Prüfung der individuellen Schuld ist zu kurz gekommen.

TP-Interview mit Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen und Honecker-Verteidiger Wolfgang Ziegler.

TP: Herr Ziegler, die Anwendung der Radbruch’schen Formel wird heute von der überwiegenden Mehrheit der Rechtsprofessoren in Deutschland abgelehnt. Hypothetische Frage: Hätte Radbruch in der DDR gelebt, würde er eine ähnliche Formel für das Unrecht, das dort geschehen ist, entwickelt haben?

Ziegler: Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, wenn man weiß, was er zum positiven Recht gesagt hat: „Wir verehren den Richter, der gegen seine Rechtsüberzeugung am geschriebenen Gesetz festhält.“ Und wenn man dann noch berücksichtigt, für welche konkrete rechtliche Situation er seine Formel entwickelt hat. Der Bundesgerichtshof hat die Radbruch’sche Formel dann auch in einem Fall angewandt, der Sachbearbeiter eines Judenreferates in Stuttgart betrifft, die bei der Verschleppung von über 2000 Juden in verschiedene KZ’s mitwirkten und denen klar sein mußte, daß die Menschen umgebracht wurden. Die Verteidigung versuchte, sich auf eine Verordnung vom 28.02.1933 zu berufen, die an sich zur Abwehr kommunistischer Umsturzversuche erlassen worden war. Abgesehen davon, daß auch nach meiner Meinung diese Verordnung kein Rechtfertigungsgrund sein konnte, erklärte der Bundesgerichtshof, wenn man sich zur Rechtfertigung auf diese geschriebene Verordnung berufen wolle, handele es sich um eine gesetzliche Regelung, die den Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in hohem Maße widerspreche. Eine solche gesetzliche Regelung könne daher keine Grundlage für eine Rechtfertigung sein. Ich glaube aber nicht, daß man jetzt eine Brücke schlagen sollte zu dem Unrecht, das auch in der DDR begangen wurde.

TP: Wie massiv muß Unrecht sein, eine solche Formel zu entwickeln? Jemanden zu erschießen, der nichts weiter will, als sein Land zu verlassen, ist ja kein Pappenstiel.

Ziegler: Nein, zweifellos nicht. Nur, letzten Endes geht es ja darum, daß das Recht der DDR anzuwenden ist und die Verhältnisse der DDR zu berücksichtigen sind. Es ist daher für den einzelnen Angeklagten die Frage zu stellen, inwieweit durfte er sich auf dieses Recht verlassen, inwieweit darf er heute noch sagen, ich bin einem Gesetz gefolgt, ich habe nach einem Befehl gehandelt. Ich meine, es wird bei dieser Diskussion die historische Ursache des Schießbefehls bzw. der Schüsse an der Mauer zurückgedrängt. Aus meiner Sicht soll nicht wegdiskutiert werden, daß die Schüsse an der Mauer eine unmenschliche Handlung darstellen. Zu beachten ist jedoch, daß der Schußwaffengebrauch kein reiner Selbstzweck war. Die DDR wollte ja zumindest in den letzten Jahrzehnten diese Toten an der Mauer nicht, weil es durch diese Vorfälle erhebliche außenpolitische Probleme gab. Die Existenz der DDR war im Grunde jedoch von ihrem Grenzregime abhängig. Hätte man die Mauer 4 oder 5 Meter hoch bauen können, dann hätte man nicht schießen müssen. Also ging es nicht darum, Menschen zu verletzen oder zu töten, nur weil sie ein Gesetz verletzten, sondern das DDR-Regime meinte, daß im Grunde der Untergang der DDR vorgezeichnet sei, wenn die Grenzen nicht entsprechend dem Beschluß des Warschauer Paktes geschlossen und das Grenzregime aufrechterhalten wird. Diese Zusammenhänge muß man sehen, auch wenn dadurch dem Vorgang aus meiner Sicht nicht der Charakter der Unmenschlichkeit genommen wird. Festzustellen bleibt jedoch, der Schußwaffengebrauch war kein reiner Selbstzweck, wie die Vorgehensweise gegen die Juden im 3. Reich. Die Nazis haben eine Rassenideologie durchgesetzt. Der Bestand des Nazistaates war von der Durchsetzung dieser Rassenideologie nicht abhängig. Dem gegenüber war die DDR ein Staat, der meinte, auf Dauer nur existieren zu können, wenn er tatsächlich seine Grenzen dicht machte. Grundsätzlich ist zu fragen, ob ein solcher Staat überhaupt eine Existenzberechtigung hat und ob ein Recht, das er unter Verletzung der Menschenrechte setzt, überhaupt anerkannt werden kann, dieser Staat also nicht in der Lage ist, ohne ein solches Grenzregime für seinen Erhalt zu sorgen.

TP: Herr Schaefgen, Sie plädieren für die Auffüllung des Artikels 103 Grundgesetz. Ist das ein Eingeständnis dahingehend, daß die Anwendung der Radbruch’schen Formel nicht rechtens ist?

Schaefgen: Nein, ich meine, daß sich seit 1945 das Recht fortentwickelt hat, und zwar zugunsten des Menschenrechtsschutzes. Und das findet seinen Ausdruck in der Europäischen Konvention für Menschenrechte und in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Das ist inzwischen gesichertes rechtliches Allgemeingut aller zivilisierten Länder und ich sage nur, daß die Bundesrepublik durch eine Ergänzung des Art. 103 des Grundgesetzes zum Ausdruck bringen soll, klarstellen soll, daß sie dies auch für ihr Territorium, für ihren Bereich, anerkannt hat. Es hat nichts damit zu tun, daß die Rechtsprechung, die bisher nicht auf solche Vorschriften zurückgreifen konnte und mit dieser sogenannten Radbruch’schen Formel arbeiten mußte, nicht zu akzeptieren sei. Wenn man die Urteile, die der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit dem Grenzregime gesprochen hat, liest, dann stellt man auch fest, daß die Radbruch’sche Formel konkretisiert worden ist, nämlich dadurch, daß die Grenze zum Unerträglichen heute schon viel genauer durch die internationalen Vereinbarungen zum Schutze der Menschenrechte zu bestimmen ist.

TP: Die historischen Aspekte wurden von Herrn Ziegler angesprochen. Sind Sie der Meinung, daß diese Aspekte genügend bei den heutigen Urteile gewürdigt werden, seien es nun Urteile gegen Grenzsoldaten oder Urteile gegen Funktionäre?

Schaefgen: Also, ich kann nur wiederholen: Es wäre bedauerlich, wenn wir auf dem Stand von 1945 stehengeblieben wären, was den Schutz der Menschenrechte anbetrifft. Und es wäre auch schlimm, wenn man also sagen müßte, es gab und gibt schreckliche Dinge in der Welt, nämlich die Verbrechen des Nationalsozialismus, Kriegsverbrechen und Völkermord, aber alles was in seiner kriminellen Dimension dahinter zurückbleibt, kann strafrechtlich nicht erfaßt werden, wenn man sich bei der Beantwortung der Frage „können einem Staat bei der Disposition über die Menschenrechte Grenzen gesetzt werden“? nur an dem Niveau derartiger Verbrechen orientieren dürfte. Ich sage es noch mal, die Menschenrechte sind weiterentwickelt worden und es geht schlicht um die Frage, ob der Tatbestand, der heute unter Inanspruchnahme der Radbruch’schen Formel zu einer Strafbarkeit führt, wirklich ein solcher ist, in dem man sagen kann, hier ist der Staat über das hinausgegangen, was ihm erlaubt ist. Ich meine schon, daß dies der Fall ist, wobei die Rechtsprechung gar nicht mal in die Gesetzeslage eingreifen muß, weil das Grenzgesetz eine andere Handhabung des Grenzregimes zugelassen hat. In dem Grenzgesetz stand kein starrer, keiner Auslegung zugänglicher Befehl zum Töten, wenn die Flucht nicht anders zu verhindern war. Im Recht der DDR ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verankert. Die DDR war Mitglied der UNO, sie hat sich dem Pakt über Internationale bürgerliche und politische Rechte angeschlossen und dadurch auch zu erkennen gegeben, daß das Menschenrechtsverständnis, das in diesem Pakt zum Ausdruck gekommen ist, auch für sie gelten sollte, daß also eine rechtliche Verpflichtung der DDR zur Beachtung dieser Grundsätze bestand. Die DDR hatte die Möglichkeit, das Grenzgesetz so auszulegen. Sie hat das nicht getan, indem sie das Gesetz überlagert hat durch Befehle zum Schießen, in denen es klar hieß, daß „Grenzdurchbrüche“ nicht zuzulassen, daß „Grenzverletzer“ festzunehmen bzw. zu vernichten seien. Für mich ist es nicht mehr hinnehmbares schwerstes Unrecht, wenn tatsächlich der Schutz einer Grenze, es geht gar nicht um den Schutz des Staates, sondern wirklich um den Schutz der Grenze, für wertvoller angesehen wird als das menschliche Leben. Die DDR wäre nicht ausgeblutet, wenn an der Grenze von der Schußwaffe anders Gebrauch gemacht worden wäre, wenn die Minen nicht gelegt worden wären und nicht die Todesautomaten angebracht worden wären. Es gab andere Möglichkeiten, die Bevölkerung am Verlassen des Staates zu hindern, wenn man es überhaupt als ein schützenswürdiges Interesse ansehen will, Menschen, die wegen der unmenschlichen Verhältnisse nicht mehr im Lande bleiben wollen, die Freiheit zum Verlassen des Landes zu nehmen. Strafrechtlich muß man differenzieren zwischen dem Grenzregime als solchem und der praktischen Ausgestaltung durch den Gebrauch der Schußwaffe und den Einsatz sonstiger tödlicher Mittel. Eine solche Grenzsicherung, die nicht gegen Eindringlinge, sondern gegen die eigene Bevölkerung gerichtet war mit der Praxis des rücksichtslosen Schußwaffengebrauchs bei grundsätzlicher Annullierung des Ausreiserechts, gab und gibt es in keinem anderen zivilisierten Land der Welt. Es ist durch nichts zu rechtfertigen.

TP: Herr Ziegler, zur Geltung internationalen Rechts im innerstaatlichen Bereich, ist dazu nicht irgendwo eine Transformation in den innerstaatlichen Bereich notwendig?

Ziegler: Das kommt auf das staatliche Recht an. In der DDR war es tatsächlich so, daß die völkerrechtlichen Verträge nur dann innerstaatliches Recht werden konnten, wenn sie durch einen Transformationsakt, ein Transformationsgesetz zum innerstaatlichen Recht gemacht wurden. Das ist in der DDR für den hier interessierenden Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht geschehen. Der Bundesgerichtshof hat das natürlich auch so gesehen, aber trotzdem im Zusammenhang mit der Anwendung der Radbruch’schen Formel den Internationalen Pakt für politische und bürgerliche Rechte herangezogen, und zwar im Wege der Auslegung. Er sagt, aus diesem Packt ergeben sich bestimmte Grundsätze, die die DDR zu berücksichtigen hatte.

TP: Müssen die Juristen heute das ausbaden, was die Politiker vor 45 Jahren versäumt haben und was Herr Schaefgen heute auch wieder fordert bzw. dafür plädiert, für die Auffüllung des Artikels 103 Grundgesetz.

Ziegler: Ich meine, daß es natürlich erstrebenswert ist, ein Grundgesetz zu schaffen, das einen Idealzustand beschreibt. Die Juristen von heute müssen jedoch keine Versäumnisse der Vergangenheit ausbaden, sie müssen lediglich das geltende Recht einschließlich des Rückwirkungsverbotes anwenden und die rechtlichen Grenzen beachten.

TP: Die Justiz wird für die Anwendung der Radbruch’schen Formel gescholten. In gewissem Sinne wird es von ihnen ja auch erwartet, daß sie sie anwenden und demzufolge auch das „ausbaden“ für das, was gesetzlich hätte klarer geregelt werden können.

Ziegler: Ja, natürlich. Man hätte auch einen klaren Bruch vollziehen können, indem man offen bekennt, daß für bestimmte Bereiche das Rückwirkungsverbot nicht angewandt wird. Mit der Anwendung der Radbruchschen Formel wird es den Stafrichtern überlassen, zu bestimmen, in welchen Fällen das Rückwirkungsverbot gilt oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist daher noch einen anderen Weg gegangen und erklärte schlicht, wer in einem Unrechtsstaat Verantwortung trug, der darf sich nicht auf den Vertrauenstatbestand des Artikels 103 Grundgesetz, also das Rückwirkungsverbot, berufen, der kann also nicht sagen, es gab ein Gesetz, das mein Handeln gerechtfertigt hat, sondern muß sich, so die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes, entgegenhalten lassen, daß er zum Zeitpunkt seines Handelns erkannt haben muß, daß er Unrecht begeht, das nicht durch irgendein Gesetz gedeckt ist.

TP: Herr Schaefgen, Friedrich Schorlemmer fordert eine Generalamnestie für 1999. Wäre das nicht mal eine Möglichkeit, endlich einen Schlußstrich unter alle möglichen juristischen, politischen und sonstigen Diskussionen zu ziehen?

Schaefgen: Ich kann das nicht ganz nachvollziehen, warum ein bestimmtes Jahr der Grund für eine Amnestie sein soll. Jubelamnestien gab es in der DDR, aber die hatten andere Gründe als friedensstiftend zu wirken. Es ist doch so, eine Amnestie ist ein Eingriff in das Strafrecht und die Anwendung des Strafrechts hat den Sinn, Rechtsfrieden zu schaffen. Nur dann, wenn man feststellt, daß in bezug auf dieses Ziel das Strafrecht mehr schadet als nutzt, wenn man also Unfrieden durch Strafverfolgung erzeugt, dann muß man daran denken, einen anderen Weg zu gehen. Ich sehe für einen Kurswechsel keinen Anlaß, wenn ich mir die Reaktionen auf die letzten Verurteilungen ansehe, und ich kann nicht in die Zukunft schauen und nicht sagen, wie es 1999 sein wird. Ich glaube aber auch nicht, daß dann die Situation eine andere ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hoffe ich, daß wir die strafrechtliche Aufarbeitung dieses Kapitels der deutschen Geschichte weitgehend abgeschlossen haben werden.

TP: Herr Ziegler, sehen Sie durch die strafrechtliche Aufarbeitung eine Gefahr, daß hier der Rechtsfrieden oder der sonstige soziale Frieden gestört wird und eine Amnestie einfach notwendig ist?

Ziegler: Also, ich sehe die Gefahr eigentlich nicht. Ich sehe eher die Gefahr, daß Gleichgültigkeit und Desinteresse eintritt. Ich glaube auch, unabhängig davon, wie man die Urteile gegen ehemalige Mitglieder des Politbüros bewertet, daß sich in der Bevölkerung das Mitleid in Grenzen hält.

Unabhängig davon bleibt jedoch zu fragen, ob die Prozesse, so, wie sie geführt wurden und werden, und wie die Entscheidungen im Einzelfall ergingen, dem anzuwendenden Recht und dem Grundgesetz entsprechen. Ich meine, eine abschließende Bewertung wird erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen können.

TP: Was soll nun geschehen?

Ziegler: Ich denke, man sollte darüber nachdenken, ob es einen Zeitpunkt gibt, also vielleicht ein historisches Datum, zum Beispiel 1999, um in bestimmten Bereichen eine Amnestie auszusprechen, weil ich meine, daß bei manchen Angeklagten, insbesondere Mauerschützen, die Prüfung der individuellen Schuld zu kurz gekommen ist.

TP: Herr Schaefgen, Herr Ziegler, vielen Dank für dieses Gespräch.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto-Abbildung: (von links) Rechtsanwalt Wolfgang Ziegler, Berlin und Generalstaatsanwalt Berlin Christoph Schaefgen

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