Gott sei Dank, daß Deutschland nicht ganz DDR geworden ist.

TP-Interview mit Ralph Giordano.

Frage:

Herr Giordano, die Beschönigung der Nazidiktatur durch viele Deutsche noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des sogenannten Dritten Reiches haben Sie in Ihrem gleichnamigen Buch als „Die Zweite deutsche Schuld“ genannt. Als „kollektive Affekte“ haben Sie solche Aussagen wie etwa „Nicht alles war schlecht“ usw. bezeichnet.
Heute hört man ähnliche Aussagen von ehemaligen DDR-Bürgern in Bezug auf ihren 1990 untergegangenen Staat. Würden Sie hier auch von „kollektiven Affekten“ sprechen und sie als eine „Dritte deutsche Schuld“ begreifen?

Giordano:

Nein, nicht als „Dritte deutsche Schuld“ – ich will hier kein Arithmetiker deutscher Schuldfortschreibung sein. Jede zweite Schuld setzt ja eine erste voraus. Mit dieser ersten Schuld ist die Schuld der Deutschen oder ihrer Mehrheit unter Hitler gemeint, die zweite Schuld meint die Verdrängung und Verleugnung dieser ersten Schuld dann nach 1945/49 – nicht bloß rhetorisch oder moralisch, sondern tief instituiert durch das, was ich den großen Frieden mit den Tätern genannt habe.
Ich würde diese beiden Staaten überhaupt nicht miteinander vergleichen, weil das wieder bedeutet, daß wir undemokratische, totalitäre, autoritäre Gewaltregime als Maßmodelle aneinanderhalten. Dagegen bin ich grundsätzlich, sage aber, der Nationalsozialismus war etwas absolut Singuläres, ein Unikat der nationalen und internationalen Geschichte. Das Kriminalgewicht des Holocaust-Staates war ungleich höher als das des Hammer- und Zirkel-Staates. Nur so ein scheußliches System wie das des real existierenden Sozialismus – auch auf deutschem Boden – wird ja nicht weniger scheußlich dadurch, daß es ein noch scheußlicheres gegeben hat.

Frage:

Nun werden beide Systeme oft in einem Atemzug genannt – wird die Nazidiktatur nicht noch einmal verharmlost, wenn man die SED-Diktatur mit ihr gleichsetzt?

Giordano:

Es ist immer versucht worden in Deutschland – mit welchen Vorzeichen, Mitteln, Argumenten und Motiven auch immer – die Nazizeit zu relativieren, zu bagatellisieren, zu minimalisieren. Ich denke, der Nationalsozialistische Abschnitt der deutschen Geschichte ist eines und der 40jährige Abschnitt des real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden ein anderes Kapitel. Der Nationalsozialismus war ein originär aus der deutschen Geschichte heraus entstandener und gewachsener fürchterlicher Aggregatzustand, während das SED-Regime ja auf den Bajonettspitzen der Roten Armee gekommen ist. Da gibt es also einen Unterschied, wobei ich hier gleich eines sagen möchte – das ist nicht meine einzige Beurteilung der Roten Armee und ich spräche jetzt hier mit Ihnen nicht, wenn es die Rote Armee nicht gegeben hätte: Die Rote Armee – daß das klar ist – hat den entscheidenden militärischen Blutanteil daran getragen, um Hitlerdeutschland militärisch zu zerschlagen. Das wird der weltgeschichtliche Ruhm der Roten Armee sein, daß es Hitlerdeutschland entscheidend geschlagen hat um den Preis von 10 Millionen Rotarmisten. Das ändert aber auf der anderen Seite nichts daran, daß die Rote Armee natürlich ein Träger des stalinistischen Monopolstaatsregimes gewesen ist. Sie sehen, die Sache ist sehr kompliziert und ich würde sagen: Schauen Sie, so wie Sie argumentieren, daß der Nationalsozialismus bagatellisiert werden könnte dadurch, daß man Vergleiche zieht, die unstatthaft sind – wer tut denn das eigentlich? Das sind diese international Einäugigen mit ihren zwei Fraktionen – übrigens die einzige funktionierende Internationale mit ihren zwei Fraktionen: die eine ist auf dem rechten Auge blind, die andere auf dem linken. Und beide mit ihren jeweiligen Vorzeichen verteidigen in einem Teil der Welt, was sie in dem anderen rechtfertigen.

Frage:

Können Sie das bitte konkretisieren?

Giordano:

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Ich habe mal in den 70er Jahren einen Fernsehfilm über die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion gemacht. Da hat mir die Springer-Presse auf die Schulter geklopft und die Linke hat mich verdonnert und verdammt. Ein Jahr später habe ich eine Sendung über die Menschenrechtsverletzungen jenseits der Sowjetunion, in der so genannten freien, der kapitalistischen Welt gemacht. Da war es vice versa, da war es genau umgekehrt. Da haben mir die Stalinisten applaudiert und die Springer-Presse war böse. Ich denke, wichtig ist, daß wir diese Grundprobleme von einer Position aus sehen: Die Humanitas ist unteilbar. Man kann nicht in einem Teil der Welt aus ideologischen oder welchen Gründen auch immer verteidigen, was man im anderen rechtfertigt. Der Nationalsozialismus war etwas absolut Singuläres in der Menschheitsgeschichte, das SED-Regime war ein scheußliches, ein widerwärtiges, ein niederträchtiges System. Die Bundesdeutschen waren – so schnell wie sie durch das Wirtschaftswunder wie Phoenix aus der Asche gestiegen sind – die eigentlichen Gewinner des Zweiten Weltkrieges. Und die DDR – sofern man davon ausgehen kann – die wirkliche Verliererin der Geschichte. Da geht ja bis heute.

Frage:

Hinsichtlich der juristischen Abwicklung der DDR-Vergangenheit kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier härtere juristische Maßstäbe angelegt worden sind und werden als bei der NS-Vergangenheit.

Giordano:

In einigen wenigen Fällen.

Frage:

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Die Befehlsempfänger des NS-Staates sind als Gehilfen verurteilt worden, die des SED-Regimes als Täter. Wie erklären Sie sich das. Sehen Sie hier nicht auch eine Verharmlosung?

Giordano:

Selbstverständlich. Und da sehe ich natürlich auch Befangenheiten, klar. Die Deutschen hatten größere Schwierigkeiten, sich mit den Verbrechen der politischen Rechten auseinanderzusetzen als mit links. Nur kann man beim besten Willen nicht sagen, daß die Täter aus der DDR bestraft worden sind. Davon kann ja überhaupt keine Rede sein. Was ich entdecke, ist, daß auch hier – von einigen wenigen Fällen abgesehen, was auch für die Zeit nach 1945/49 gilt – die Täter davongekommen sind.
Was geht denn hier vor? Schauen Sie, dieser scheiß Staat hat über 100 000 IM`s hervorgebracht. Auf der ganzen Welt gibt es so etwas nicht. Das gab`s in Polen nicht, das gab es noch nicht einmal in der Sowjetunion. Es war ein Repressionssystem. Nun stehen diese IM`s vor dem TV-Tribunal der Nation. Und ihre OibEs …

Frage:

… Offiziere im besonderen Einsatz …

Giordano:

… und die in der Verantwortungshierarchie viel höher standen, für die die IM`s nur Marionetten waren – was ist mit denen passiert? Gar nichts! Wieder hat sich, wenn ein Gewaltregime – welch unterschiedlicher Art auch immer – abgelöst wird durch eine Demokratie, gezeigt, daß die Täter davonkommen. Das gilt nicht nur für das Deutschland nach Hitler oder – von einiger Selbstjustiz der Partisanen abgesehen – das Italien nach Mussolini. Es gilt für das Spanien nach Franco, es gilt für das Portugal nach Salazar, es gilt für die faschistischen Regime in Lateinamerika, es gilt für die Sowjetunion. Nichts ist tabu da, nur die Bestrafung der Täter wird überhaupt nicht angegangen. Und hinsichtlich der DDR ist es – von einigen wenigen Fällen abgesehen – genauso. Krenz ist ins Gefängnis gekommen, na ja, es ist ja fast eine Karikatur. Ich möchte Sie mal fragen, was gewesen wäre, wenn dies keine demokratische, sondern eine Rote Wende gewesen wäre.

Frage:

Da scheiden sich die Geister.

Giordano:

Was scheiden sich da die Geister?

Frage:

Ob dann ehemalige Funktionsträger der Bundesrepublik in der DDR dann härter bestraft worden wären als die der DDR in der Bundesrepublik.

Giordano:

Gott sei dank, daß die Wende nicht so verlaufen ist, Gott sei dank, daß Deutschland hier nicht ganz DDR geworden ist. Bei allen Mängeln, Fehlern und Schwächen, die diese demokratische Republik hat: Der demokratische Verfassungsstaat ist von allen Staatenübeln der Menschheitsgeschichte noch das kleinste.

Frage:

Der Vorsitzende Richter im Honecker- und später im Krenz-Prozeß hat ja auch die SED-Diktatur mit der Nazidiktatur gleichgesetzt. Sehen Sie hier irgendwo eine typische Geisteshaltung in der deutschen Justiz oder eher einen Ausnahmecharakter?

Giordano:

Die deutsche Justiz ist ja nun ein Sonderfall, wie sich jetzt auch wieder mit der Beurteilung von Meinungsfreiheit – in die auch die Rechtsextremen einbezogen sind – zeigt. Das ist ein schmachvolles Kapitel nach 1945. Aber selbstverständlich, was die DDR-Justiz anbetrifft, war dies natürlich eine Terrorjustiz, nicht wie Freisler zwar, aber die Richter waren selbstverständlich nicht unabhängig – unter Hilde Benjamin schon gar nicht. Aber wenn dieser bundesdeutsche Richter die DDR mit der Nazizeit gleichgesetzt hat, dann stimmt das einfach nicht.

Frage:

Er ist ja dann auch wegen Befangenheit abgelöst worden.

Giordano:

Na sehen Sie, solche Korrekturmöglichkeiten hat die Demokratie dann immer noch. Aber ich denke gar nicht daran, nur die bundesdeutsche Justiz kritisch zu beurteilen, sondern selbstverständlich auch die DDR-Justiz. Mein Freund Erich Loest, mit dem ich zusammen am Institut für Literatur in Leipzig war, 1955/56, hat 8 Jahre Zuchthaus bekommen. Wofür!? Was ist das für ein System, das ihm 8 Jahre Zuchthaus gegeben hat!? Was ist das für ein System, das in seinem Justizbereich so gewaltet hat wie es gewaltet hat? Wir beide führen hier ein angstfreies Gespräch. Sie können sagen, was Sie wollen und ich kann sagen, was ich will. Das hätte man in der DDR nicht gekonnt – zu keinem Zeitpunkt.

Frage:

Die Schüsse an Mauer und Stacheldraht waren durch das Grenzgesetz der DDR gedeckt. Das Rückwirkungsverbot in unserer Verfassung umfaßt auch bestehende Gesetze.

Giordano:

Wenn Hitler den Holocaust in ein Gesetzt gefaßt hätte, wäre es dann Recht gewesen?

Frage:

Selbstverständlich nicht. Hitler hat unvergleichbar schlimmere Verbrechen begangen und begehen lassen als es sie in der DDR überhaupt gab.

Giordano:

Das ändert doch nichts daran, daß es Verbrechen gab, die bestraft werden müssen.

Frage:

Das ist richtig.

Giordano:

Die Römer sagten: nulla poena sine lege – gut und richtig. Wissen Sie, das galt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, bis zu den Ismen des 20. Jahrhunderts. Die haben alles aufgehoben, das heißt: Ohne das Nürnberger Statut hätte es keine Grundlage gegeben, daß diese Oberverbrecher Kaltenbrunner, Heß – und wie diese Kröten alle hießen – hätten bestraft werden können. Denn es gibt kein Bürgerliches Gesetzbuch, in dem staatliche Verbrechen geregelt sind. Das werden Sie vergeblich suchen, das gibt es nicht. Das 20. Jahrhundert hat es aber mit sich gebracht, daß der Staat der Verbrecher ist; faschistische Staaten, nationalsozialistische Staaten, stalinistische Staaten sind Verbrecherstaaten gewesen. Dafür gibt es kein Gesetz. Es war also richtig, daß durch das Nürnberger Statut rückwirkendes Recht gesetzt worden ist; denn kennen Sie einen Paragraphen, der so ausgelegt war, daß der Holocaust bestraft werden konnte? Sechs Millionen Menschen sind umgebracht worden – gab es einen solchen Paragraphen, der dies berücksichtigt?

Frage:

Nein. Mit der Radbruchschen Formel war es dann doch möglich, staatliches Unrecht zu ahnden, wenn es in einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit stand. Das hat man nach 1945 hier und da auch gemacht.

Giordano:

Man hat aber auch rückwirkendes Recht gesetzt – und vollkommen richtig, weil Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gar nicht als Straftatbestände gefaßt waren. Was die DDR anbetrifft: Was heißt denn hier, dieser Staat mußte eine Mauer bauen, damit ihm die Leute nicht weglaufen? Was ist daran, verdammt nochmal, zu verteidigen? Dieser Staat wird auch nicht besser dadurch, daß die Justiz der Bundesrepublik sich dann anders verhalten hat, schärfer als gegen die NS-Verbrecher.

Frage.

Im Jahre 1950 hat die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert, in der das Rückwirkungsverbot relativiert ist. Also daß sich niemand mehr auf Handlungen und Unterlassungen berufen kann, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren. Auch eigene Gesetze, die dazu im Widerspruch stünden, könnten daran nichts ändern. Und ausgerechnet dieses relativierte Rückwirkungsverbot in der Konvention hat die Bundesrepublik im Jahre 1952 ausdrücklich nicht in ihr innerstaatliches Recht transformiert, einen ausdrücklichen Vorbehalt dagegen erklärt. Das gilt bis heute noch. Es wird gesagt, daß die Nazis dadurch nachträglich geschützt werden sollten vor Strafe. Aber in Bezug auf die DDR wird das Rückwirkungsverbot, obwohl der Vorbehalt von 1952 bis heute noch gilt, quasi außer Kraft gesetzt bzw. es heißt, das Rückwirkungsverbot sei überhaupt nicht betroffen, weil die Gesetze der DDR, namentlich das Grenzgesetz, mit rechtswidrigen Befehlen überlagert worden seien.

Giordano:

Mit anderen Worten, Sie wollen, daß die Täter aus der ehemaligen DDR genauso behandelt werden wie die NS-Täter, nämlich mit Nachsicht?

Frage:

Nein.

Giordano:

Doch, das ist die Logik dessen, was Sie hier sagen.

Frage:

Ich maße mir kein Urteil über Schuld und Unschuld an. Damit müssen die Juristen fertig werden. Das verstehen die als ihre Aufgabe. Ich meine nur, hätte man die NS-Täter, auch Richter des Volksgerichtshofes mit derselben Energie verfolgt wie Funktionsträger und andere aus der ehemaligen DDR, dann hätten Leute wie Rehse und andere nicht jahrzehntelang frei und ungestraft herumlaufen können. Kein einziger Richter des Volksgerichtshofes wurde verurteilt und Rehse verstarb vor Rechtskraft des dann doch gegen ihn ergangenen verhältnismäßig milden Urteils. Ich sage ja nicht, man muß das eine tun und das andere unterlassen.

Giordano:

Aber genau das wollen Sie ja. Sie machen der bundesdeutschen Justiz zum Vorwurf, daß sie gegen die Nazis zu milde gewesen ist – richtig! Wem sagen Sie das – dem Autor der „Zweiten Deutschen Schuld“! Aber genau das wollen Sie auch gegenüber der Aufarbeitung von DDR-Unrecht.

Frage:

Es scheint, daß in der Bundesrepublik Deutschland das Recht nur dann aus der Schublade gezogen wird, wenn es gebraucht wird, wo es dagegen bedeutend mehr gebraucht würde, die Schublade wieder geschlossen wird. Aus welchen Gründen auch immer.

Giordano:

Mag sein, daß die Bundesrepublik so ist.

Frage:

Ich meine das jetzt bezogen auf die NS-Aufarbeitung.

Giordano:

Ich verstehe Sie so – der ganze Tenor Ihrer Argumentation läuft darauf hinaus -, die Nazis sind von der deutschen Justiz milde behandelt worden, warum werden die Täter aus der DDR nicht auch milde behandelt?

Frage:

Das war auch nicht meine Absicht.
Wie erklären Sie sich kollektive Affekte, wie sie in bezug auf die Nazidiktatur von Ihnen beschrieben wurden, psychologisch? Verschließen die Menschen grundsätzlich die Augen vor dem Grauen oder wollen sie eine Sympathie damit ausdrücken?

Giordano:

Also meine kollektiven Affekte, die sind kollektiv: Es waren nicht 6 Millionen Menschen, die umgebracht worden sind, sondern die Menschen fühlen sich offenbar getröstet, wenn es weniger waren.

Frage:

Einer ist einer zuviel.

Giordano:

Die Leute der kollektiven Affekte sind Verdränger: Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, die Täter waren oder Mittäter in dieser oder jener Verantwortungshierarchie, in dieser oder jener Position. Jedenfalls ist die Verdrängung ein kollektives Verhalten der damaligen Deutschen gewesen – was mir noch einmal die Erklärung gegeben hat für Hitlers Triumph posthum, was also heißt: Eine überwältigende Mehrheit stand hinter Hitler, und es war eine funkensprühende Liaison; es hat in der deutschen Geschichte nie wieder eine solche Übereinstimmung zwischen Volk und Regierung gegeben wie damals in diesen 12 Jahren. Und danach ist verdrängt worden. Davon ist die politische Kultur der Bundesrepublik bis heute geprägt. Natürlich sind in der Zwischenzeit neue Generationen da mit einem anderen Lebensgefühl, aber wie Sie schon gesagt haben, ist kein einziger Richter rechtskräftig verurteilt, für 32000 aktenkundig politische Todesurteile (Kopf ab, Kopf ab, Kopf ab) ist kein einziger Richter zur Verantwortung gezogen worden.

Frage:

Gibt es für Sie so etwas wie die Gnade der späten Geburt oder ist das auch wieder eine Art von Verdrängung von Verantwortlichkeit?

Giordano:

Nein, das Wort hat schon was für sich. Ich weiß nicht, ob Kohl das so gemeint hat, aber es ist selbstverständlich eine Gnade, wenn man nicht hineingeboren und hineingestellt wird in Situationen wie das Dritte Reich, wie der Aggregatzustand des Dritten Reiches gewesen ist, sondern es ist eine Gnade, daß diese Generation, die das überlebt hatten oder die danach geboren sind – das gilt insoweit nicht für die DDR – zunächst einmal hier 50 Jahre Demokratie, Freiheit und Wohlstand hatten. Das ist schon selbstverständlich eine Epoche der deutschen Geschichte, die sich natürlich ganz erheblich abhebt von dem, was vorher war. Und da würde ich schon sagen, ob Gnade das richtige Wort ist, aber diese Menschen konnten Freiheit und Demokratie erleben, konnten darin groß werden und Wohlstand erfahren. Damit ist es jetzt zu Ende, die Schönwetterperiode ist jetzt vorbei, es ändert aber alles nichts daran, daß es in Europa 60 Jahre Frieden gegeben hat – ein Zustand, den es vorher nie gegeben hat -, allerdings um den furchtbaren Preis zweier Weltkriege, an denen Deutschland einmal hauptbeteiligt und einmal alleine beteiligt war.

Frage:

Daß es mit der Schönwetterperiode vorbei ist, sieht man das auch daran, daß im Saarland die NPD aus dem Stand heraus auf 4 Prozent der Wählerstimmen gekommen ist, der NPD in Sachsen werden sogar 10 Prozent der Stimmen vorausgesagt, auch in Brandenburg soll die DVU voraussichtlich wieder im Landtag vertreten sein. Gerade in ehemaligen antifaschistischen Gebieten schießen die Rechten wie die Pilze aus dem Boden. Wie erklären Sie sich das – sind das auch kollektive Affekte und haben die Menschen immer noch nicht begriffen, was uns die NS-Zeit eingebrockt hat.

Giordano:

Das erst einmal. Ich würde schon sagen, Hitler ist militärisch geschlagen, aber ideologisch oder geistig oder besser ungeistig ist er nicht geschlagen. Da spukt vieles in den Köpfen und Herzen der Menschen. Oft ohne daß sie sich des Ursprungs bewußt sind. Ich denke, die Gefahr, daß diese Rechten stärker werden als vorher, ist groß, besonders auf dem Territorium der ehemaligen DDR gegeben, was auch kein Zufall ist. Diese Menschen dort hatten ja überhaupt gar keine Gelegenheit, demokratisch sozialisiert zu werden, was immerhin in der Bundesrepublik über 40 Jahre ja geschehen ist – mehr oder weniger mangelhaft, aber doch immerhin. Wir werden sehen, was kommt. Ich sage Ihnen nur eines: Wenn in Deutschland diese Kräfte eine bestimmte Prozentzahl übersteigen, dann wird sich ganz schnell zeigen – bei Landtagen oder im Bundestag bei den Bundestagswahlen -, daß das Erinnerungsvermögen des ehemals deutsch besetzten Europa unter einer ganz, ganz dünnen Decke liegt. Und das nicht dasselbe ist mit Le Pen in Frankreich, der 14 oder 15 Prozent hat, und Frey und Co. hier bei uns. Ich hoffe, daß es in Deutschland nicht soweit kommt. Die Folgen wären fürchterlich. Auch wirtschaftlich würde Deutschland natürlich schwer verwundbar als Exportmacht. Ich hoffe, daß dies nicht der Grund sein wird, daß die Deutschen nicht wählen werden, weil es für die demokratische Republik keine Alternative gibt.

Frage:

Sehen Sie denn eine Gefahr, daß die Rechten noch mehr anwachsen? Oder sehen Sie überhaupt einen Zusammenhang mit dem Anwachsen von Rechten in der ehemaligen DDR und der desolaten wirtschaftlichen Situation dort?

Giordano:

Ja, damit muß man in Deutschland immer rechnen. Wir wissen ja, wenn solche sozialen Nöte da sind, es immer so war, daß die Rechten Zulauf hatten. Einmal sind sie in der Zweiten Hälfte der 60er Jahre in die Landtage gekommen, sie sind auch in die Landtage von Sachsen-Anhalt und Brandenburg gekommen, haben sich aber selber kaputtgemacht. Es sind Leute, die kein Hirn und keinen Verstand haben. Viel gefährlicher sind die Mäzene und die Finanziers und Ideologen der Jungen Freiheit. Die sind ja viel gefährlicher als diese Gewalttäter an der Front des Ausländerhasses und des Antisemitismus. Aber im Großen und Ganzen, denke ich, sind es bis jetzt Mikroziffern gewesen. Was die Situation verändern könnte unter diesen schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, die da sind und bleiben werden, ist, daß niemand ein Rezept weiß, wie dagegen angegangen werden kann. Wenn in einer solchen Situation so etwas wie eine charismatische Führerfigur entstehen könnte, sagen wir mal wie Haider in Österreich, dann wäre es möglich, daß diese zersplitterte Rechte –partiell jedenfalls – geeint werden könnte. Dann könnten die die 5 Prozent-Klausel möglicherweise übersteigen. Auch was die Bundestagswahl anbetrifft, und dann hätte die Republik ihr Gesicht verändert. In dem Moment, wo die Leute einzögen in den Bundestag, wäre das nicht mehr die gleiche Republik. Ich will hier nicht den Pessimisten machen und Schwarzzeichner – wir werden sehen, was kommt.

Frage:

Braucht der Mensch eine starke Hand?

Giordano:

Ich würde sagen, der starke Mann hat nun gezeigt, wie stark er sein kann, so stark, daß es am Ende des Zweiten Weltkrieges 55 Millionen Tote gegeben hat. Und zwar ausgelöst durch die Aggression Hitlerdeutschlands auf Osteuropa, auf die Welt und auf die Menschheit. Der überwältigende Teil der Deutschen heute will den starken Mann nicht. Die Deutschen von heute sind die unkriegerischsten Deutschen in ihrer ganzen Geschichte. Sie sind in ihrer Mehrheit pazifistisch. Was sie in schwere Bedrängnis bringen könnte, wäre, wenn internationale Begebenheiten, um Menschenrechte zu verletzen oder um sie wiederherzustellen, auch den deutschen militärischen Anteil fordert. Das könnte ja durchaus sein. Das wäre unter UNO-Oberaufsicht natürlich das Beste.
Eine starke Hand kann man nur mit einem klaren Nein ablehnen, was nicht bedeutet, daß in Zeiten der Unsicherheit – ich spreche jetzt unter den Bedingungen der demokratischen Republik – eine straffe, eine Führung, die überzeugend ist, nicht schlecht wäre. Aber das würde ich nicht verwechseln mit dem Ruf nach dem starken Mann. In Deutschland gibt es, denke ich, 12 bis 13 Prozent, die diesen Ruf erheben. Das ist nicht wenig. Wir wissen ja, daß 13 bis 14 Prozent der Bevölkerung seit Jahren ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. In den Wahlziffern schlägt sich das nicht nieder, denn die Rechten haben ja immer nur 3 oder 4, in den seltenen Fällen über 5 Prozent der Wählerstimmen erreicht. Aber diesen Stamm von Rufern nach dem starken Mann, den gibt es. Und die Gefahr, daß wir Zustände kriegen, wo dieser Ruf lauter wird, der ist gegeben. Nur denke ich, daß die Mehrheit der Deutschen da nicht mitmachen wird.

Interview: Dietmar Jochum, TP-Berlin, 15. September 2004

Foto/Bildquelle: von MMH (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

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