„Ich mache, was ich will und trotzdem gibt’s die Mauer zu Recht“.

TP-Interview mit Florian Havemann.

Frage:

Herr Havemann, bei einer Straßenumfrage anläßlich der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und PDS in Berlin, sagte ein Passant gegenüber einem Berliner Fernsehsender: Die jetzt noch PDS wählen, denen ging es in der DDR noch nicht schlecht genug.
Sie, Herr Havemann, haben im Berliner Wahlkampf Gregor Gysi, also damit auch zwangsläufig die PDS beworben. Ging es Ihnen trotz allem, was Sie in der DDR bitter erfahren mußten, noch zu gut im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat?

Havemann:

(Starke Erheiterung) Witzige Frage. Also, ich kenne den Gregor Gysi schon lange aus der DDR und bin natürlich durch meine Familiengeschichte mit ihm verbunden. Als er mich fragte, ob ich einen solchen Aufruf unterschreiben würde, in dem ja nur behauptet wird, daß man sich vorstellen könne, er würde als Regierender Bürgermeister funktionieren, er könne so ein Amt ausfüllen, sah ich überhaupt keinen Grund, da Nein zu sagen.
Im nachhinein muß ich aber feststellen, daß ich die Bedeutung solcher Art von Resolutionen, die ich lächerlich finde, unterschätzt habe. Ich habe ja auch Ärger gekriegt deswegen, daß ich da als Verfassungsrichter so etwas unterschrieben habe. Aber ich kann es nicht nachvollziehen, daß das irgend jemand hat beeindrucken können. Ich sah nur überhaupt keinen Grund, diese Aussage zu verneinen. Was aber nicht bedeutet, daß ich die PDS gewählt hätte.

Frage:

Die Wahlen sind ja geheim… Aber für viele ist die PDS ja schlechthin die Nachfolgepartei der SED?

Havemann:

Ja, sicher ist sie das auch, aber es ist doch klar, wenn eine Partei über zwei Millionen Mitglieder hatte – wieviel haben Sie heute? -, daß das etwas ganz anderes ist – schon allein deswegen. Und die Opportunisten, die diese Partei so unerträglich gemacht hatten im Osten, die sind ja in der Regel nun alle da raus, und das heißt, schon deshalb etwas ganz anderes geworden.
Nun verfolge ich so ein bißchen die Auseinandersetzung, die es sozusagen über die Jahre hinweg innerhalb der Partei gegeben hat, und da würde ich schon sagen, daß das zum Teil erstaunlich ist, wie selbstkritisch die da mit sich selber umgehen, für das, wofür sie verantwortlich sind. Das kenne ich von keiner anderen Partei. Das hat natürlich auch damit zu tun, daß das zum großen Teil eben Intellektuelle sind, die sich auch vor sich selber rechtfertigen wollen und sich was erklären wollen und einen bestimmten Standard halten wollen da drin, mehr denn je, denn sie konnten ja zu Ostzeiten ihrem Standard gar nicht entsprechend sein.

Frage:

Für viele gehen sie aber nicht selbstkritisch genug mit sich um?

Havemann:

Dieser Vorwurf ist immer berechtigt, er kann nie aus der Welt geschafft werden. Da kann man nur die Frage stellen, ob denn die, die einen solchen Vorwurf erheben, diese Auseinandersetzung, die es innerhalb der PDS gegeben hat, genügend verfolgt haben.
Das andere ist: Es gibt natürlich diesen Bezug auf die Vergangenheit, aber nun muß man feststellen – ich bin kein Parteienmensch, ich gehöre keiner Partei an, ich bin auch in dem Sinne kein Sympathisant einer Partei oder so etwas -, daß eben für ganz viele Leute Parteien etwas Funktionales haben. Die werden nicht unbedingt aus Überzeugung gewählt, sondern weil sie eine Funktion in einer bestimmten politischen Situation besitzen. Das ist für die eigentlichen Parteigänger und sicher auch für die Gegner einer Partei etwas, das völlig irritierend ist. Und die Zustimmung der PDS würde ich in erster Linie daraus erklären, daß viele Leute diese Partei in dieser Situation, die jetzt ist, haben wollen. Als was auch immer. Darüber kann man ja diskutieren, was sie sich da denn vorstellen. Das gilt genauso für rechtsradikale Parteien. Dieser Vergleich wird der PDS jetzt nicht gefallen, aber da ist ja auch bekannt, daß viele Leute, die diese Parteien wählen, nicht meinen, diese Parteien sollten an die Regierung kommen. Die wollen nur, daß es für bestimmte Probleme Aufmerksamkeit gibt. Wir leben in einem Parteienstaat, was sollen die Leute denn machen, die müssen ja irgend etwas wählen mit dem Ziel, daß das, was ihren Interessen und Vorstellungen entspricht, ihren Problemen entgegenkommt, Gehör findet, Aufmerksamkeit und vielleicht mehr.

Frage:

Sie sind ja nun jemand, der aus der DDR geflüchtet ist im Jahre 1971. Wie ist Ihnen damals eigentlich die Flucht über die Mauer gelungen?

Havemann:

Ich war ja nun drei Jahre vorher im Gefängnis, weil ich im Jahre 1968 mit einigen Freunden…

Frage:

… wozu auch der kürzlich verstorbene Schriftsteller Thomas Brasch sowie Ihr Bruder Frank gehörten …

Havemann:

… gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei protestiert habe. Damals gab es schon Verhandlungen, ob mein Bruder und ich nicht in den Westen ausgekauft werden sollten. Eine Freundin von mir, die deswegen auch inhaftiert war, zog nach dem Gefängnis die Schlußfolgerung, es habe keinen Sinn mehr mit der DDR und ihr und sie wolle in den Westen. Sie hat dann drei Jahre daran gearbeitet, einen sicheren Fluchtweg auszukundschaften. Als sie den hatte, kam sie zu mir, nahm mich beiseite und sagte: „Flori, du weißt, was ich will, ich bin soweit, ich verschwinde, du kannst den Weg auch nehmen. Du hast jetzt zwei Stunden Zeit, zu überlegen, ob du mitkommen willst oder nicht.

Frage:

Haben Sie lange gezögert?

Havemann:

Da meine Situation völlig haltlos war, war es für mich eigentlich gar keine Frage – ich mußte jeden Ausweg nehmen. Es gab gar keine Wahlmöglichkeit. Hätte sie gesagt, wir gehen nach China, ich weiß nicht, wie wir das machen, wäre ich auch da hingegangen.
Den Weg, den sie gefunden hatte, und das mittels eines ehemaligen Fluchthelfers, der es nur für uns noch einmal gemacht hatte, war in einem mit Bitumen gefüllten Tankwagen nach Westberlin. Auf der Transitautobahn sind wir in diesen Tankwagen eingestiegen. Das war eine Flucht, bei der es keine Berührungspunkte mit der Mauer gab; jedenfalls habe ich sie nicht gesehen, ich bin nicht durch sie durchgebrochen, ich habe es nicht versucht, ich habe mich nicht in die Gefahr begeben, dort erschossen zu werden oder in ein Minenfeld zu laufen. Ich hätte es auch nie gemacht.

Frage:

Wie lauteten die Anklagepunkte Ihrer damaligen Inhaftierung?

Havemann:

Es hieß „staatsfeindliche Hetze“.

Frage:

Sie sollen z.B. eine tschechoslowakische Fahne aus dem Fenster gehängt haben?

Havemann:

Das habe ich auch gemacht, aber dafür wurde ich freigesprochen. Letztendlich wurde ich eingesperrt wegen der Verteilung von Flugblättern, mit denen wir gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei protestiert haben.

Frage:

Wie lange haben Sie dafür gesessen bzw. wie hoch war die gegen Sie verhängte Freiheitsstrafe?

Havemann:

Ich wurde – ich war ja erst sechzehn – zu einer Unterbringung in einem Jugendhaus verurteilt. Das wurde ja nicht als Strafe bewertet, sondern als eine erzieherische Maßnahme. Dauer: 1 – 3 Jahre. Das bedeutete, daß man nach einem Jahr zum ersten Mal einer Überprüfung unterzogen werden konnte, ob man sich eventuell schon so gebessert hätte, daß man freigelassen werden könnte. Die Untersuchungshaft dauerte drei Monate. In diesem Jugendhaus, in Luckau, war ich 1 Monat, und dann wurde ich aufgrund einer Intervention des obersten Chefs, nämlich von Walter Ulbricht, völlig widerrechtlich gegen alles Recht und Gesetz der DDR, entlassen. Also nach 4 Monaten insgesamt.

Frage:

Hing die Intervention Ulbrichts möglicherweise mit ihrem Vater – dem Regimekritiker Robert Havemann – zusammen, der ja nicht nur in der DDR eine prominente Persönlichkeit war? Viele andere wären dankbar gewesen, Ulbricht oder Honecker hätten sie von der einen Stunde auf die andere plötzlich vor den Knast gesetzt?

Havemann:

Völlig klar, das gehört zu diesem Unrechtsstaat, der die DDR ja auch war, daß das auch angenehme Wirkungen haben konnte. Das hängt mit politischen Querelen innerhalb der Partei zusammen. Als wir, diese Gruppe von Funktionärskindern, die wir ja letztendlich waren, verhaftet worden sind, hat Walter Ulbricht im Westradio oder im Westfernsehen davon Kenntnis genommen.

Frage:

Verbotenerweise …

Havemann:

Genau …, und dann hat er auf der nächsten Politbüro-Sitzung zu dem damaligen Parteichef von Berlin, Paul Verner …

Frage:

… ebenfalls Mitglied im Politbüro…

Havemann:

… gesagt: „Paule, bring‘ das in Ordnung!“ Ulbricht meinte damit, daß wir entlassen werden sollten, doch Paul Verner hat darunter etwas anderes verstanden und einen Prozeß vorbereitet.
Natürlich wollte er mit unserem Prozeß einen Prozeß gegen meinen Vater vorbereiten; die hatten alte Rechnungen zu begleichen, und es gab innerhalb der Partei sicher einen großen Teil von Leuten, die sich furchtbar darüber geärgert haben, was dieser Havemann sich alles erlauben durfte. Dann fand alsbald dieser Prozeß gegen uns statt. Darüber hat Ulbricht dann im Neuen Deutschland…

Frage:

… dem Sprachrohr der Partei …

Havemann:

… gelesen und wieder im Westradio und im Westfernsehen Kenntnis davon erlangt. Daraufhin hat er dann einen Tobsuchtsanfall bekommen und Paul Verner bei der nächsten Politbüro-Sitzung scharf gerügt: „So war das nicht gemeint…, raus…“

Frage:

Also Florian Havemann raus aus dem Jugendhaus?

Havemann:

Wie waren ja eine Gruppe von sieben Leuten, die waren alle mit gemeint. Dann wurden die anderen alle entlassen, und ich zunächst nicht, weil ich erst sechzehn war und meine Mutter immer versichert hatte, daß sie – was ja auch stimmte – keinen erzieherischen Einfluß auf mich hätte. Das hatte zur Folge, daß ich nach diesen drei Monaten Haft bei der Stasi in Hohenschönhausen in dieses Jugendhaus nach Luckau kam.
Keiner hatte irgendwelche Vorstellungen, was dieses Jugendhaus überhaupt ist. Auch ich nicht. Die Staatssicherheitsleute behaupteten das auch, daß sie keine Ahnung davon hätten. Man dachte, ich müßte da arbeiten oder irgendwie so etwas. Aber es war ein richtig ordentliches Gefängnis. Als meine Mutter mich dort besuchte, wurde ihr das klar. Es war ihr ja auch irgendwie klar, daß sie sozusagen die Verantwortliche dafür war, daß ich da sitze. Und dann hat sie angefangen über meinen Onkel, Hermann Henselmann, dieser Architekt …

Frage:

… der auch als „Chefarchitekt der DDR“ galt …

Havemann:

… der wiederum Otto Gotsche, den Sekretär von Ulbricht, kannte, sich für meine Freilassung einzusetzen. So wurde Walter Ulbricht mitgeteilt, daß der eine, also ich, immer noch sitze, worauf Ulbricht den nächsten Tobsuchtsanfall kriegte und den Generalstaatsanwalt in Bewegung setzte, damit der mich da rausholt. Was völlige Verwirrung in dem Gefängnis auslöste, weil es keine rechtliche Grundlage dafür gab. Es war ein Tag vor Weihnachten, als der Generalstaatsanwalt, der zweite Mann von denen, mit seinem Dienstwagen ankam, um mich dort abzuholen.

Frage:

Eigentlich hat es ja immer geheißen, die Urteile in der DDR seien politisch von höchster Stelle, auch von Walter Ulbricht, befohlen gewesen. Das scheint ja in Ihrem Falle, weil Sie die Tobsuchtsanfälle von Ulbricht erwähnten, als er von den Verurteilungen und Inhaftierungen gehört hatte, nicht der Fall gewesen zu sein?

Havemann:

Das kann man verallgemeinernd sagen: Nach dem Ende der DDR hatte ich einen Erkenntnisgewinn – oder eine Verfestigung dieser Erkenntnis, die ich damals schon in Ansätzen hatte -, und der liegt darin, daß es eine völlig falsche Vorstellung ist, zu denken, die DDR wäre ein homogenes System gewesen, in dem ein Wille regiert hat. Das gibt es eben nicht. Das ist eine falsche Vorstellung, die wir alle hatten. Wir waren auch der Meinung, die Stasi weiß alles, doch die wußte fast gar nichts.
Ich hatte ja nun zwei Sachen gemacht:
1. Ich hatte also die Fahne rausgehängt (wir wohnten am Straußberger Platz, von dort aus war die Fahne – die ja nur eine Viertelstunde hing – weit zu sehen; ich habe von unten zugeguckt, wie die Polizei in die Wohnung eindrang und die Fahne wegnahm);
2. hatte ich dann diese Flugblätter gemacht. Jetzt weiß ich, daß irgendwo in der Provinz ein Mensch war, der auch die tschechoslowakische Fahne rausgehängt hatte und dafür verurteilt worden ist. In unserem Falle mußte die Staatssicherheit in Hohenschönhausen …

Frage:

… ein Stadtteil bzw. Bezirk von Berlin, damals Ostberlin …

Havemann:

… das war die Top-Etage, am Ende der Untersuchungen bzw. Ermittlungen eine Expertise machen, ob sie unsere Handlungen für strafbar hält oder nicht.
Es wurde da festgehalten, daß das Raushängen der Fahne keine Straftat, das Verteilen der Flugblätter dagegen eine ist.
Die Staatsanwaltschaft hat die Fahne dennoch angeklagt. Der Rechtsanwalt, der meiner Mutter vom Zentralkomitee empfohlen worden war, hat im Prozeß jedoch darauf plädiert, die Fahne als nicht strafbar einzustufen. Dem ist das Gericht, das Stadtgericht Berlin, gefolgt.
Die Staatsanwaltschaft wollte daraufhin Protest einlegen und das Urteil des Stadtgerichts angreifen. Sie haben jedoch davon Abstand genommen, als ihnen klar geworden war, daß dann ein 16-jähriger Junge vor einem Obersten Gerichtshof der DDR wegen einer tschechoslowakischen Fahne gestanden hätte.
Das alles zeigt schon das Inhomogene dieses Staatsappparates. Aber unsere Vorstellung ist so, daß es einen Willen gab. Und das ist falsch.

Frage:

Wolf Biermann hat Sie für Ihre Flucht im Jahre 1971 nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt mit einem gegen Sie gerichteten Lied auf seinem Kölner Konzert im Jahre 1976. Drei Tage später war der Barde, der Sie öffentlich gemobbt hatte, aus dem Land, das er für den besseren deutschen Staat hielt, ausgebürgert worden. Was ging damals in Ihnen vor?

Havemann:

Na ja, Biermann hatte dieses Lied über meine Flucht geschrieben, ein Lied, das jeder DDR Bürger so verstehen mußte, daß mir da Verrat am Sozialismus vorgeworfen wurde; ich hätte also die Frontlinie verlassen, wäre desertiert vor der Auseinandersetzung um einen besseren Sozialismus.
Diesen Vorwurf mußte ich natürlich als berechtigt ansehen. Ich war nur der Meinung, daß ich richtig gehandelt hatte, meine kleine Frontstellung, an der ich da stand, zu verlassen. Vor mir konnte ich meine Desertion rechtfertigen, was aber nichts daran änderte, daß ich sie als eine solche begriffen hatte.
Dieses Lied, das ja im Westen, unter den Linken, große Furore gemacht hatte, weil sie alle ja doch eigentlich zukünftige – mehr oder weniger klare – Verräter der Sache waren, auf die sie sich eingelassen hatten, hatte natürlich eine starke Auswirkung auf mein ganzes Leben im Westen gehabt, weil eigentlich die Kreise, zu denen ich nun hätte dazugehören müssen, also die westliche linke Intelligenz, mit mir nichts zu tun haben wollten.
Als Biermann dann im Westen war, wollte ich ihn eigentlich mit einem Augenzwinkern begrüßen: „Nun bist du ja auch da…“ Aber dazu kam es nicht.

Frage:

In einem Sammelband von Biermann, der im Oktober, also im vorletzten Monat, im „Spiegel“ vorabgedruckt wurde, war zu lesen, daß Biermann, bevor er nach Westdeutschland gefahren ist, sich u.a. auch mit Ihrem Vater abgesprochen hat, auch darüber, was die Auswahl der in Köln oder der Gesamttournee zu singenden Lieder betrifft. Können Sie sich vorstellen, daß er auch dieses Lied, das Sie betrifft, mit Ihrem Vater abgesprochen hat?

Havemann:

Aber garantiert, mein Vater war ja derselben Auffassung.

Frage:

Daß Sie also praktisch den Sozialismus verraten haben?

Havemann:

Ja klar, er sah das genauso.

Frage:

Wie war in den darauffolgenden Jahren Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater bis zu seinem Tod im Jahre 1982?

Havemann:

Zunächst: Mein Vater wußte ja, daß ich abhauen will; ich habe ihm das mitgeteilt. Daraufhin hat er zu mir gesagt: „Wenn du nicht sofort mein Grundstück verläßt, hole ich die Polizei.“ Und damit können Sie sich dann ja vorstellen, daß das Verhältnis im Grunde genommen am Nullpunkt angelangt war.
Ich habe ihn bereits mehrere Monate vor der Flucht nicht mehr gesehen, ich habe ihn eigentlich nie wieder gesehen und hatte auch danach keinen Kontakt mehr zu ihm. Er hat meine Flucht verurteilt.

Frage:

Als Ihr Vater dann 1982 starb, wollten Sie da von sich aus zur Beerdigung? Oder mußten Sie dazu – von wem auch immer – aufgefordert werden? Wie funktionierte das überhaupt mit der Einreise?

Havemann:

Daß man zur Beerdigung seines Vaters geht, wenn man es kann, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Das war überhaupt keine Frage. Man ging ja immer irgendwie von solchen Ewigkeiten aus; und das war alles falsch.
Als ich in den Westen ging, dachte ich, ich sehe meine Familie sowieso nie wieder. Mit diesem Bewußtsein bin ich auch in den Westen gegangen. Ein Jahr später gab es den Grundlagenvertrag zwischen der DDR und Westdeutschland, und der hatte zur Folge, daß alle Leute, die bis zu einem bestimmten Stichtag, unter den auch ich fiel, in den Westen abgehauen waren, amnestiert wurden und als Besucher wieder zurück konnten. Die DDR hat aber all die Leute dennoch nicht wieder einreisen lassen wollen. Dagegen hat Egon Bahr …

Frage:

… der sogenannte Architekt der Ostverträge …

Havemann:

… dann protestiert, woraufhin wir dann reingelassen wurden. So war ich dann ein paar Male da, und die DDR hat dann langsam eine Spezialliste aufgebaut, unter die auch ich fiel. Nach meiner Flucht war ich dann etwa acht oder zehn Male als Besucher im Osten.
Das andere war, daß mein Großvater sehr alt war und daß ich ein Mal im Jahr zu seinem Geburtstag dahin fuhr und ihn besuchte.

Frage:

Also war, als Ihr Vater starb, es nur noch reine Formsache, daß Sie in die DDR einreisen konnten?

Havemann:

Da gab es von Seiten des Staates keinerlei Schwierigkeiten mehr.

Frage:

Heute gibt es ja nun die DDR nicht mehr. Diejenigen, d.h. einige, die für das System dort verantwortlich waren, wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Prozesse gegen Grenzsoldaten sowie politisch und militärisch Verantwortliche wurden hauptsächlich von staatsanwaltschaftlicher Seite mit dem Argument geführt, den Opferinteressen Genüge zu tun.
Finden Sie, daß das ein richtiger Weg ist, den Opferinteressen mit juristischen Mitteln Genüge zu tun?

Havemann:

Das kann ich letztendlich nicht beurteilen. Für meine Flucht hätte ich alles in allem sieben Jahre einstecken können. Da wäre es um Gruppenbildung gegangen – da hätte man sich einen Chef ausgesucht, das wäre ich dann gewesen -, was dann ein Strafmaß von sieben Jahren hätte bedeuten können. Dann gab’s ja noch die andere Strafe wegen staatsfeindlicher Hetze, wofür ich im Gefängnis gesessen habe.
Natürlich könnte ich mich – und ich werde ja von vielen Leuten wie selbstverständlich und automatisch so gesehen – als ein Opfer dieses Regimes begreifen. Ich habe mich aber nie als ein solches gesehen, sondern immer nur als Täter. Ich war immer der Meinung, ich würde die furchtbar ärgern. Und zwar sehr erfolgreich. Für die paar Flugblätter, die ich da gemacht hatte, hatte ich ja solch eine bombastische Resonanz bekommen.
Ich fühle mich daher nicht als Opfer dieses Systems, und deshalb kann ich mich schwer – ich merke es immer wieder – in Leute einfühlen, die sich als solche empfinden. Ich kann es aber nicht ausschließen, daß es für andere Leute anders ist. Und deshalb weiß ich das nicht zu beantworten, ob damit den Opferinteressen Genüge getan wird.
Das andere ist aber die Frage, was hier das Strafrecht zu leisten hat. Die Sache ist doch politisch geklärt, das System gibt es nicht mehr, die haben alle ihre Macht verloren, was kann ihnen schlimmeres passieren!?

Frage:

Die Gerichte haben ja nun die Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht als Mord nach DDR-Recht und Totschlag nach BRD-Recht beurteilt und Angeklagte entsprechend verurteilt.
Können Sie die Kritik gegen diese Urteile nachvollziehen?

Havemann:

Bevor wir uns auf diese juristische Schiene begeben – ich bin ja Verfassungsrichter, ich muß das immer bedenken -, würde ich mich da etwas für befangen erklären.

Frage:

Wie es die ehemalige Berliner Justizsenatorin und jetzige Verfassungsrichterin Jutta Limbach auch getan hat …

Havemann:

Ich muß vorausschicken, daß ich von Anfang an für die Mauer war. Damals war ich zwar ein kleiner Junge von neun Jahren, aber ich habe den Bau der Mauer sofort eingesehen und fand ihn richtig. Und an dieser Haltung hat sich nichts geändert. Selbst als ich die Mauer durchschlichen habe …

Frage:

… haben Sie demzufolge ein Unrechtsbewußtsein gehabt?

Havemann:

Nein, kein Unrechtsbewußtsein; für mich stand fest: da ist die Mauer, und da bin ich; ich mache, was ich will und trotzdem gibt’s die Mauer zu Recht. Es hat Gründe, daß es sie gibt, und daß ich sie überwinde, gehört nun einfach zu dieser Mauer dazu.
Eine Mauer kann man auch überwinden; wenn man in einem Gefängnis sitzt, kann man aus dem Gefängnis fliehen, das heißt nicht, daß das Gefängnis keine Existenzberechtigung besäße.

Frage:

Sie hätten es demnach auch konsequent empfunden, wenn man sie an der Mauer erwischt hätte, Sie mit Schüssen daran zu hindern, sie zu überwinden?

Havemann:

Das habe ich ja nicht gemacht. Ich habe mich nicht – und ich betone es ja – in Lebensgefahr begeben; und ich kann auch die Leute nicht verstehen, die es gemacht haben. Das wäre jetzt ein anderer Grund für meine Befangenheit in dieser Frage. Aber ich habe von Anfang an die Mauer als berechtigt empfunden. Als ich das so sah, war ich sicher Kind der Nomenklatura…, das ist ganz klar. Der Westen war für mich aggressiv. Dazu muß man verstehen, daß mein Vater 1949 in die DDR gegangen ist, weil er im Westen große Schwierigkeiten hatte. Für uns zu Hause war alles, eigentlich aus allem, was es über den Westen an Geschichten gab, daß es sich um ein aggressives System handelt. Wenn ich dann als kleiner Junge mit meiner Oma im Westen war und mir die Spielzeugläden angeschaut habe, war ich natürlich erst einmal stark beeindruckt von den vielen kleinen schönen Autos, die es da gab. Dann habe ich ein bißchen weiter geguckt, da standen da die kleinen Panzerchen. Da war mir klar, es handelt sich um Kriegstreiber, die wollen ihre Kinder dazu bringen, eines Tages in den Panzer zu steigen und gen Osten zu fahren. So habe ich das gesehen. Für mich war der Westen ein wirtschaftlich und militärisch aggressives System. Daß da Leute aus der DDR weg wollten und dafür vielleicht auch Gründe hatten, spielte für mich nicht die Hauptrolle, als die Mauer gebaut wurde. Daß die weg wollten, habe ich immer eher als Abwerbung gesehen. Ich war auch innerlich bereit, sozusagen härteste Maßnahmen für gerechtfertigt zu halten.

Frage:

Als neunjähriger?

Havemann:

Ja, als neunjähriger, als richtiger strammer Jungpionier, und mich eigentlich veredelt zu fühlen dadurch, daß man so was macht. Wobei der Mauerbau auch für unsere Familie schwere Einschnitte bedeutete, weil wir Verwandte im Westen hatten und selbst oft im Westen waren.
Der tiefere Grund an dieser Haltung – die sich dann auch fortsetzte, als ich älter wurde -, war die Nichtanerkennung der DDR durch den Westen. Das hieß: Nichtanerkennung einer Realität, Nichtanerkennung von mir. So habe ich das begriffen. Hier, glaube ich, bin ich nicht nur so ein idiotischer Sonderfall, sondern weil es eine ganz starke Wirkung hatte und die Mauer psychologisch legitim ist.

Frage:

Die Menschen haben sich demnach mit dem Regime identifiziert – und zwar in sehr starkem Maße?

Havemann:

Sicher große Teile, zumindest in dem Moment, als sie nicht als real angesehen wurden vom Westen, sie aber wußten, daß sie real existieren und daß das System, an dem sie das und das und das auszusetzen hatten, unter dem sie zu leiden hatten, real existierte.
Aus diesem Nicht-Anerkannt-zu-sein entstand eine fortwährende Angst vor dem Krieg. Wenn ich jemanden nicht anerkenne, dann kann ich machen, was ich will; dann sind die geistigen Grundlagen dafür geschaffen, dort einzumarschieren, den anzugreifen und so weiter und so fort. Es hat also ganz stark mit Kriegsangst zu tun, mit Vernichtungsangst. Wenn ich jemanden vernichten will, dann muß ich vorher erstmal seine Existenz sozusagen verneint haben. Daß ich die Mauer immer für legitim gehalten habe, liegt daran. An dieser Ignoranz des Westens.

Frage:

Konnten Sie das als neunjähriger alles so klar erkennen? Sie sind ja, wie alle Menschen, Produkt Ihrer Umwelt und die Erziehung wird massiv zu Ihrer Haltung beigetragen haben?

Havemann:

Ganz klar…, dennoch, gehen wir mal von dieser kindlichen Haltung aus, hat sich diese für mich bestätigt. Deshalb sage ich nochmals, daß ich da befangen bin. Natürlich ist es aber doch klar, die DDR hatte doch im Grunde genommen nur eine einzige Legitimation, einen Kern, und der bestand darin, es ist besser, es machen deutsche Kommunisten als russische Offiziere. Das ist der ganze Kern dieser Legitimation dieses Staates. Und die wurde von der DDR-Bevölkerung anerkannt. Diese Legitimation war aber in diesem Moment weg, als durch die Politik von Gorbatschow klar wurde, der russische Offizier kommt nicht mehr. Und damit hatte die DDR ihre Legitimation verloren, dieser Staat war nicht mehr legitim. In dem Moment war das auch möglich, daß plötzlich 100000 Menschen an die Mauer gehen und die Mauer gibt’s nicht mehr. Die Existenz der DDR ist mit dem Bau der Mauer 1961 verbunden. Und in dem Moment, in dem es keine Mauer mehr gab, gab es auch keine DDR mehr. Das gehört zusammen.
Natürlich ist das alles nur verständlich durch den Kalten Krieg. Was der Kalte Krieg war, darüber möchte keiner im Moment nachdenken. Die Erkenntnis wäre nämlich ungeheuerlich, auf welches Abenteuer die Menschheit sich da eingelassen hat, welcher Vernichtungswille da existierte. Ich glaube aber, daß es als Thema irgendwann mal wiederkommt, daß es eine riesengroße Verdrängung dessen gibt; so wie es eben nach der Nazizeit eine Verdrängung gegeben hat im Westen, wird das Thema irgendwann wiederkommen.
Um nochmals auf die Mauerschützenprozesse zurückzukommen: das erste, was man dort so sieht, ist, daß eigentlich diese Nichtanerkennung der Realität dieses Staates sich fortsetzt und deshalb bei so jemandem wie mir auf stärkste Ablehnung stößt – erst einmal instinktiv, bevor ich mich auf irgendeine juristische Diskussion einlasse oder nicht.
Die Frage nach dem Schießbefehl – ob es den nun gegeben hat oder nicht, das wissen Sie oder die Historiker besser …

Frage:

… mir ist jedenfalls keiner begegnet in den Akten, die einigermaßen Relevanz haben könnten …

Havemann:

… aber es doch dem DDR-Bürger klar war, daß da an der Grenze geschossen wird; und wenn er nicht gerade in Berlin war, war ihm auch klar, daß da Minen rumliegen; dann gab es den Zaun, worauf stand: „Hier darfst du nicht hin …“Jetzt kann man sagen, es gab keine freie Presse, es war Propaganda und die haben also sozusagen das, was das Grenzregime – von dem sie jetzt immer sprechen – betrifft, was das bedeutet, ihrer Bevölkerung nicht genügend klar gemacht. Inwieweit das irgendwelchen Leuten unklar war, da mag es vielleicht Zweifel geben, aber ich würde mal sagen, es war doch im Grunde jedem bewußt.
Das andere ist, es gibt Zehntausende, vielleicht hunderttausend – ich weiß nicht, wie hoch die Zahlen genau sind -, die es geschafft haben, in den Westen zu kommen, ohne den Weg über die Mauer zu nehmen; jedenfalls die Mehrzahl davon hat nicht den Weg über die Mauer gewählt. Ich hatte selber Freunde, die sind einfach zur Mauer hingegangen, haben sich am ersten Sperrstreifen auffällig verhalten, sind verhaftet worden, haben dann erzählt, daß sie in den Westen abhauen wollten, sind dafür eingeknastet worden und 1 Jahr später waren sie im Westen, weil sie ausgekauft worden sind. Das heißt, man mußte sich nicht an der Mauer erschießen lassen. Ich kenne keine Geschichte, von der ich sagen kann, es blieb den Menschen nichts anderes übrig, als sich dieser Gefahr, dort erschossen zu werden, auszusetzen. Es kann sein, daß ich sie einfach nicht kenne, aber ich kenne sie nicht. Man muß auch sehen, man hatte es da mit einem Staat zu tun, der erläßt eine Verordnung, ein komplexes Gebilde, will irgend etwas verhindern, und da drinnen gibt es dann irgendwann auch einen Schußwaffengebrauch.
Natürlich muß sich jeder Mensch fragen, ob er das nun gut findet oder schlecht, beschissen oder gegen die Menschenrechte usw.. Und es muß sich jeder Mensch fragen, ob er sich nun daran halten will oder nicht.
Wenn ich mich nicht daran halte, begebe ich mich in eine bestimmte Gefahr. Das ist aber etwas anderes, als wenn hier ein Tötungswille, Absicht usw. bestehen würde. Also dieser Vergleich, zu sagen, die Polizei wäre unter bestimmten Bedingungen ja auch zum Schußwaffengebrauch legitimiert, ich glaube nicht, daß man den so ohne weiteres von der Hand weisen kann.

Frage:

Es heißt ja auch, von der Schußwaffe wurde zuviel Gebrauch gemacht. Der einstige ARD-Korrespondent in der DDR, Lothar Loewe, nannte das einmal „Das Abschießen der Menschen an der Grenze wie die Hasen“. Kann man das vertreten?

Havemann:

Das kann ich nicht beurteilen. Ich war selber nicht bei der Armee, gottseidank; ich weiß das nicht, aber das muß man natürlich für möglich halten.

Frage:

Die Staatsanwaltschaft hat ja ursprünglich die jüngeren Funktionsträger der ehemaligen DDR angeklagt wegen Totschlag durch Unterlassen, weil sie nichts dafür getan hätten, daß das Grenzregime humanisiert wird.
Können Sie sich vorstellen, daß dieses Grenzregime hätte humaner gestaltet werden können als es letztlich existiert bzw. bestanden hat?

Havemann:

Ich bin kein Spezialist für Polizeifragen. Das kann man sich immer vorstellen.

Frage:

Mußte denn diese Grenze mit allen Mitteln geschützt werden? Wäre es nicht besser gewesen, man hätte „ein paar“ laufen lassen, die es partout in der DDR nicht mehr ausgehalten hatten und hätte so den Fall der Mauer sogar verhindert oder weit hinausgeschoben?

Havemann:

Da ich die Wende begrüße, können Sie mich so etwas nicht fragen.

Frage:

Ich habe diese Frage aus konträrer Sicht dennoch gestellt.

Havemann:

Es gibt sicher auch – ich bin kein Spezialist, da ahne ich nur, daß es die gibt – eine Geschichte dieses Grenzregimes, wie es sich verändert hat und in welche Richtung, wann es schlimmer oder wann es harmloser war; es sind ja eine ganze Reihe von Jahren vergangen mit dieser Mauer. Und da könnte man sich fragen, was man daraus ablesen kann. Das ist nicht meine Sache, da bin ich kein Spezialist dafür. Aber das ist doch klar: in welcher Brutalität so etwas gemacht wird oder nicht, das hängt mit dem Charakter des Systems zusammen und da ist nicht die Frage, hätte das humaner sein können oder so …
Lassen Sie uns mal etwas springen: Handelt es sich bei diesen Prozessen um politische Prozesse – ja oder nein? Es gibt ja diesen Vorwurf, es seien politische Prozesse.

Frage:

Er wird jedenfalls von den Kritikern der Prozesse unentwegt erhoben.

Havemann:

Ich würde ihn eigentlich nicht machen wollen. Ich würde diesen Prozessen eher vorwerfen, daß sie so unpolitisch sind, daß es genau der Versuch ist, politische Verantwortlichkeit als strafrechtliche Verantwortlichkeit zu verstehen. Das kann, glaube ich, nur scheitern.
Und daß es diesen Versuch gegeben hat und wahrscheinlich auch noch eine ganze Weile und immer wieder geben wird, das hat damit zu tun, daß dieses System, in dem wir leben hier, in dem es den bürgerlichen Rechtsstaat gibt – den wir auch alle hoffentlich schätzen – sich zum Maßstab aller anderen Verhältnisse macht. Hier in diesem Rechtssystem gibt es keine eigentlichen politischen Prozesse, keine politische Anklage; also muß dieses System, wenn es mit juristischen Mitteln irgendwie etwas klären will, den Versuch unternehmen, etwas, was ganz anders zu verstehen ist, mit juristischen Mitteln sozusagen zu begreifen. Natürlich, würde ich sagen, kann das nicht funktionieren. Da kommen Sachen dabei heraus, die völlig hirnrissig und Konstruktionen der abenteuerlichsten Art sind. Die politische Verantwortung haben ja die Leute, jedenfalls die, die am Ende dran waren, übernommen. Die haben ihre Macht ja nicht ohne Grund verloren. Also solche Sachen wie „Totschlag durch Unterlassen“ oder so …, das sind natürlich irrsinnige Konstruktionen, wo man so tut, als habe es sich eigentlich um normale Staatsbürger gehandelt. Das hat bloß mit der DDR nichts zu tun, das hat mit diesem Land nichts zu tun und auch nichts mit den politischen, gesellschaftlichen, psychologischen – oder was man will – Verhältnissen in diesem System. Und diese juristische Vorgehensweise wird das auch nicht erfassen können.

Frage:

Nun hat ja, wie ich es bereits angesprochen habe, die Justiz diese Verfahren hinsichtlich der Mauer- und Grenztoten mit dem Argument geführt, den Opferinteressen Genüge zu tun. Wäre das mit politischen Mitteln überhaupt möglich gewesen?

Havemann:

Erst einmal haben das natürlich die Juristen selbst behauptet, daß sie das tun würden. Ob sie das nur deswegen getan haben, darüber kann man reden. Aber klar ist, es hat von Herrn Schäuble, als es um die Spionagegeschichten ging, den Versuch gegeben: „Das vergessen wir, das hat mit der Justiz nichts zu tun, und hier ist Schluß.“
Und dafür hat er auf Granit gebissen in der Öffentlichkeit, der veröffentlichten Meinung. Und dann wurde eine politische Lösung insofern zurückgezogen.
Ich würde mal sagen, daß das der Bundesregierung klar war, daß das nicht funktioniert; bloß, sie sind da zurückgewichen und haben die Justiz von der Leine gelassen und ihren Job tun lassen, den sie eben tut. Und die Justiz hat das auf ihre Weise versucht und ist daran, nach meiner Meinung, gründlich gescheitert. Was man ihr nun eigentlich positiv anrechnen könnte, daß sie gescheitert ist, wenn es denn mal zu einer Erkenntnis käme.
Es ist natürlich klar – das hört man ja aus vielen Äußerungen von Juristen heraus -, ein Argument für die Prozesse war immer, die juristische Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ist gescheitert, ist nicht gemacht worden, ist ein großer Makel, und das darf uns hier nicht noch einmal passieren. Das heißt, da geht es um innerwestdeutsche Prozesse, Entwicklungen, die mit der DDR nichts zu tun haben.

Frage:

Der Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen, mittlerweile in Rente, hat auch in einem Interview gesagt, er möchte später vor seinen Enkeln nicht dastehen, nichts für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts getan zu haben.

Havemann:

Ja, zum Beispiel; die ganze Anwendung dieser Radbruchschen Formel …

Frage:

… nach der geschriebenes Recht, also die Gesetze, weichen muß, wenn es in unerträglichem Widerspruch zur Gerechtigkeit steht …

Havemann:

… steht der großartige Grundsatz gegenüber, daß es keine rückwirkende Anwendung von Gesetzen geben darf. Diese Radbruchsche Formel ist entwickelt worden in Folge der Nazi-Zeit. Hier konnte man sagen, die Verbrechen der Nazis waren so ungeheuerlich, daß dieses hehre Gut des Rückwirkungsverbotes …

Frage:

… und damit eventuell Gesetze, worauf sie sich beriefen …

Havemann:

… außer Kraft gesetzt werden muß.
Jetzt hat aber niemand der DDR-Bevölkerung und den Verantwortlichen erklärt, daß das in ihrem Falle genauso sein würde. Wenn es diese Diskussion eventuell gegeben hat, ist diese nicht bis in die DDR vorgedrungen. Die Machthaber und die Bevölkerung, auch der einfache Schütze dort, waren an dieser Entwicklung der westdeutschen Juristerei nicht beteiligt. Von denen kann man daher kein Unrechtsbewußtsein in irgendeiner Weise abverlangen. Und daß das für jeden kleinen Mauerschützen oder für einen DDR-Funktionär undenkbar war, daß das, was in der DDR geschehen ist, mit den Verbrechen der Nazis verglichen werden kann, das kann man sich aber nun auch vorstellen.

Frage:

Zweifellos hat es aber auch Exzeßtaten gegeben, daß Flüchtende, die sich bereits ergeben hatten oder bereits fluchtunfähig waren, von Grenzsoldaten dennoch erschossen wurden.

Havemann:

Exzesse gibt es immer; Punkt, fertig, aus. Welche Art von Exzessen es gibt, das gehört zum Charakter des politischen Systems dazu.
Meine Frau ist Französin, deswegen interessiere ich mich dafür: Wenn Sie sehen, was Monsieur Papon gemacht hat in Folge der Demonstration der FLN in der 60er Jahren, wo Hunderte von Leichen von Algeriern in der Seine schwammen und das in einem demokratischen Staat…, also ich bitte Sie, Exzesse gibt es überall.
Das waren nicht weniger Leute innerhalb von zwei Tagen als in über zwanzig Jahren an der Mauer erschossen wurden.

Frage:

Und wahrscheinlich sind an der amerikanisch-mexikanischen Grenze auch mehr Menschen erschossen worden oder umgekommen als an der deutsch-deutschen Grenze.

Havemann:

Möglicherweise, und vielleicht gibt es auch dort Exzesse oder so etwas.

Frage:

Aber niemand würde auf die Idee kommen, den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika deswegen auf die Anklagebank zu setzen bzw. juristisch zur Verantwortung zu ziehen.

Havemann:

Ja, und das liegt eben daran, dieses juristische System, das wir hier haben, paßt zu diesem System.

Frage:

Nun hatten ja gewisse Leute nach der Wiedervereinigung die Vorstellung, die DDR-Vergangenheit mittels sogenannten Foren zu bewältigen oder beispielsweise, wie das in Südafrika der Fall war, mit sogenannten Wahrheitskommissionen. Wäre das ein gangbarer Weg gewesen, auch mit der DDR-Vergangenheit umzugehen?

Havemann:

Das sind Fragen, wo ich mich weigere, so etwas zu beantworten. Entscheidend ist, daß es nicht gemacht worden ist. Das hat doch einfach damit zu tun, daß die Jurisprudenz eine solche große Bedeutung in der westlichen Gesellschaft hatte, die auf Gesamtdeutschland dann übertragen worden ist. Und was weiß ich was, wie es in Südafrika mit der Juristerei steht, ob es da in derselben Weise möglich gewesen wäre, so wie bei uns zu verfahren. Das sind so Was-wäre-wenn-Fragen, die ich für uninteressant halte. Wichtiger ist zu fragen, warum ist es so geschehen, wie es geschehen ist.

Frage:

Aber offensichtlich schienen Nelson Mandela und seine Anhänger nicht so – wie es hier oft gesagt wird – von Rache beseelt gewesen zu sein, daß sie jetzt unbedingt meinten, ihre Unterdrücker juristisch – oder auf welchem Wege auch immer – zu verknacken, z.B. daß sie jetzt für Jahre hinter Gitter wandern. Was ja schließlich vielen Schwarzen im milderen Falle, wenn sie nicht gleich erschossen worden oder sonst zu Tode gekommen sind, passiert ist.

Havemann:

Ob der Rachegedanke nun so eine große Rolle spielt bei den Prozessen, über die wir jetzt reden, das weiß ich auch nicht. Wer hätte sich denn gegen diese Art von juristischer Aufarbeitung wehren können? Eigentlich nur die Linke. Daß die Rechten für die Aufarbeitung eines Systems sind, in dem das Privateigentum abgeschafft worden ist, in dem so viele enteignet worden sind von ihren Leuten, und daß der Antikommunismus immer noch virulent ist, das ist doch klar. Aber entscheidend ist ja eben, daß die bürgerliche oder die westdeutsche Linke sich gegen diese Aufarbeitung nicht gewehrt haben. Unter anderem deswegen, weil das, was bei der Aufarbeitung der Nazivergangenheit falsch gelaufen war, jetzt richtig laufen sollte. Das ist eine Art von Ironie der Geschichte.
Wenn man darüber hinausschaut, dann sieht man, daß diese Prozesse, die alle um die Mauer sich drehen, die großen und die kleinen mal zusammen genommen, oder Prozesse wie den gegen die Richterin, die mich damals verurteilt hat – die ist ja auch ins Gefängnis gewandert -, sich einreihen in eine Folge von Prozessen, die wahrscheinlich mit dem Nürnberger Kriegsverbrecher Tribunal begonnen haben. Dazu gehören auch die Prozesse nach den Bürgerkriegen in Jugoslawien oder Ruanda. Und das gipfelt in dem Versuch, so einen unabhängigen Internationalen Gerichtshof zu etablieren, der staatliches Handeln nach Kriterien der allgemeingültigen Menschenrechte beurteilt.

Frage:

Wogegen sich die USA allerdings wehren?

Havemann:

Wogegen sich die USA bis zum heutigen Tage wehren, wodurch natürlich dieser Gedanke, daß es sich eigentlich immer um Siegerjustiz handelt, erst einmal nicht vom Tisch ist.

Frage:

Was die USA nach dem 2. Weltkrieg ja letztlich auch getan haben.

Havemann:

Deshalb ist ja dieser Gedanke, es wäre Siegerjustiz, auch was Jugoslawien betrifft, noch nicht vom Tisch. Eine solche Justiz würde ihre Unabhängigkeit erst in diesem Moment bewiesen haben und damit ihre Weltgeltung, wo sie Politiker und Militärs eines starken Staates anklagen kann. Es gibt diese Vorstellung – die gibt es bei Juristen, die gibt es bei Politikern, und die gibt es in der Hauptsache, würde ich sagen, auf der Linken Seite -, daß man eine solche Justiz mit Weltgeltung installieren könnte. Und da ordnen sich diese Prozesse, von denen wir gesprochen haben, mit ein. Ich habe große Zweifel, ob man solch eine Art von Justiz etablieren kann.

Frage:

Aber sie würde ohne Radbruchsche Formel funktionieren.

Havemann:

Sie müßte dann irgendwann mal ohne die funktionieren, denn alle würden es wissen müssen …

Frage:

… daß politische Handlungen und Verantwortlichkeit auch juristische Konsequenzen nach sich ziehen wird, ziehen kann?

Havemann:

Ja, wenn man das etabliert, dann würde allen Leuten in Zukunft klar sein, was auf sie zukommt.
Nun haben natürlich diese Leute, die das wollen, das Argument für sich, daß alle Juristerei immer ein Prozeß ist und die juristische Kompetenz erobert und ausgebaut werden muß, und daß es eine falsche Vorstellung wäre, es ließe sich mit einem Male, mit einem Tage etablieren. Was natürlich bedeutet, daß auf dem Wege dahin immer wieder mit Ungerechtigkeiten zu rechnen ist. Also, die einen werden verfolgt, aber andere nicht, weil das noch nicht möglich ist. Dahinter steht aber die Vorstellung, daß eines Tages sozusagen alle verfolgt werden können.
Die große Frage ist, handelt es sich dabei um einen Traum, eine Utopie; wäre das ein Ziel, das wünschenswert wäre, wenn es denn dazu käme; wäre das ein Schreckensregime, wäre das eine große Idiotie – was wäre das? Und natürlich wäre die Frage: Ist das erreichbar? Jegliches politisches Handeln hat aber immer einen offenen Ausgang – wir wissen das nicht. Und es kann sein, daß die Befürworter dann mit Zeiträumen von Jahrhunderten rechnen, wenn wir unser Erdenleben hier schon längst beschlossen und uns darüber geärgert haben, daß es eine Anklage gegen Herrn Krenz gegeben hat, aber niemals eine gegen Henry Kissinger.

Frage:

Wenn es einen Internationalen Gerichtshof gäbe, der politisches Handeln juristisch überprüfen könnte, bestünde unter Umständen auch die Möglichkeit, daß es sich ein Mensch zweimal oder wieviele Male auch immer überlegt, bevor er ein politisches Amt übernimmt. Die Existenz eines solchen Gerichtshofes würde womöglich potentielle Dilettanten davor zurückschrecken lassen, ein politisches Amt überhaupt erst zu übernehmen.

Havemann:

Wir könnten uns vorstellen, daß das die verrücktesten Konsequenzen hätte, wie z.B. die Macht da zu ergreifen, wo die Macht auf der Straße liegt; das kann man ja auch als Notwendigkeit sehen; denn wenn ich es nicht mache, tut es ein anderer, der mich dann unterdrückt.
Das heißt, eine mögliche Konsequenz wäre ja auch, daß die Leute, die glauben, zu Gewaltmitteln greifen zu müssen, dafür sofort Entlohnung haben wollen in Form von Frauen, die sie vergewaltigen können oder Geldmitteln, oder was auch immer; weil das Risiko so hoch ist, kann das ganz irrsinnige Konsequenzen haben.
Und die Frage dahinter ist, ist es denn möglich – wenn Sie mich fragen, ich glaube es nicht -, sozusagen die ganze Welt, in der so verschiedene Bedingungen herrschen, juristisch über einen Leisten zu schlagen oder nicht?
Anders ausgedrückt: Sind juristische Verhältnisse Ergebnisse bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen, gehören sie zu ganz bestimmten gesellschaftlichen Zuständen, oder ist die Annahme berechtigt, daß sie eigentlich immer gelten sollen und immer gelten?
Und da wehrt sich natürlich jeder historisch denkende Mensch und sagt: „Das gibt es nicht, das geht nicht.“ Denn welche Gewalt herrscht, das hat immer mit den Umständen zu tun.

Frage:

Bärbel Bohley hat ja mal den berühmten Satz gesagt, wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen. In Anbetracht dessen, daß ja jetzt viele Funktionsträger aus der ehemaligen DDR, Grenzsoldaten, aber auch Richter und Staatsanwälte verurteilt worden sind: hat Bärbel Bohley jetzt die Gerechtigkeit bekommen, die ihr vorgeschwebt hat?

Havemann:

Je nachdem wie man es sieht, man kann es auch als große Ungerechtigkeit sehen. Natürlich liegt in dem Rechtsstaat ein Gewinn.

Frage:

Ist er berechenbarer?

Havemann:

Natürlich weiß man, wenn man mit dem Rechtsstaat zu tun hat und mit anderen Rechtssystemen, um den Vorteil des Rechtsstaates. Über all seine Schwächen brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Der eigentliche Gewinn ist der Rechtsstaat. Ob der Gerechtigkeit Genüge getan ist, das ist doch eine ganz stark vom Empfinden abhängige Kategorie. Wenn mich jemand bedroht, dann ist vielleicht der Gerechtigkeit Genüge getan nach meinem Empfinden, wenn ich ihn umgebracht habe oder so… Oder was weiß ich was, wo mein Gerechtigkeitsempfinden liegt, wenn z.B. meine Kinder angegriffen werden. Dieses Empfinden, das ich habe, ist für mich ganz, ganz wichtig – das ist klar; das ändert aber nichts daran, daß der eigentliche Gewinn in dem Rechtsstaat steht. Und der wird einem sofort klar, wenn man sich gewahr wird, daß man auch mal selbst der Beschuldigte sein kann.

Frage:

Und dann können wir froh sein, daß andere uns nicht mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden überziehen.
Doch für andere scheint der Rechtsstaat nicht der Gewinn zu sein, wenn sie z.B. erleben müssen, daß das Rückwirkungsverbot für sie nicht gilt.

Havemann:

Deswegen sagte ich ja, man kann es auch als Ungerechtigkeit empfinden.

Frage:

Mit den Menschenrechtsbeschwerden von Krenz & Co. nach Straßburg war eine juristisch begründete Erwartungshaltung, auch in der Öffentlichkeit und in der Presse verbunden, daß die Beschwerden von Erfolg gekrönt sein würden. Ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg daher nur politisch zu erklären oder hatten die Richter dort einfach nur die besseren juristischen Argumente?

Havemann:

Muß ich passen, da ich dieses Urteil nicht gelesen habe. Aber es ist doch klar, daß sich Juristen sehr schwer tun, die Urteile von anderen Richterkollegen aufzuheben und abzuservieren, wie es da nötig gewesen wäre. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen; nur wenn die gröbsten Verstöße gesehen worden wären, die gröbste Willkür und dies in den Augen der Richter nicht mehr vertretbar gewesen wäre, hätten sie die angefochtenen Urteile aufgehoben. Dieser Prozeß in Straßburg ist ja mit einem enormen Vorlauf verbunden gewesen, er ist nicht für sich selbst zu betrachten. Also hat mich dieses Ergebnis nicht erstaunt. Da durfte man nichts anderes erwarten. Natürlich kommt noch hinzu, daß eben die Flagge, unter der diese Juristen segeln, eben immer die Menschenrechte sind. Natürlich nehmen auch die an, daß die Menschenrechte immer und überall gelten und Naturrecht des Menschen sind und keinen historischen Vorlauf besitzen und völlig unabhängig sind von allen konkreten Bedingungen.

Frage:

Obwohl im Einigungsvertrag steht, daß die Leute nur nach DDR-Recht verurteilt werden dürfen, wurden unabhängig von den gesetzlichen Rechtfertigungen – wie man die auch immer bewertet – die Urteile gesprochen und vollzogen.

Havemann:

Deswegen hat man ja diese abenteuerlichen Konstruktionen sich basteln müssen. Aber ein Gesetz ist immer auslegungsfähig und muß auch ausgelegt werden. Und wenn man mit einer völlig anderen Einstellung, mit einem völlig anderen Geist da ran geht, dann kommt nur ein irrsinniger Bastard dabei heraus. Das haben wir ja in diesen Prozessen erlebt; man versuchte aus dem DDR-Recht mit westdeutschem Geist etwas daraus zu machen. Das kann ja nicht gut gehen.

Frage:

Hans Modrow hatte mal gesagt, die Prozesse entzweien uns eher in der Wiedervereinigung als daß sie der Wiedervereinigung förderlich sind. Hat er Recht?

Havemann:

Die Prozesse haben sicher insofern dazu beigetragen, weil sie diese Nichtanerkennung der DDR-Realitäten in ihrer Weise fortgesetzt haben. Und diese Nichtanerkennung der DDR-Realitäten, die gab es vorher, als die Mauer noch stand, als die DDR noch existierte, und die gibt es immer noch. Das ist etwas, was sehr, sehr viele Menschen verletzt, empört, stört und so weiter und so fort…. Und da gehören diese Prozesse mit dazu. Ob sie nun entscheidend waren, das wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, die Sympathie für diese Politbürokraten hält sich sehr in Grenzen.

Frage:

Auf der anderen Seite sieht man, daß die PDS immer mehr Zuwachs bekommt, auch im Westen; sehen Sie einen Grund darin, daß mit der DDR-Vergangenheitsbewältigung auch ein bißchen zu pauschal umgegangen wird?

Havemann:

Es ist diese grundsätzliche Nichtanerkennung, die verletzt, die empört. Und das ist eine ganz alte lange Geschichte. Als ich 1971 in den Westen kam, war das auch schon so. Es interessierte sich kein Mensch dafür, was ich in diesem Staat, aus dem ich kam, erlebt habe.

Frage:

Der Staat hat sich auch nicht gerade transparent gemacht.

Havemann:

Nein…, ich aber hätte ja was erzählen können, doch das wollte keiner hören, weder von den Rechten – die wußten sowieso Bescheid -, noch die Linke; keiner wollte etwas von der DDR hören.
Diese westliche Ignoranz ist grundsätzlich. Die gilt nicht nur für die DDR, die gilt für die ganze Welt, würde ich behaupten.
Das Erleben ist natürlich etwas anderes, wenn ich das als Individuum – als einer, der alleine für sich steht mit ein paar Leuten, die abgehauen sind – hinter mir habe; wenn das ein paar Millionen gleichzeitig erleben, dann hat das natürlich ein viel stärkere politische Auswirkung. Unter anderem sicher auch die Auswirkung, daß die PDS nicht verschwunden ist.

Frage:

Besteht Aussicht auf Besserung oder muß die PDS mit noch mehr Stimmen rechnen?

Havemann:

Das kann ich nicht beurteilen, weiß ich nicht, fragen Sie mich doch nicht so was.

Frage:

Das wäre ja die logische Konsequenz: wenn sich die Westdeutschen noch weiter ignorant verhalten, dann bekommt die PDS noch mehr Stimmen und verschwindet ganz und gar nicht.

Havemann:

Das könnte sein. Politik hängt davon ab, wie gut oder wie schlecht Leute agieren. Aber es ist doch klar, daß auch die PDS sich in vielem zu sehr schon von den Leuten unterscheidet, die Grund haben, jetzt unzufrieden zu sein, also, die neuere Gründe haben, unzufriedener zu sein. Deshalb gibt es eben plötzlich in Brandenburg die DVU, und deren Wähler kann die PDS eben nicht für sich mobilisieren.

Frage:

Werden wir Mitte Januar 2002 eine rot-rote Regierung in Berlin haben?

Havemann:

Sieht doch so aus …, sieht doch so aus.

Interview: Dietmar Jochum, 7. Dezember 2001

Foto/Bildquelle: http://www.bpb.de/cache/images/4/141264-3×2-original.jpg?C3D9F

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