Eine Verjährung für alle Verbrechen in der DDR ist nicht angemessen.

TP-Interview mit Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident Sachsen-Anhalt.

TP: Herr Höppner, in einem Interview mit Günter Gaus haben Sie gesagt, der Einigungsvertrag sei unter westdeutschen Beamten ausgehandelt worden. Könnten Sie das bitte erläutern?

Höppner: Richtig ist, daß wir auf der Seite der DDR im Grunde genommen für dieses große „Unternehmen Einigungsvertrag“ nicht hinreichend vorbereitet waren. Und daß selbst die Vorbereitungsschritte, die in den damaligen DDR-Ministerien gemacht worden sind, unter Mitwirkung von Beratern aus dem Westen gemacht wurden, die in den Ministerien bereits gearbeitet haben. Die meisten Lösungsvorschläge für die im Einigungsvertrag zu lösenden Fragen sind aus Bonn gekommen, und es ist auch kein Geheimnis, daß der Verhandlungsführer, Herr Krause, gerade in der letzten Phase nicht sehr energisch das vertreten hat, was auf der Ostseite – zum Teil sogar von der Volkskammer per Beschluß – gewünscht worden war. Wir hatten in der Volkskammer – gerade was die Vergangenheit anbetrifft – einmal eine Debatte dahingehend gehabt, daß sich die Volkskammer eindeutig geäußert hatte, wie sie etwas zu regeln wünschte und gleichzeitig ist in Bonn über etwas anderes verhandelt worden – von unseren Vertretern. Das, denke ich, sind Signale dafür, daß wir an dieser Stelle nicht sehr starke Verhandlungsführer gewesen sind. Wir standen damals auch unter einem erheblichen Druck. Ich erinnere nur daran, daß die Eigentumsprobleme, die uns dann in den Folgejahren sehr viele Probleme machten und von denen wohl heute aus Abstand eine deutliche Mehrheit sagt, daß sie falsch geregelt worden sind, ein Problem geworden sind, die uns kurz vor dem Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion in der Anlage zu diesem Vertrag zur Kenntnis gegeben wurden. Wir haben damals unsere Bedenken geäußert, aber wir sind auch nicht in der Lage gewesen, den Vertrag kippen zu lassen, bloß weil die Eigentumsfragen nicht richtig geregelt worden sind. Jeder stelle sich einmal vor, wir hätten vierzehn Tage bevor die Leute das erhoffte Westgeld bekommen, erklärt, dieser Vertrag wird von der Volkskammer nicht verabschiedet, weil die Eigentumsfragen nicht richtig geregelt worden sind. Das hätte keiner in der DDR verstanden und hätte uns große Schwierigkeiten gemacht. Das heißt, unsere Schwäche lag einerseits in der nicht ausreichenden Kenntnis über die tatsächliche Situation in der DDR und den Fragen, die im Zusammenhang mit der Einigung geregelt werden müssen, andererseits auch darin, daß offenbar eine Mehrheit in der Bevölkerung – auf alle Fälle aber auch eine deutliche Mehrheit in der Volkskammer – eine schnelle Einigung wollte. Und manche sogar unter der Überschrift: „Egal wie, aber Einheit!“ Und das ist keine gute Verhandlungsposition.

TP: Also haben Herr Modrow und andere nicht ganz unrecht, wenn sie sagen, man sei gewissermaßen übertölpelt worden?

Höppner: Herr Modrow muß dann allerdings dazu sagen, daß er die Übertölpelung gut vorbereitet hat. Denn schließlich ist das DDR-System zusammengebrochen, es war auf sein Ende auch nicht vorbereitet. Wenn Herr Modrow hätte dafür sorgen wollen, daß wir nicht übertölpelt werden, dann hätte er ja seine Apparate von Anfang an darauf vorbereiten können, daß solche Verhandlungen kommen und daß man die hinreichenden Kenntnisse sich erwirbt in den Monaten, in denen er regiert hat. Insofern ist seine Aussage vielleicht nicht grundsätzlich falsch, aber doch ein Ausdruck fehlender eigener Verantwortung für die geschichtlichen Prozesse, die dann abgelaufen sind.

TP: Aber ein eigener Verfassungsentwurf wurde von der PDS doch auch mit vorbereitet?

Höppner: Ein eigener Verfassungsentwurf wurde vom Runden Tisch vorbereitet. Das war derjenige, der eigentlich zur Debatte stand. Es ist dann in den ersten Sitzungen der Volkskammer und am Rande dieser politischen Verhandlungen der Märzwahl von 1990 die Frage intensiv diskutiert worden, ob wir noch eine DDR-Verfassung machen sollen. Dazu war aber offenkundig zu wenig Zeit. Jeder weiß, eine Verfassungsberatung dauert Monate, oft sogar Jahre. So viel Zeit hatten wir nicht mehr.

TP: Weil der Druck zu groß war?

Höppner: Nein, wir mußten ja schon kleinere Verfassungsänderungen machen, damit die Volkskammer ihre Tagung überhaupt beginnen konnte. Ich erinnere daran, daß wir in der ersten Volkskammersitzung die Verfassung ändern mußten, weil die DDR-Verfassung zum Teil Geschäftsordnungsbestimmungen enthalten hat, die für die Konstituierung der Volkskammer gar nicht praktikabel gewesen sind. Das heißt, einzelne Verfassungsänderungen waren nötig, um überhaupt in Gang zu kommen. Wir hätten also, selbst wenn wir noch eine neue Verfassung gemacht hätten, die alte DDR-Verfassung ändern müssen. Ich erinnere daran, daß beispielsweise das Treuhandgesetz nur durch Verfassungsänderung zu kriegen war, daß wir natürlich die Dinge, die mit der führenden Rolle der Arbeiterklasse zusammenhingen und die entsprechenden Passagen auch über die sozialistische Wirtschaft aus der Verfassung herausnehmen mußten, um Elemente von Marktwirtschaft einführen zu können. Und es hat sich dann in der Diskussion klar ergeben, daß wir nicht mehr in der Lage sind, eine solche Verfassung zu machen. Es hat dann noch eine offizielle Übergabe dieses Verfassungsentwurfes des Runden Tisches in der Volkskammer gegeben mit vielen Unterschriften, die dafür gesammelt wurden. Ich habe die bis zum Schluß in meinem Schranke aufbewahrt. Aber wir hatten nicht mehr die Kraft. Man kann sich einfach mal vorstellen, wieviele Gesetze die Volkskammer verabschiedet hat. Das war überdimensional. Das war so, daß noch nicht einmal alle Abgeordneten alle Gesetze gelesen hatten, die sie verabschiedeten. Und da war überhaupt keine Zeit mehr, noch an einer Verfassung zu arbeiten.

TP: Nun wird ja heute von denjenigen Funktionsträgern, die vor Gericht stehen, auch von Grenzsoldaten und Generälen, aber auch Richtern und Staatsanwälten aus der ehemaligen DDR, behauptet, ihre Verurteilung widerspreche dem Einigungsvertrag. Denn der sähe vor, daß sie nur nach DDR-Recht verurteilt werden dürften. Ist es ein Verstoß gegen den Einigungsvertrag, daß diese Personen alle vor Gericht stehen und nun auch, wie sie sagen, von einer westdeutschen Justiz verfolgt werden?

Höppner: Sie meinen jetzt wahrscheinlich die Prozesse, die insbesondere im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der Mauer stehen?

TP: Beispielsweise.

Höppner: An der Stelle habe ich auch den entsprechenden Vertretern gegenüber klar und eindeutig erklärt, daß es sich dabei um einen wirklich normalen und rechtsstaatlich abgesicherten Vorgang handelt. Jeder Polizist jetzt, aber auch früher im Westen – und wenn es rechtsstaatlich zugegangen wäre, auch im Osten – wird, wenn er einen Menschen erschießt – im Dienst, auch in der Erfüllung seiner Aufgabe -, ein Ermittlungsverfahren bekommen, bei dem überprüft wird, ob die gesetzlichen Bestimmungen, die für die Polizei zu dieser Zeit galten, auch tatsächlich eingehalten worden sind.

TP: Also ein normaler formeller Vorgang.

Höppner: Das ist ein normaler formeller Vorgang. Der endet gelegentlich mit der Einstellung der Ermittlungen, wenn sich bei den Ermittlungen herausstellt, daß alles in Ordnung gewesen ist. Wenn da Zweifel bestehen, dann kommt es gegebenenfalls zu einer Anklage, aber auch zu einem Freispruch, wenn sich herausstellt, daß die Dinge nicht den Tatbestand – zum Beispiel der Körperverletzung oder fahrlässigen Tötung – begründen. Das gleiche muß in einem Rechtsstaat für alle gelten.

TP: Sind in der DDR jemals Ermittlungsverfahren wegen der Todesschüsse an der Mauer eingeleitet worden?

Höppner: Das ist eben der entscheidende Punkt, der jetzt das „Thema Aufarbeitung“ von DDR-Vergangenheit betrifft. Dies ist in der DDR nicht geschehen. Im Gegenteil: Es ist in der DDR so gewesen, daß solche Dinge sehr schnell vertuscht worden sind, daß die Betroffenen aus der Truppe versetzt wurden, damit ja nicht darüber geredet wird. Das heißt, hier war juristisch ein Hindernis der Aufklärung gegeben. Das heißt weiter, man konnte erst nach 1990 die Ermittlungen aufnehmen. Und ich denke, daß es im Interesse der Soldaten und Offiziere selber sein muß, daß jetzt noch mal geklärt wird, was da rechtens und was da nicht rechtens gewesen war. Und wer sich die Prozesse anschaut, stellt fest, daß dabei konsequent geurteilt worden ist, nicht etwa nach westdeutschem, sondern nach dem Recht, das zu DDR-Zeiten galt. Es ist nur das Verfahren eines Rechtsstaates angewendet worden, das es zu DDR-Zeiten eben nicht gegeben hat. Und wer das nüchtern betrachtet, stellt auch fest, daß die Urteile, die da ausgesprochen wurden, der Sache wirklich angemessen sind. Man kann sagen, Verurteilungen, also Leute, die Strafen wirklich absitzen mußten, hat es eigentlich nur in den Fällen gegeben, in denen es sich nicht um Schußwaffengebrauch im Zusammenhang mit einer Festnahme gehandelt, sondern de facto Hinrichtungen gewesen sind. Und ich denke, daß mit diesen Problemen ausgesprochen angemessen umgegangen worden ist. Schwieriger ist die Frage, nachträglich politisch Verantwortliche dafür nach rechtsstaatlichen Maßstäben zu beurteilen. Denn die Frage, welche Verantwortung hat ein Grenzoffizier eines bestimmten Abschnittes für das Verhalten seiner Grenzsoldaten, ist mehr eine politische denn eine rechtsstaatliche Frage. Da wird gelegentlich behauptet – und ich glaube, daß das in vielen Fällen auch stimmt -, daß die Belehrungen, die es vor jeder Wache gegeben hat, eher eine Ermutigung zum Schußwaffengebrauch gewesen sind als ein Hinweis darauf, wie problematisch ein solcher Gebrauch auch ist und daß man die entsprechenden, ja wohl international geltenden Regeln auch einhalten muß. Aber die Frage, ob die Belehrungen richtig gewesen sind, jetzt nachträglich rechtsstaatlich zu werten, ist natürlich außerordentlich schwierig. Da entsteht ein Problem – das wird keiner bestreiten können. Aber es kann auch keiner im Moment Urteile nennen, die nicht nach wirklich vernünftigen rechtsstaatlichen Maßstäben gefällt worden wären. Ich kenne keinen Grenzoffizier, der wegen solcher allgemeinpolitischen Dinge jetzt etwa in Haft sitzen würde.

TP: Nun wird ja von denjenigen, die wegen der Todesschüsse an der Mauer oder Grenze vor Gericht stehen, der § 27 des Grenzgesetzes als Rechtfertigungsgrund ins Feld geführt. Ist dem nicht so, und wären demzufolge nicht strafrechtliche Tatbestände bei der Be- und Verurteilung außen vor zu lassen?

Höppner: Also wenn ein Polizist bei der Festnahme einen Menschen erschossen hat, dann kann er zur Rechtfertigung auch das Polizeigesetz heranziehen, das so etwas zuläßt. Er kann aber damit nicht unterbinden, daß der Fall untersucht wird, daß geprüft wird, ob das Polizeigesetz wirklich eingehalten worden ist. Wer schon die Überprüfung verhindern will, erweckt doch eher den Eindruck, daß die Dinge nicht ordentlich abgelaufen sind. Sonst bräuchte er ja vor den Ermittlungen keine Angst zu haben. Also ich glaube, da ist ein Grundmißverständnis, das wir im Rechtsstaat auch in anderen Fällen haben, nämlich das Mißverständnis, daß ein Ermittlungsverfahren bereits eine Verurteilung ist. Dieses Mißverständnis ist allerdings auch gelegentlich durch die Berichterstattung über solche Prozesse befördert worden. Ich glaube, an der Berichterstattung über diese Grenzprozesse muß manches kritisiert werden. Es ist ja im Rechtsstaat normal, daß Prozesse geführt werden, aber bevor derjenige nicht verurteilt ist, der vor Gericht steht, ist er unschuldig. Und diese Unschuldsvermutung ist, glaube ich, bei den Berichten über solche Prozesse nicht immer hinreichend berücksichtigt worden.

TP: Hat die Justiz in der DDR denn überhaupt Bemühungen entfaltet, solche Sachen zu überprüfen oder sind sie von vornherein daran gehindert worden von politischer Seite?

Höppner: Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es irgendwelche Prozesse zu DDR-Zeiten gegeben hätte wegen eines nicht rechtmäßigen Gebrauchs von Schußwaffen an der Grenze. Und da es einige Fälle gegeben hat, in denen sie offenkundig nicht rechtmäßig gebraucht worden ist, kann man wohl davon ausgehen, daß das in der DDR einfach nicht verfolgt worden ist. Es war der DDR offenbar lieber, daß man da keine Verunsicherung unter die eigenen Soldaten bringt. Man war eher daran interessiert, daß sie ohne Skrupel von der Waffe Gebrauch machen als daß einem daran gelegen war, rechtsstaatliche Maßstäbe, auch internationalen Rechtes, einzuhalten. Das ist das Problem. Und übrigens: Es wird jetzt immer sehr intensiv auf die Schüsse an der innerdeutschen Grenze gesehen. Meiner Ansicht nach wird aber zu wenig wahrgenommen, daß die gleichen Regeln im Grundsatz etwa für die Bewachung militärischer Objekte in Kasernengebäuden zu gelten haben. Ich bin ja selber bei der Nationalen Volksarmee gewesen und weiß, daß an unserer Kasernenmauer von der Schußwaffe Gebrauch gemacht worden ist, daß da Menschen verletzt worden sind, die illegal über die (Kasernen) Mauer wollten. Und diese Dinge gehören genauso in den Untersuchungsauftrag solcher Vorgänge hinein, wie die Schüsse an der (Berliner) Mauer. Meine Sorge ist ein bißchen, daß man die politisch spektakulären Dinge sieht, aber möglicherweise andere rechtsstaatlich genauso zu bewertende Vorgänge nicht genau genug in den Blick genommen hat.

TP: Tragen denn die politisch Verantwortlichen, die im letzten Jahr noch vor Gericht gestanden haben und jetzt verurteilt worden sind, mehr als nur politische oder moralische Schuld?

Höppner: Das wage ich nicht einzuschätzen, das müssen auch wirklich die Gerichte klären. Denn ich könnte doch bestenfalls die politische Verantwortung einschätzen; da glaube ich schon, daß viele zu schnell die politische Verantwortung von sich wegschieben. Die Frage beispielsweise der Installation von Selbstschußanlagen an der Grenze ist eine Entscheidung gewesen, die für mich schwerlich mit internationalem Recht in Einklang gebracht werden kann. Und dafür müßten diejenigen, die die Entscheidung gefällt haben, auch die politische Verantwortung übernehmen. Da ist freilich die Frage, wie weit geht das eigentlich bei der Übernahme der politischen Verantwortung, wenn wir wirklich davon ausgehen, daß diejenigen, die an politischen Systemen mitwirken, alle ein Stück Verantwortung tragen. Dann sind es eben nicht nur die Politbüromitglieder, die die Verantwortung tragen, dann sind es auch diejenigen, die die Errichtung der Mauer in der Volkskammer abgesegnet haben mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Das heißt, dann betrifft es übrigens auch nicht nur die SED-Funktionäre, dann betrifft es auch andere politische Verantwortungsträger in dem damaligen DDR-System, in den Blockparteien, das heißt, die Frage der politischen Verantwortung in der DDR, wie sie wahrgenommen worden ist von den Einzelnen, ist noch nicht offen genug diskutiert worden. Nach meinem Eindruck ist das durch die Suche nach Menschen, die man verurteilen kann, ein bißchen erschwert worden. Man redet leichter über die Wahrheit, wenn nicht die Gefängnisstrafe im Hintergrund steht. Und im Blick auf die politische Verantwortung müßten wir im Grunde genommen alle ein bißchen daran mitwirken, daß die Wahrheit ans Licht kommt und daraus nicht unbedingt immer rechtliche Verurteilungen werden müssen. Ich erinnere daran, daß man in Südafrika ja bei viel gravierenderen Verstößen gegen die Menschenrechte sehr viel anders vorgegangen ist – mit den sogenannten Wahrheitskommissionen, in denen gesagt worden ist: Wer da zur Wahrheitsfindung beiträgt und Dinge eingesteht, in die er selber schuldhaft verstrickt war, wird für diese Dinge nicht mehr bestraft. Und ein ähnliches Element in der DDR-Vergangenheit hätte uns möglicherweise geholfen, auch noch mal ein bißchen offener über die Verstrickungen in das politische System von vielen anderen zu reden.

TP: Für individuelle Schuld gibt es, wenn strafrechtlich relevante Tatbestände tangiert sind, maximal Knast. Was jetzt tun mit solchen, die politische Verantwortung dafür getragen haben?

Höppner: Zunächst muß man sagen, daß die meisten, die ja politische Verantwortung getragen haben, durch die Wende des Herbstes 89/90 von dieser politischen Verantwortung abgelöst worden sind. Das ist eigentlich der normale demokratische Weg. Wenn jemand politische Positionen vertreten hat, die falsch waren, die die Mehrheit der Bevölkerung nicht will, dann wählt man sie ab. Und dann tragen sie keine politische Verantwortung mehr. Und andere gehen bessere Wege.

TP: Egal, ob sie jetzt Geld – oder was weiß ich was – veruntreut oder Tote an der Mauer zu verantworten haben?

Höppner: Bei den Toten an der Mauer sind wir ja bei den Prozessen. Das ist schon noch mal eine Sache, die gerichtlich zu untersuchen ist. Aber bei den darüber hinausgehenden ist es in der Tat so, daß dann eine Ablösung passiert…

TP: … und sie in die Rente geschickt werden …

Höppner: … und die werden in die Rente geschickt; gut, es kommt allerdings auch ein Element dazu, das auch der westlichen Demokratie durchaus vertraut ist, nämlich, daß Menschen dazulernen und daß sie sich ändern. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik, wenn man einfach mal sich die besonders aufregenden skandalträchtigen Geschichten überlegt, Vorfälle, wo jemand politisch für schlimme Dinge verantwortlich gewesen ist und trotzdem nach einer gewissen Zeit wieder in die Politik hineingekommen ist und politische Verantwortung übernommen hat.

TP: Stehaufmännchen-Effekt…

Höppner: Ja, den Stehaufmännchen-Effekt hat es auch gegeben. Es gibt ja auch Leute, die wieder in die Politik kommen und nichts dazugelernt haben. Es gibt auch wirklich Leute, die dazugelernt haben und dann sagen: Für einen gewissen Bereich will ich jetzt doch – ja fast im Sinne von Wiedergutmachung – etwas vernünftiges zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Das, denke ich, muß in einer Gesellschaft möglich sein. Was wäre denn, wenn wir uns alle nur auf unsere Fehler in der Vergangenheit festlegten? Dann würden wir uns gegenseitig blockieren. Das kann es auch nicht sein. Es gibt ja im Recht tatsächlich die Elemente der Bestrafung, und wenn die Strafe dann abgesessen ist oder abgegolten, dann ist dieser Mensch auch wieder zu behandeln wie ein normales Mitglied der Gesellschaft. Und das muß im Grunde genommen auch bei der politischen Auseinandersetzung im Grundsatz gelten.

TP: Dient das, was heute hier geschieht, die strafrechtliche Bewältigung der DDR-Vergangenheit, überhaupt der inneren Vereinigung?

Höppner: Ich glaube, daß das, was da getan wird, im wesentlichen notwendig und unabweislich ist. Jeder, der durchspielt, was im inneren Stand Deutschlands passieren würde, wenn wir das nicht machten, dem wird klar, daß wir dazu gar keine Alternative haben. Aber es gab auch eine Illusion, als würde diese Art der Aufarbeitung dazu führen, daß es dadurch zu einer Aussöhnung in der Gesellschaft kommt und daß das das Zusammenwachsen zwischen Ost und West befördert. Das glaube ich nicht. Ich glaube, daß das Zusammenwachsen zwischen Ost und West von ganz anderen Faktoren abhängt. Ich glaube, daß die Trennung, die wir immer noch zwischen Ost und West spüren, inzwischen emotional fast mehr begründet ist durch die Erfahrungen, die wir seit der Wende gemacht haben, wo Ost und West nicht immer so miteinander umgegangen sind, daß da Vertrauen wachsen konnte. Ich denke da nur mal an den Wirtschaftbereich, in dem mancher aus dem Westen versucht hat, im Osten auch sein Schnäppchen zu machen. Das hat das Zusammenwachsen nicht gefördert. Ich glaube aber, wir sollten die Frage des Zusammenwachsens zwischen Ost und West und die Frage der rechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auseinanderhalten. Das sind zwei Dinge, die nicht so sehr parallel laufen, wie das in mancher öffentlichen Diskussion dargestellt wird.

TP: Wie lange soll das mit der strafrechtlichen Aufarbeitung noch weitergehen? Irgendwann muß doch mal Schluß sein. Es werden jetzt Stimmen laut, die von Amnestie reden. Friedrich Schorlemmer zum Beispiel fordert zum 9. Oktober 1999, also zehn Jahre nach dem Tag, an dem in Leipzig die ersten Leute auf die Straße gingen, eine Generalamnestie. Die Auseinandersetzung soll zwar noch weitergehen, aber mit der strafrechtlichen Verfolgung soll Schluß sein. Ist das ein gangbarer Weg, den Friedrich Schorlemmer fordert?

Höppner: Wir haben ja intensive Diskussionen über Verjährungsfristen gehabt. Wieder jetzt am Jahresende 1997 die Frage, ob die Verjährungsfrist noch einmal verlängert werden soll.

TP: Für die mittlere Kriminalität.

Höppner: Für die mittlere Kriminalität. Ich habe energisch dafür plädiert, daß es nicht noch einmal eine Verlängerung gibt, weil ich glaube, daß die Dinge inzwischen alle hinreichend bekannt sind und daß dem Rechtsstaat ein größerer Schaden zugefügt wird, wenn man je nach politischer Stimmungslage Verjährungsfristen verlängert, denn auch Verjährungsfristen haben etwas mit der Befriedung von Gesellschaft zu tun, die ja grundsätzlich eine Aufgabe auch von Justiz ist. Ich glaube aber, daß wir konsequent dabei bleiben sollten, daß Mord nicht verjährt. Und das gilt auch für Morde, die zu DDR-Zeiten begangen wurden. Und insofern ist eine Verjährung für alle Verbrechen, die es zu DDR-Zeiten gegeben hat, nicht angemessen. Allerdings sollte sich keiner davon versprechen, daß wir da noch sehr viele Dinge auf den Tisch bekommen. Dinge, die zur DDR-Zeit passiert sind und die man überhaupt noch vernünftig rekonstruieren kann, sind im wesentlichen bekannt und werden verfolgt. Die Frage eines Schlußstriches kommt immer wieder hoch, weil natürlich auch eine ganze Menge Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zwischen Ost und West inzwischen entstehen – und das vor allen Dingen für mich im Bereich der Vereinigungskriminalität, der wirtschaftlichen Vereinigungskriminalität.
Ich kann nicht einsehen, warum die Tat eines Westdeutschen, der nach 1990 auf betrügerische Weise sich Eigentum im Osten erworben hat, inzwischen verjährt ist, weil das nach westdeutschem Recht zu beurteilen ist, und ein Berliner, der nicht anderes getan hat, nun noch weiterer strafrechtlicher Verfolgung unterliegt. Alle Fragen der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und der Zeit danach müssen nun wirklich acht, neun oder zehn Jahre nach der Vereinigung unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, ob es weiter zu einer Ungleichbehandlung zwischen Ost und West kommt oder ob wir nicht wirklich Schritte der Gleichbehandlung vergleichbarer Straftaten in beiden Teilen Deutschlands machen müssen.

TP: DDR-Bürger haben die Wiedervereinigung geschafft. Sie sind auf die Straße gegangen. Mit der vollzogenen Wiedervereinigung, habe ich das Gefühl, kommen sie ein bißchen schlechter klar und beklagen sich. Woran liegt das?

Höppner: Zunächst an der Illusion, als wenn wir die Wiedervereinigung gemacht hätten. Ich bin ja mit auf die Straße gegangen und kann darum einfach sagen „wir“. Eigentlich muß man aus dem Abstand sagen, wir haben den Zeitpunkt bestimmt, und wir haben mit dafür Sorge getragen, daß diese Revolution des Herbstes 89 friedlich verlaufen ist. Aber der Fall der Mauer ist im Grunde genommen das Ergebnis eines offenkundig schon längere Zeit angelegten und unvermeidlichen historischen Prozesses. Die wirtschaftliche Entwicklung war so weit vorangekommen, daß eine Abgrenzung nicht mehr möglich war. Wir reden heute alle von Globalisierung, und im Grunde genommen war der erste Schritt zur Globalisierung der Fall der Mauer. Das hatte sich schon dadurch bemerkbar gemacht, daß die Wirtschaft im Osten absolut am Ende war. Sie konnte ohne die internationalen Verflechtungen, auch dem wissenschaftlichen und technologischen Wettbewerb, überhaupt nicht nicht mehr standhalten. Das heißt, die DDR ist aufgrund wirtschaftlicher Schwäche zusammengebrochen – wie dann letzten Endes der gesamte Ostblock. Dies wäre früher oder später gekommen. Auch wenn wir im Herbst 89 nicht auf die Straße gegangen wären, wäre dieser Zusammenbruch nicht aufhaltbar gewesen. Wir haben mit unseren Kerzen den Zeitpunkt bestimmt, wir haben dafür gesorgt, daß das friedlich vonstatten gegangen ist, daß wir einen einigermaßen demokratisch geordneten Übergang hatten durch die Arbeit der Volkskammer in diesem halben Jahr. Aber weil es eben ein Prozeß war, der größer war als unsere Aktion des Herbstes 89, kam dann schließlich auch der Eindruck: Das haben wir nicht gewollt. So, wie es dann gelaufen ist, war es nicht in unseren Köpfen, als wir auf die Straße gingen. Und das können viele im Osten schwer verkraften, zumal es ihnen gelegentlich auch vom Westen vorgeworfen wird; wenn man sich über die Zustände jetzt beklagt, hört man gelegentlich: Ihr habt das doch so gewollt, nun regt euch nicht auf. Und dann kann man schwer dagegen an, indem man sagt: So haben wir das nicht gewollt. Die Wahrheit auf beiden Seiten ist gut begründet, die da genannt wird; denn schließlich sind die Westdeutschen ja auch nicht gefragt worden, ob sie die Ostdeutschen haben wollten. Aber wir müssen uns damit anfreunden, daß wir einen historischen Umbruch in den 90er Jahren erleben, von dem wir ein Teil sind und daß wir plötzlich herausgefordert sind, eine neue Gesellschaft zu gestalten und ein anderes Deutschland, das mehr ist als nur das Zusammengehen von zwei früher getrennten Staaten.

TP: Wäre diese Ungleichbehandlung, die Sie selber beklagt haben, nicht ein Grund, mal wieder auf die Straße zu gehen oder sich mal anders wieder bemerkbar zu machen – lautstark?

Höppner: Ich glaube, daß diese Tatsache allen ganz präsent ist – in Ost und in West übrigens – und daß man deswegen nicht auf die Straße gehen muß, um auf ein Problem aufmerksam zu machen. Wir sind vielmehr in der Situation, daß wir das Problem alle kennen, in den Analysen ziemlich gut sind, aber keine Lösungsvorschläge haben. Und zwar auch die Gutwilligen – im Osten wie im Westen – haben für die vor uns liegenden Probleme keine schlüssigen Lösungskonzepte parat, sondern bestenfalls die richtigen Fragen, um nach den Lösungen zu suchen. Und Lösungen für Probleme findet man nicht durch Demonstrationen. Demonstrationen sind dafür da, auf Probleme aufmerksam zu machen, die möglicherweise nicht deutlich genug wahrgenommen werden. Das scheint mir bei der Ost-West-Problematik und bei der Frage etwa der wirtschaftlichen Entwicklung, bei der Frage, wie die Arbeitslosigkeit bewältigt werden kann, nicht das Problem zu sein. Wir kennen die Dramatik der Situation ziemlich genau.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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