Michèle Winkler, Referentin des Komitees
für Grundrechte und Demokratie e.V., hat heute Morgen Klage gegen den Freistaat
Sachsen, vertreten durch die Polizeidirektion
Chemnitz, eingereicht. Ihr war am 1. September 2018 nach ihren Angaben in
Chemnitz mit rund 350 weiteren Demonstrierenden über mehr als vier Stunden
hinweg die Freiheit entzogen worden. Sie wurde von der Polizei ohne Begründung
in einen schon bestehenden Polizeikessel geschoben. Die Klägerin sieht sich dadurch
in ihren Grundrechten verletzt. Rechtsanwalt Christian Mucha, der Michèle Winkler vertritt, sagte zur
Klagebegründung: „Für das Vorgehen der Polizei in dieser Situation gibt es
keine Rechtsgrundlage; es lagen weder die Voraussetzungen des Sächsischen
Polizeigesetzes, noch die der Strafprozessordnung für eine solche Maßnahme
vor.“
Juliane Nagel, die als Mitglied des
Sächsischen Landtags vor Ort die Situation beobachtete, erklärte:
„Am Roten Turm wurden durch die Polizei wahllos Menschen zusammengetrieben
und festgesetzt. Das ist keine Bagatelle, sondern Freiheitsentziehung.
Zahlreiche Menschen haben sich noch im Nachhinein bei mir gemeldet und fordern
Aufklärung des Polizeihandelns!“
Die Freiheitsentziehung durch Einkesselung der rund 350 Personen habe im Rahmen
der Gegenproteste anlässlich mehrerer Aufmärsche rechter Akteure wie der AfD, Pegida und Pro Chemnitz am 1.
September 2018 stattgefunden. Ein Großaufgebot der Polizei mit entsprechend
armierter Ausrüstung sei über Stunden widerrechtlich damit beschäftigt gewesen,
die Identität der eingekesselten und festgesetzten Gegendemonstrant*innen
festzustellen. Gegen 22 Uhr ließ sie die rund 230 noch nicht Identifizierten
aus dem Polizeikessel frei. Währenddessen seien an anderen Stellen an diesem
Tag vielfach Pressevertreter*innen bedroht, tätlich angegriffen und verletzt worden[1].
Zudem wurden an diesem Abend eine Gruppe der Marburger SPD [2] und ein Mann mit
afghanischem Pass Opfer rechter Gewalt [3].
Juliane Nagel kommentiert das Vorgehen der Polizei:
„Die Polizei hat sich auf der einen Seite stundenlang mit einer Maßnahme
beschäftigt, deren Sinn höchst zweifelhaft bleibt und konnte in anderen Teilen
der Stadt mehrere Menschen wie schon an den Vortagen nicht vor rechter Gewalt
schützen. Diese Prioritätensetzung ist nicht hinnehmbar.“
Die Klägerin, Michèle Winkler, äußert sich zu weiteren Gründen der
Klageeinreichung:
„Hier handelt es sich um ein strukturelles Problem der Polizei,
die – ganz besonders in Sachsen – allzu oft versammlungs- und
grundrechtsfeindlich agiert. Besonders in der gefährlich aufgeheizten Stimmung
in Chemnitz in den Spätsommertagen 2018 kann es kein Verständnis für das
Polizeihandeln an besagtem Tag geben. Während sich viele Menschen wegen der
großen Zahl an Nazis in der Stadt nicht sicher bewegen konnten, verbrachte die
Polizei Stunden damit, sich an uns abzuarbeiten. Sie erklärte uns zunächst alle
des Landfriedensbruchs verdächtig. Den Vorwurf führte sie später selbst ad
absurdum, als sie plötzlich die Kesselung aufhob und alle verbliebenen Personen
ohne Identitätsfeststellung gehen ließ.“
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie setzt sich seit Jahrzehnten für eine
ungehinderte Ausübung der Grundrechte, im Speziellen der
Versammlungsfreiheit entlang der Linien des Brokdorf-Urteils von 1983 ein. Das
Recht, sich zu versammeln, ist eine der wenigen, im Grundgesetz gegebenen
Möglichkeiten, sich als Bürger*innen unmittelbar öffentlich zu äußern und
selbst die Art der Öffentlichkeit thematisch und formal zu bestimmen. Im Fokus
der Arbeit des Grundrechtekomitees standen dabei regelmäßig die Beobachtung und
Bewertung von Polizeimaßnahmen, die die ungehinderte Ausübung dieses
Grundrechts einschränken.
[1] https://www.tagesschau.de/inland/chemnitz-uebergriffe-101.html
[2] https://www.hessenschau.de/gesellschaft/marburger-spd-gruppe-offenbar-in-chemnitz-ueberfallen,marburger-gruppe-chemnitz-100.html
[3] https://taz.de/Polizeibilanz-zu-Demos-in-Chemnitz/!5532721/