Parteitage sind manchmal Maskenbälle.

Daniel Friedrich Sturm hat eine umfangreiche Studie über die deutschlandpolitischen Differenzen der Sozialdemokraten in der Wendezeit 1989/90 geschrieben.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Als (der heutige Berliner Innensenator) Ehrhart Körting (SPD) im August 1989 seine Partei aufforderte, jegliche Rücksicht auf den SED-Staat aufzugeben, stand er auf ziemlich verlorenem Posten. Durch seine Äußerungen haben sich, wie das der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Daniel Friedrich Sturm in seiner jetzt auch als Buch erschienenen Dissertation in Erinnerung ruft, die deutschlandpolitischen Akteure in der Berliner SPD angegriffen gefühlt. Körtings Fraktionskollege im Berliner Abgeordnetenhaus, Alexander Longolius, setzte dagegen: “Ich halte das für eine modisch-konservative Attacke gegen die Entspannungspolitik in der SPD, so wie sie von der CDU heute gar nicht mehr kommen würde.“ Körting wurde für seine Vorschläge, wie er gegenüber Sturm während dessen Recherchen beklagte, in der eigenen Fraktion “lautstark gema߬regelt“ und zuweilen als “Schmuddelkind“ behandelt.

Wie in der Berliner SPD dachte auch in der Bundes-SPD zunächst kaum jemand daran, “die Ost- und Deutschlandpolitik unserer Partei zu korrigieren“. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hielt (noch) an den “Prinzipien der sozialdemokratischen Ost-und Deutschlandpolitik“ fest, bei der die “Sicherung des Friedens“ vor “Erhaltung und Ausbau der Freiheit“ rangierte. Widerstand regte sich gleichwohl innerhalb der SPD gegen die auf das so genannte Status-quo-Denken gerichtete (Ost-) Politik. Während Egon Bahr weiterhin auf der Position verharrte, Veränderungen könne es nur mit dem System, mit der SED geben, forderte der damalige Vor¬sitzende des SPD-Parteirates, Norbert Gansel, seine Partei auf, die SPD “müsse den von Bahr im Jahre 1963 begründeten “Wandel durch Annäherung“ angesichts der Unfähigkeit der SED zu Reformen durch einen “Wandel durch Abstand“ ersetzen“. Wie Körting in Berlin – der sich erst kürzlich wieder unbeliebt machte, weil er die Staatssicherheit der DDR mit Hitlers Waffen-SS unstatthaft gleichgesetzt hatte – erntete Gansel wenig bis kein Verständnis für seine Parolen. Der Bundestagsabgeordnete und Präses der Synode der EKD, Jürgen Schmude, sah in Gansel “aus heutigem Blick einen Mann, der sich lange nicht für die DDR interessiert hatte und plötzlich ’die damals populäre Auffassung’ vertreten habe, ’nun müsse man da kräftig draufhauen … Mir leuchtete das nicht ein, denn ich haue gerne so drauf, daß der Partner sich noch bewegen kann und nicht erstarrt’“.

Kritik an ihrer Deutschlandpolitik erfuhr die SPD schon Anfang 1989 aus den eigenen Reihen. So forderte etwa der Bundestagsabgeordnete Hans Büchler mit Blick auf Egon Bahr, die Deutschlandpolitik müsse “soweit wie möglich aus der Grauzone vertraulicher und diplomatischer Absprachen heraus“. Der Architekt der Ostverträge, der bereits 1988 betonte, daß der europäische Friede wichtiger sei als die deutsche Einheit, habe jedoch keinen Anlaß für eine Kurskorrektur gesehen und der “Massenexodus von DDR-Bürgern, deren Flucht in bundesdeutsche Botschaften und über grüne Grenzen“ ihn ebenso wenig beeindruckt.
Nach dem Fall der Mauer im November 1989 trieb die Frage der Einheit den schon vorher gesetzten Keil immer tiefer in die Partei. Während Alt-Bundeskanzler Willy Brandt auf das Zusammengehen, die Gemeinsamkeit setzte (“Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“), betonte der damalige (West) Berliner Regierende Bürgermeister, Walter Momper, die Eigenständigkeit der DDR. Er warnte vor einer Beteiligung der SPD an einer Wiedervereinigungskampagne. Eine solche, gab er zu bedenken, mobilisiere allein nationalistische Gefühle, aber widme sich nicht dem, was den Menschen wichtig sei. Die deutsche Frage sei europäisch zu lösen.

Auf die am 7. Oktober 1989 in Schwante gegründete Ost-SPD (SDP) zuzugehen, wurde zunächst kein Anlaß gesehen. Auf dem Parteitag der SPD im Dezember 1989 sprach Oskar Lafontaine sogar davon, daß er den Sozialismus nicht als gescheitert betrachte und verwies darauf, das Christentum sei nicht tot, nur weil im Namen des christlichen Glaubens Verbrechen begangen wurden.

Für Sturm erweist sich dieser Parteitag als Höhepunkt deutschlandpolitischer Verirrungen. So habe Brandt euphorisch für die Einheit gesprochen, Lafontaine sich kämpferisch dagegen gewandt. Wenn Vogel bestreite, daß sich die Reden Brandts und Lafontaines diametral gegenüberstanden und behaupte, die Texte der Reden gäben das nicht her, so irre er. Daß Brandt nach Lafontaines Rede aufge¬standen und diesem die Hand geschüttelt habe, sei kein Beweis für eine Übereinstimmung. “Parteitage“, so Sturm, “sind manchmal „Maskenbälle.“
Besonders hart wurde in der SPD um die (Zustimmung zur) Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWU) gerungen. Während z.B. Klaus von Dohnanyi warnte, wer sich gegen die rasche WWU wende, erhöhe die Zahl der Übersiedler, habe bei anderen “das ökonomische Denken dominiert, aus dem heraus die offensichtlichen Gefahren der WWU ins Visier genommen wurden“. So haben etwa der damalige Bundesbankpräsident Pöhl und Alt-Bundeskanzler Schmidt – wie Sturm meint, zutreffend – auf den absehbaren Zusammenbruch des Comecon und den Kollaps vieler Betriebe in der DDR hingewiesen. Andere wiederum wehrten sich aus ideologischen Gründen gegen jeden Schritt einer deutsch-deutschen Annäherung. Sturm verweist hier auf die damalige Juso-Vorsitzende Susi Möbbeck, die in der D-Mark das System des verhaßten Kapitalismus und in Kohl einen Nationalisten gesehen habe. Auch der ehemalige Kanzleramtsminister Manfred Lahnstein bezeichnete eine rasche Währungsunion als Augenwischerei und ein Stück BRD-Imperialismus. Für Horst Ehmke war “der nachhaltigste Eindruck, den der Ressortentwurf des Staatsvertrages mit der DDR“ hinterließ, “dessen Anschlußcharakter“. Die DDR werde unter westdeutsche Oberhoheit gestellt, “unsere Rechtsordnung der DDR übergestülpt“, gab er zu bedenken. Schröder und Lafontaine, damals noch im Einklang, lehnten die WWU als einzige im Bundesrat ab. Beide betonten zwar, keine Einheitsgegner zu sein, hielten aber “den eingeschlagenen Weg für falsch“.
Durch Interviews mit mehr als 50 Akteuren und der Heranziehung vielfältiger unveröffentlichter Dokumente gibt Daniel Friedrich Sturm, Redakteur bei der Tageszeitung “Die Welt“, eine profunde Darstellung über sozialdemokratisches Denken und Handeln in der Wendezeit 1989/90. Die Schilderung über Entstehung und Entwicklung der SDP in der Noch-DDR kommt dabei nicht zu kurz. Mit entschiedenen, vermeintlichen oder mutmaßlichen Einheitsgegnern geht Sturm hart ins Gericht. So unterstellt er etwa, daß “der eine oder andere vollends verwirrte Sozialdemokrat nach neuem Mörtel [rief] – um den Status quo zu bewahren und die klaffenden Spalten im Beton des Kalten Krieges wieder zu schließen“. Daß es denen womöglich tatsächlich nur um die Vermeidung von Blutvergießen ging und sie die deutsche Einheit lediglich aus guten Gründen in eine europäische Einheit eingebunden wissen wollten, läßt der zur Wendezeit 16jährige Sturm nur bedingt gelten. Für ihn wünschten sich Sozialdemokraten um Bahr, Lafontaine und Momper in erster Linie nur “mit teilweise absurden Argumenten den Status quo zu zemen¬tieren“. Nicht zufällig zitiert er Egon Bahr aus einem Interview mit der “Jungen Welt“ vom 13. Februar 1990, in dem Bahr auf die Frage, was er “aus der DDR mit in die deutsche Einheit nehmen“ wolle, antwortete: “Wir haben in der Bundes¬republik eine Gesellschaft der Oberflächlichkeit. Ich wünsche mir, daß die Menschlichkeit hier Euch erhalten bleibt und auf uns vielleicht überschwappt.“ Dafür hatte der Autor wohl angesichts Mauer und Stacheldraht keinerlei Verständnis.

Etwas merkwürdig mutet es schließlich an, daß Sturm in seiner Studie einen Namen außen vor läßt: Günter Schabowski, den so genannten Maueröffner. Er fehlt auch völlig im Namensverzeichnis. Zu Ehren bringt es dort eine ganz andere Person: “Thomas Gottschalk, Unterhaltungskünstler.“ Was der da ernsthaft soll, weiß er – Wetten, daß…? – wahrscheinlich auch nicht so genau.

Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2006, 520 Seiten, 29,90 Euro.

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