Antrittsbesuch des Bundespräsidenten beim Bundesverfassungsgericht.

Auf Einladung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle besuchte heute Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverfassungsgericht. Er wurde von Präsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof und den weiteren Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts empfangen. Im Rahmen einer Begegnung mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesverfassungsgerichts hielt der Bundespräsident eine Ansprache.

Rede des Bundespräsidenten.

„Vor ein paar Jahren fand ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen wunderbaren Artikel mit der Überschrift „Wertschätzender Umgang der Verfassungsorgane“. Ich will meinen Teil dazu beitragen, dass wir dieses in ein paar Jahren als Ergebnis unserer Zusammenarbeit beidseitig feststellen können. Denn was Günter Bannas in seinem Artikel möglicherweise etwas ironisch anmerken wollte, trifft einen ganz wesentlichen Punkt in unserem Verfassungsleben: Das Grundgesetz etabliert ein System der gegenseitigen Mäßigung und Kontrolle, um Konflikte zwischen den politischen Akteuren in geordnete Bahnen zu lenken. Indes: Wir wissen, dass der Konflikt nicht der Normalfall unseres politischen Lebens und des Verfassungslebens ist. Der Normalfall ist der gegenseitige respektvolle Umgang als gemeinsame Basis für ein zivilisiertes Miteinander.

Von diesem Normalfall handelt das Grundgesetz allerdings nicht. Es baut aus leidvollen Erfahrungen auf rechtsstaatliche Sicherungen. Die wirkmächtigste ist das Bundesverfassungsgericht. Es ermöglicht vor allem den Bürgerinnen und Bürgern, staatliches Handeln am Maßstab der Verfassung kontrollieren zu lassen. Aber jenseits dieser institutionellen Sicherungen erwartet unsere Verfassung – das ist meine feste Überzeugung – dass die Verfassungsorgane nicht gegeneinander agieren, sondern miteinander für das bonum commune arbeiten.

Der wertschätzende Umgang ist maßgeblich durch ungeschriebene Übungen und Regeln geprägt. Deshalb besucht der Bundespräsident auch das Bundesverfassungsgericht zu Beginn seiner Amtszeit. So bin ich heute sehr gerne hier und freue mich darüber, dass Sie mich – lieber Herr Voßkuhle – so herzlich begrüßt haben. Und ich bin natürlich auch hier, weil ich die besonders große Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für unsere Rechtskultur, für das Rechtsbewusstsein unserer Bevölkerung und die prägende Kraft für die Verfassungsentwicklung unseres Landes kenne – eine Bedeutung, die inzwischen über die Grenzen Deutschlands hinausreicht.

Vor meinem Leben als Bundespräsident bin ich bekanntlich viel durch die Welt gereist. Häufig bin ich gefragt worden: Was begründet eigentlich den Erfolg des deutschen Rechtsstaates? Und: Warum befolgen die Bürgerinnen und Bürger die Gesetze?

Eine Antwort hierauf ist nicht banal. Recht ist eine Errungenschaft und eine kulturelle Leistung. Ein Blick durch die Welt zeigt uns allerdings, dass diese Kulturleistung nicht überall so ausgeprägt ist wie bei uns. Was macht also die Attraktivität eines Rechtsstaates aus?

Recht schafft Erwartungssicherheit: Rechtsnormen gestalten das Zusammenleben, dirigieren das Verhalten der Menschen. Die Einhaltung rechtlicher Normen gibt uns Sicherheit, lässt uns mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Das gilt für verfassungsrechtliche Bestimmungen in besonderem Maße: Sie geben uns die Gewissheit, dass nicht morgen unsere Freiheit eingeschränkt, den Bürgern der Mund verboten wird oder die Menschen gepeinigt werden, weil sie etwa eine andere Religion ausüben. Und wer gegen Regeln verstößt, muss mit den Konsequenzen rechnen.

Die Grundlage hierfür sind Rechtstreue und Rechtsgehorsam, also die Bereitschaft, sich an Regeln zu halten. Dieses rechtstreue Verhalten durchzieht unsere Gesellschaft vom privaten Vertrag bis hin zum Verhältnis der Bürger zum Staat und der staatlichen Akteure untereinander. Das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger wird dadurch gestützt, dass sie bei unabhängigen staatlichen Gerichten rechtliches Gehör erhalten – also bei Institutionen, die sich selbst für ihre Entscheidung allein am Recht orientieren. Und dieses System einer „Herrschaft des Rechts“ wird dadurch vollendet, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur über Streitigkeiten der Verfassungsorgane untereinander entscheidet, sondern vor allem auch für die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit bietet, ihre Grundrechte geltend zu machen: Grundrechte stehen eben nicht nur auf dem geduldigen Papier, sondern können auch durchgesetzt werden.

Erfolg und Ansehen des Bundesverfassungsgerichts müssen uns ein wenig erstaunen: Denn nach den Statistiken ist die Feststellung von verfassungswidrigem staatlichen Verhalten keineswegs an der Tagesordnung, sondern die Ausnahme. Gesetzgeber und Regierung wissen: Das Bundesverfassungsgericht scheut nicht vor Entscheidungen mit unangenehmen und weitreichenden Konsequenzen zurück. Dort, wo Sie Fehlentwicklungen und Korrekturbedarf sehen, ziehen Sie klare Grenzen: Wie zuletzt als Sie das Kernbrennstoffsteuergesetz für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt haben. Daneben haben Sie aber auch immer wieder die Informations- und Beteiligungsrechte des Parlaments betont. Mit Ihren Entscheidungen, zum Beispiel über Unterrichtungsrechte im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus oder Rüstungsexportgenehmigungen, haben Sie zugleich die Demokratie als solche gestärkt. Sie haben der Regierung gezeigt: An der Demokratie zu sparen, erweist sich am Ende als zu „kostspielig“. Dies alles führt letztlich dazu, dass schon die bloße Existenz des Verfassungsgerichts eine Art „Verfassungsprävention“ entfaltet, die die staatlichen Organe dazu veranlasst, sich an Verfassung, Recht und Gesetz zu halten. Entgegen einem landläufigen Eindruck können Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass die staatlichen Organe weitgehend rechtlich einwandfrei handeln. Der Erfolg des Bundesverfassungsgerichts besteht also nicht darin, möglichst viele Gesetze, Urteile oder staatliche Handlungen für verfassungswidrig zu erklären. Seine Rechtsprechung verdeutlicht bei genauer Betrachtung, dass die staatliche Ordnung in Deutschland nach den Vorgaben der Verfassung funktioniert.

Widerstände gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Kritik an Ihren Entscheidungen mussten Sie immer wieder erfahren. Ihrer Beliebtheit und dem Vertrauen, das Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern genießen, hat das keinen Abbruch getan. Und Sie haben die Kritik auch immer ausgehalten, wussten und wissen immer angemessen und selbstbewusst hiermit umzugehen.

Die Herrschaft des Rechts, gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns, der selbst der Gesetzgeber unterworfen ist, sind also Errungenschaften, die unser Verfassungssystem stabilisieren. Sie sind sogar völlig unverzichtbar, weil sie ein Wesenskern des freiheitlichen Rechtsstaates sind. Deshalb erstaunt es auch kaum, dass diktatorische oder autoritäre Regime als einen der ersten Schritte die Unabhängigkeit der Gerichte einschränken, rechtsstaatliche Maßstäbe an ihre Herrschaftssysteme anpassen und unabhängige Amtsträger durch willfährige ersetzen. Institutionelle Sicherungen reichen allein nicht. Es kommt – und das ist mir sehr wichtig – also gerade auf das rechtsstaatliche Bewusstsein des einzelnen Beamten, der Richterin und des Soldaten an. Sie sind es, die Normen und Vorschriften mit freiheitlichem Leben füllen. Jede Frau und jeder Mann muss da, wo sie stehen, „Haltung“ zeigen.

Wie wichtig eine in diesem Sinne unabhängige Justiz ist und wie sehr autoritäre Systeme danach trachten, diese unabhängige Rechtskontrolle möglichst umgehend auszuschalten, sehen wir leider in jüngsten Entwicklungen, sogar in europäischen Nachbarstaaten. Es entspricht nicht unserer westlichen Werteentwicklung und Rechtskultur, wenn die Sicherungen des freiheitlichen Rechtsstaats durch eine falsche Betonung demokratischer Mehrheitsverhältnisse beseitigt werden sollen. Wir haben es mit einer „Hypertrophie der Demokratie“ zu tun, wenn rechtstaatliche Kernelemente mit dem Argument, man habe ja die Mehrheit bei Wahlen errungen und das Volk stehe hinter der Regierung, ausgehebelt werden. Demokratie wird mit einem solchen Argument geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Die liberale westliche Demokratie, wie sie den europäischen Rechtskulturen zugrunde liegt und die man als gemeineuropäische Errungenschaft bezeichnen kann, beinhaltet Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Minderheitenschutz, Grundrechtsgeltung und: unabhängige Gerichte.

Ich weiß, lieber Herr Voßkuhle, lieber Herr Kirchhof, meine Damen und Herren Richterinnen und Richter, dass Sie diese Entwicklung in Europa umtreibt und zutiefst beunruhigt. Auch ich sehe die Entwicklung mit tiefer Besorgnis, und bin froh darüber, dass Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten im Verbund der europäischen Verfassungsgerichte für eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz einsetzen. Ich kann Sie nur auffordern: Lassen Sie nicht nach. Der Bundespräsident steht an Ihrer Seite.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der Fragen, die uns gemeinsam bewegen. Auch wenn wir nicht alarmistisch sein müssen, so sollten wir aufmerksam und wachsam sein. Die Errungenschaften unserer freien Gesellschaften und Staaten sind keine Selbstverständlichkeit. Sie werden in Frage gestellt, sind Anfechtungen ausgesetzt. Deshalb müssen wir nachhaltig für sie werben und sie – wo notwendig – auch verteidigen.

Ich bin gespannt, wie Sie alle über diese Fragen denken und freue mich auf unseren Gedankenaustausch. Und ich bin neugierig auf die Gespräche, die ich mit Ihnen allen – auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verfassungsgerichts – gleich führen kann.

Nochmals: Danke für das herzliche Willkommen – auch im Namen meiner Frau!“

Fotoquelle (Steinmeier): By Joi Ito from Inbamura, Japan; cropped and edited 2007-10-11 by Daniel Case – Frank-Walter Steinmeier, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2897172

Fotoquelle (Voßkuhle): By Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52030145

Collage: TP Presseagentur

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