Lesung mit Hanns Zischler bei der SPD-Fraktion im Bundestag.

Einen Tag nach der Enttarnung von Günter Guillaume als Stasi-Agent kam die SPD-Bundestagsfraktion im April 1974 zu einer Krisensitzung zusammen. Die Abgeordneten waren aufgewühlt und verunsichert: Ist die Enttarnung des Spions im Kanzleramt Ausdruck eines langjährigen Versagens des Verfassungsschutzes – oder ein „bemerkenswerter Erfolg“ der Sicherheitsbehörden? Wie soll die Fraktion mit dem Vorwurf umgehen, „kommunistische Unterwanderung“ zu dulden? Und welche Auswirkungen hat die Enttarnung auf die sozialdemokratische Ostpolitik?

Szenenwechsel: Im März 1971 diskutierte die Fraktion über die Modernisierung des Ehe- und Scheidungsrechts. Mit der Reform wurde das gesetzlich verankerte Modell der „Hausfrauenehe“ durch das Partnerschaftsprinzip ersetzt. Auch in der SPD-Fraktion war Gleichstellung damals noch keine Selbstverständlichkeit. Abgeordnete mahnten, „dass jetzt nicht die Benachteiligung des Mannes kommt“. Am Ende kam ein historischer Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung der Frau, heißt es.

Bislang unveröffentlichte Sitzungsprotokolle der SPD-Bundestagsfraktion geben Einblick in diese und andere interne Debatten der SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) hat in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung begonnen, diese einzigartigen Quellen zu erschließen, originale Tonaufnahmen zu transkribieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Protokolle sind ein lebendiger, spannender, zuweilen auch amüsanter Spiegel der Zeitgeschichte.

Gestern gab’s von der SPD-Bundestagsfraktion eine Einladung zu einer szenischen Lesung mit Auszügen aus den beiden genannten Fraktionssitzungen. Vorgelesen hat der Schauspieler Hanns Zischler.

Verlesung von Protokollen über die Guillaume-Affäre.

Wie hat Herbert Wehner, damals Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, von der Festnahme Guillaumes erfahren (einige Szenen aus den Protollen, die von Hanns Zischler verlesen wurden)?

Herbert Wehner:  „…ich habe das selbst in der »Bild«-Zeitung gelesen und dann in zunehmendem Maße durch Agenturmeldungen, die natürlich auch in den Rundfunk kommen und jeden Morgen das Bild der Zeitungen besonders prägen werden, die Ereignisse um die Festnahme von Guillaume auch zum Gegenstand der Gespräche vieler Genossen geworden.  […]  Ich habe Gerd Jahn gebeten, der ja auch bei dieser Sitzung war, als Bundesminister der Justiz es hier zu übernehmen, zur Sache und zum Hergang kurz informierend zu sprechen. Das tue ich deshalb und habe ich deshalb getan, weil der Bundesminister der Justiz verantwortlich ist für die Bundesanwaltschaft, – ja, für den Generalbundesanwalt und seine Behörde und er muss natürlich, darum bitte ich, von vornherein die unvermeidliche Rücksicht darauf nehmen, dass ein seit gestern in Haft befindlicher Mann nun zwar einerseits die Schlagzeilen bilden und füllen wird, andererseits aber vieles, das bei bisherigen Ermittlungen, die ja erst seit einem Tag als Ermittlungen geführt werden können, einigermaßen bestätigt worden ist. Diese Untersuchungen werden ja weitergeführt. Aber zu dem Hergang hatte Gerd Jahn sich freundlicherweise erklärt, kurz informieren und berichten zu wollen.  Gerhard Jahn: Genossinnen und Genossen, der Generalbundesanwalt hat heute Morgen um elf eine Verlautbarung folgenden Wortlautes gegeben: »Nach Vorermittlungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundeskriminalamtes – Abteilung Staatsschutz in Bonn-Bad Godesberg wurden gestern mehrere Personen vorläufig festgenommen, darunter der seit 1970 im Bundeskanzleramt tätige höhere Angestellte Günter Guillaume. Dieser ist nach eigenen Angaben Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Er ist 1956 als angeblicher Flüchtling in die Bundesrepublik gekommen. Die Beschuldigten werden wegen Verdachts langjähriger geheimdienstlicher Tätigkeit dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zugeführt. Gegen den Angestellten Guillaume ist inzwischen Haftbefehl ergangen. Die Ermittlungen dauern an.« Hierzu hat der Sprecher der Bundesregierung eine Erklärung abgegeben, die folgendermaßen lautet…:

»Herr Guillaume war seit 1970 im Bundeskanzleramt tätig. Seit 1972 war er als Mitarbeiter im Kanzlerbüro mit der Organisation von Parteiterminen und Reisen des Bundeskanzlers betraut. Zu seinen Aufgaben gehört ferner die Erledigung von Schriftverkehr mit Parteigliederungen und Angehörigen. Die Bearbeitung von amtlich geheim gehaltenen Vorgängen gehörte nicht zu seinen Aufgaben.« Hierzu erklärt der Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Grabert: »In unserem Staat wird und muss jeder Fall nachrichtendienstlicher Agententätigkeit ohne Ansehen der Person und des Amtes uneingeschränkt aufgedeckt und verfolgt werden. Ich begrüße, dass es unseren Sicherheitsbehörden gelungen ist, diesen Fall aufzuklären und damit weiteren Schaden abzuwenden. Ihnen ist für ihre Arbeit zu danken. Das Bundeskanzleramt hat ihnen bei ihren Ermittlungen jede Hilfe geleistet und wird das auch im weiteren Gang des Verfahrens tun.« Der ganze Vorgang ist von langer Hand vorbereitet gewesen, Genossinnen und Genossen. Es hat Kenntnisse oder besser gesagt Verdachtsmomente schon seit einigen Monaten gegeben, die zu einer entsprechenden Reaktion geführt haben. In den letzten Wochen haben sich diese Verdachtsmomente so verdichtet, dass ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren bei dem Generalbundesanwalt eingeleitet werden musste. Gestern Morgen um 6.30 Uhr ist dann mit den – wie es so schön heißt – Exekutivmaßnahmen begonnen worden. Es hatten zunächst richterliche Durchsuchungsbeschlüsse hinsichtlich der Wohn- und Arbeitsräume vorgelegen. Betroffen sind außer Guillaume seine Ehefrau, die Mutter der Frau Guillaume und ein Ehepaar Förster. Der Mann Förster ist bei der Landesvertretung Hessen hier als Angestellter beschäftigt. (Zwischenruf.) Bitte? (Zwischenruf.) Nein.  (Zwischenruf.) Nein, nein. Er ist bei der Dienststelle des Bevollmächtigten des Landes Hessen beim Bund als Angestellter tätig gewesen bisher. (Zwischenruf.)“

Fraktionssitzung: 25.04.1974 (Tonbandtranskript)

Weiter:

„Und die Frau Guillaume auch. Die Vorermittlungen haben den Verdacht ergeben, und das ist in den ersten Vernehmungen bestätigt worden, dass die Beschuldigten – alle Beschuldigten – bereits im Jahre 1956 in die Bundesrepublik eingereist sind, um im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR hier nachrichtendienstlich tätig zu werden, und zwar in erster Linie mit der Zielrichtung, die Sozialdemokratische Partei und vor allen Dingen deren Führungsspitze auszuspähen.“

Fraktionssitzung: 25.04.1974 (Tonbandtranskript)

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des Chefs des Bundeskanzleramtes – euch heute noch in die Fächer gelegt werden. Dann habt ihr das beides im Wortlaut zur Verfügung.  Herbert Wehner: Ja, wie gesagt, werden wir außerdem, greift auf das zurück, was Börner gesagt hat, eine Übersicht machen, die es erleichtert, dass man auf Fragen antwortet. Nur ich habe die Sache deswegen in Erinnerung, in Erwägung gebracht, die Hessen Süd zugeschrieben wird, weil dort dann die Sache politisiert gewertet wird, nämlich das seien eben die rechten Scharfmacher, die auf diese Weise. Wenn wir damit anfangen oder uns davon anstecken lassen, sind wir ganz schnell völlig durcheinander. Wir werden dann die Narren genannt von dem, der eben gesprochen hat, vorher und von Ehrenberg. Das ist das Letzte, um nicht zu sagen das Mieseste, was man machen kann, wenn ein Malheur passiert ist. Peter Würtz. Peter Würtz: Genossinnen und Genossen, die Erklärung von Georg Leber scheint mir außerordentlich hilfreich und ich meine, sie würde morgen im Plenum, falls es zur Aktuellen Stunde kommt, uns sicher helfen. Paul Neumann hat diesen Vorschlag gemacht und ich meine, ich bin der Auffassung, dass viele überzeugt sein werden, wenn der Verteidigungsminister erklärt, er hat guten Glaubens hier jemanden empfohlen, dann hilft uns dies auch draußen.  Herbert Wehner: Ja, auf die Aktuelle Stunde müssen wir uns eh vorbereiten, das heißt einige müssen sich darauf vorbereiten. – Keine weiteren Wortmeldungen? Dann zur Fortsetzung im Plenarsaal.

Beifall und Lachen bei den Zuhörern gestern beim Vortrag von Hanns Zischler.

Foto 1 (v.l.n.r.): Christine Lambrecht, MdB, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion; Dr. Bettina Tüffers, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.; Prof. Dr. Marie-Luise Recker, Vorsitzende der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischern Parteien e.V.; Hanns Zischler, Schauspieler und Dramaturg; Dr. Sven Jüngerkes, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.; Prof. Dr. Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert- und Greta-Wehner-Stiftung; Ute Welty (Deutschlandradio).

Foto 2: Hanns Zischler

Fotoquellen und Collage: TP Presseagentur Berlin

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