BVerfG-Beschluss vom 07. Juli 2020.
1 BvR 2447/19
Die 2. Kammer des
Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine
Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die
Zurückweisung eines Prozesskostenhilfegesuchs für ein Vorgehen gegen einen
Pressebericht richtete.
Die Kammer hat mit dem Beschluss klargestellt, dass eine Vorabeinschätzung der
Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren auch dann zulässig ist, wenn
eine solche Einschätzung – wie etwa regelmäßig im Presse- und Äußerungsrecht –
eine abwägende Berücksichtigung der im Einzelfall widerstreitenden
grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt. In einer solchen Abwägung
liegt, obwohl sie mitunter komplexe Wertungsfragen aufwirft, nicht schon
deshalb, weil sie als Einzelfallbeurteilung offen ist, eine „Vorabklärung
schwieriger Rechtsfragen“, die im Prozesskostenhilfeverfahren verboten ist.
Zugleich hat die Kammer deutlich gemacht, dass die Zulässigkeit einer
identifizierenden Berichterstattung über Strafverfahren einschließlich der
Umstände von Tat und Täter im Fall einer Verurteilung nicht generell auf
schwere Gewalttaten oder prominente Personen beschränkt ist, sondern von den
Umständen des Einzelfalls abhängt. Die Fachgerichte durften deshalb ohne
Verletzung der Rechtschutzgleichheit davon ausgehen, dass ein Vorgehen des
Beschwerdeführers gegen den Bericht im konkreten Fall nicht hinreichend
aussichtsreich war, auch wenn es sich lediglich um einfache
Körperverletzungstaten handelte.
Sachverhalt:
Der nicht öffentlich
bekannte Beschwerdeführer war im Jahr 2018 wegen zweier von ihm eingeräumter einfacher
Körperverletzungen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Wegen einer dritten
angeklagten Körperverletzungstat, die ebenfalls in den eineinhalbmonatigen
Zeitraum zwischen den abgeurteilten Taten fiel, wurde die Strafverfolgung nach
§ 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Eine Anfechtung des Urteils erfolgte nicht. Über
dieses Verfahren und seinen Ausgang berichtete der örtliche Ableger einer
großen Tageszeitung auf seiner Internetseite. Beim Artikel befindet sich ein
Foto des Beschwerdeführers aus dem Gerichtsverfahren, das im Augenbereich
unkenntlich gemacht ist, auf dem er aber möglicherweise für Bekannte erkennbar
ist. Der unter der Abbildung stehende Text identifiziert ihn mit seinem
Vornamen und Alter. Der Artikel berichtet in zuspitzender Form über die
zugrundeliegenden Taten und verschiedene Äußerungen des Beschwerdeführers im
Strafverfahren, wobei ihm u.a. ein „Hang zur Gewalt“ und zu anlasslosen
„Ausrastern“ attestiert wird.
Das Prozesskostenhilfegesuch des Beschwerdeführers für ein zivilgerichtliches
Vorgehen gegen den verantwortlichen Presseverlag wiesen die Zivilgerichte
mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurück. Auch nicht schwerwiegende
Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach Einzelfall
zu dem die Öffentlichkeit berechtigterweise interessierenden Zeitgeschehen,
über das auch individualisierend zu berichten der Presse erlaubt sei. Hier
begründeten die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität der Taten
ein hinreichendes Interesse an dem Bericht.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung
seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit. Schwierige, nicht geklärten
Rechtsfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll das Institut der
Prozesskostenhilfe auch unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang
zu Gericht ermöglichen. Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Bewertung ist,
ob die Fachgerichte den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der
Vorabwürdigung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren nach § 114
ZPO zukommt, überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, einen
Gerichtszugang zu gewährleisten, deutlich verfehlen. Die Fachgerichte dürfen
Prozesskostenhilfe insbesondere dann nicht versagen, wenn die Entscheidung im
Klageverfahren von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten
Rechtsfrage abhängt. Sie braucht demgegenüber nicht gewährt zu werden, wenn die
entscheidungserhebliche Rechtsfrage angesichts der einschlägigen gesetzlichen
Regelung oder der durch die Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in
diesem Sinn als „schwierig“ erscheint. Das gilt insbesondere für abwägende
Subsumtionsentscheidungen im Einzelfall, obwohl auch sie komplexe Fragen
aufwerfen können. Selbst wenn die Beurteilung der Erfolgsaussichten eine
konkret abwägende Subsumtionsentscheidung erfordert, darf eine fachgerichtliche
Voreinschätzung daher im Verfahren der Prozesskostenhilfe Berücksichtigung
finden, soweit die generellen Maßstäbe dieser Abwägung hinreichend geklärt
sind. Andernfalls wäre Prozesskostenhilfe in einzelfallaffinen Rechtsbereichen,
etwa im regelmäßig durch konkrete Abwägung von Berichterstattungs- und
Persönlichkeitsinteressen bestimmten Äußerungsrecht, fast immer zu gewähren.
Das ist mit dem Verbot, „schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen“ im
Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden, nicht gemeint.
Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Fachgerichte bei der ihnen gebührenden
Einschätzung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg die aus der
Rechtschutzgleichheit folgenden Anforderungen gewahrt. Die Gerichte haben ihrer
Abschätzung der Erfolgsaussichten zugrunde gelegt, dass eine identifizierende
Presseberichterstattung über Strafverfahren und die zugrundeliegenden Taten in
zeitlicher Nähe einer Verurteilung nicht generell auf Fälle schwerer
Gewaltverbrechen oder öffentlich bekannter Personen beschränkt ist, sondern von
den konkreten Umständen des Falles und dem darauf bezogenen öffentlichen
Berichterstattungsinteresse abhängt. Dies entspricht dem Stand der –
insbesondere auch verfassungsrechtlichen – Rechtsprechung. Die danach gebotene
Abwägung hat auch das Gewicht der Straftaten einzubeziehen, aber verstanden als
einzelfallbezogener Abwägungsgesichtspunkt, nicht als abstrakt zu klärende
Grundsatzfrage.
Die Einschätzung, ob in Anwendung dieser Maßstäbe ein gerichtliches Vorgehen
gegen die individualisierende Berichterstattung hinreichend aussichtsreich war,
verweist auf den konkreten Einzelfall, ist durch abwägende Würdigung des
Inhalts und der Umstände der Berichterstattung, der Tat und ihrer Bedeutung für
die Allgemeinheit zu beantworten und daher von vornherein einer allgemeinen
Klärung entzogen. Sie ist auch nicht derart schwierig oder maßstäblich offen,
dass sie einer antizipierenden Würdigung im Verfahren der Prozesskostenhilfe
entgegenstünde. Die für die gerichtliche Einschätzung der Erfolgsaussichten
maßgebliche Tatsachengrundlage war zudem in Gestalt des beanstandeten
Presseberichts und des zugrundeliegenden Strafurteils aus den Akten
ersichtlich.
Quelle: BverfG-Pressemitteilung Nr. 62/2020 vom 24. Juli 2020