verpflichtung zur Zahlung des
gesetzlichen Mindestlohns nach § 20 iVm. § 1 MiLoG auch ausländische
Arbeitgeber trifft, wenn sie Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Hierbei
handelt es sich um Eingriffsnormen iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, die unabhängig
davon gelten, ob ansonsten auf das Arbeitsverhältnis deutsches oder
ausländisches Recht Anwendung findet. Die Revision der Beklagten rügt jedoch
mit Erfolg, das Berufungsgericht habe ihren Vortrag zum Umfang der geleisteten
Arbeit nicht ausreichend gewürdigt und deshalb unzutreffend angenommen, die
tägliche Arbeitszeit der Klägerin habe unter Einschluss von Zeiten des
Bereitschaftsdienstes 21 Stunden betragen. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zu
Recht in den Blick genommen, dass aufgrund des zwischen der Beklagten und der
zu betreuenden Person geschlossenen Dienstleistungsvertrags eine
24-Stunden-Betreuung durch die Klägerin vorgesehen war. Es hat jedoch
rechtsfehlerhaft bei der nach § 286 ZPO gebotenen Würdigung des gesamten
Parteivortrags den Hinweis der Beklagten auf die vertraglich vereinbarte
Arbeitszeit von 30 Stunden/Woche nicht berücksichtigt, sondern hierin ein
rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten gesehen. Das führt zur
Aufhebung des Berufungsurteils. Auch die Anschlussrevision der Klägerin ist
begründet. Für die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe
geschätzt täglich drei Stunden Freizeit gehabt, fehlt es bislang an
ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten, so dass auch aus diesem Grund das
Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben ist. Die Sache war an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, um insoweit den Sachverhalt weiter
aufzuklären, den Vortrag der Parteien umfassend zu würdigen und festzustellen,
in welchem Umfang die Klägerin Vollarbeit oder Bereitschaftsdienst leisten
musste und wie viele Stunden Freizeit sie hatte. Dass die Klägerin mehr als die
im Arbeitsvertrag angegebenen 30 Stunden/Woche zu arbeiten hatte, dürfte – nach
Aktenlage – nicht fernliegend sein.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Juni 2021 – 5 AZR 505/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. August 2020 – 21 Sa 1900/19 –
Jede Stunde Arbeit zählt.
„Jede Stunde Arbeit muss entlohnt werden – Punkt! Es muss Schluss sein mit dem systematischen Gesetzesbruch, auf dem lukrative Geschäftsmodelle unzähliger Vermittlungsagenturen inzwischen beruhen. Ich gratuliere der Klägerin zu diesem Erfolg und hoffe, dass viele weitere Live-Ins dem Beispiel dieser mutigen Frau folgen – denn kämpfen lohnt sich“, kommentiert Susanne Ferschl, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt im Fall einer bulgarischen Frau, die die Vermittlungsagentur auf Bezahlung ihrer kompletten Arbeitszeit von 24 Stunden verklagt hatte. Ferschl weiter: „Die sogenannte 24-Stunden-Pflege ist ein besonders eklatantes Beispiel für den Verstoß gegen geltende Arbeitszeitregeln und die schamlose Ausbeutung osteuropäischer Beschäftigter. Es ist gut, dass die Gerichte hinschauen, wo die Bundesregierung die Augen verschließt: bei der flächendeckenden Arbeitszeiterfassung. Nötig ist eine verpflichtende Arbeitszeiterfassung für Arbeitgeber aller Branchen, damit das Arbeitszeitgesetz eingehalten wird und Beschäftigte sich auf vereinbarte Zeiten auch verlassen können. Die wöchentliche Höchstarbeitszeit muss auf 40 Stunden begrenzt werden, denn überlange Arbeitszeiten machen krank. Ich kritisiere scharf, dass die Bundesregierung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung in den letzten zwei Jahren nicht umgesetzt hat. Damit leistet sie solchen missbräuchlichen Arbeitsbedingungen Vorschub.“ Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts: ver.di sieht Kritik am Modell der „24-Stunden-Pflege“ bestätigt. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Klage einer bulgarischen Beschäftigten, die als sogenannte 24-Stunden-Kraft in Privathaushalten pflegebedürftiger Menschen gearbeitet hat, an die Vorinstanz zurückverwiesen. Zugleich stellten die obersten Arbeitsrichter klar, dass die deutschen Gesetze wie der Mindestlohn auch auf diese Arbeitsverhältnisse und auf jede Arbeitsstunde angewendet werden müssen (5 AZR 505/20). „Das ist ein klares Signal: Alle Beschäftigten, die in Deutschland arbeiten, sind von den hiesigen Arbeitsschutzgesetzen erfasst – unabhängig von ihrer Herkunft und davon, mit wem sie ihren Arbeitsvertrag geschlossen haben“, sagte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. „Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem Gesetzesbruch. Damit muss Schluss sein.“ Das ver.di-Mitglied aus Bulgarien klagt mit gewerkschaftlicher Unterstützung auf Nachzahlung des ihr vorenthaltenen Mindestlohns und wird dabei von der muttersprachlichen DGB-Beratungsstelle „Faire Mobilität“ begleitet. Als Angestellte einer bulgarischen Agentur hatte sie pflegebedürftige Menschen in Deutschland in ihrem Zuhause versorgt. Dabei musste sie nahezu rund um die Uhr zur Verfügung stehen und auch nachts einsatzbereit sein. Bezahlt wurde sie jedoch nur für die im Arbeitsvertrag festgeschriebene Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche. Das BAG betonte nun, dass sämtliche Arbeitsstunden, auch Bereitschaftszeiten, wenigstens mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden müssen. Im vorliegenden Fall müsse das Landesarbeitsgericht, das der Klage größtenteils stattgegeben hatte, aber konkreter darauf eingehen, warum nicht ausschließlich die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeitszeit ausschlaggebend ist. „Wenn eine Beschäftigte die Versorgung eines pflegbedürftigen Menschen rund um die Uhr sicherstellen soll, kann es nicht mit legalen Dingen zugehen“, erklärte Bühler. „Die politisch Verantwortlichen müssen daraus umgehend Konsequenzen ziehen. Pflegebedürftige Menschen und ihre Familien brauchen Alternativen zur dieser illegalen Praxis.“ Die Gewerkschafterin nannte es „beschämend, dass in unserem Land viele pflegebedürftige Menschen auf eine sogenannte 24-Stunden-Pflege zurückgreifen müssen, weil das offizielle System keine ausreichende Unterstützung bietet“. Die Familien müssten besser darüber aufgeklärt werden, was zulässig sei und was nicht, und dass die sogenannte 24-Stunden-Pflege gegen den gesetzlichen Mindestlohn ebenso verstoße wie gegen das Arbeitszeitgesetz und den Gesundheitsschutz. Deshalb müssten ambulante Pflege- und Betreuungsangebote massiv ausgebaut werden. Die Pflegeversicherung müsse zu einer „Solidarischen Pflegegarantie“ weiterentwickelt werden, die von allen Bürgerinnen und Bürgern solidarisch finanziert wird und alle pflegebedingten Kosten übernimmt. „Das derzeitige System basiert auf der Ausbeutung ausländischer Kolleginnen und garantiert keine sachgemäße Pflege. Das darf von der Politik nicht länger sehenden Auges hingenommen werden.“ |
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