„Jetzt müssen wir ihm den Rückweg versperren, falls es sich um ein Versehen gehandelt haben sollte.“

Bundesrat-Interview mit Walter Momper.

Nur wenige Stunden nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 hielt Walter Momper, damals Bürgermeister von West-Berlin, seine erste Rede als neugewählter Bundesratspräsident. Seine Präsidentschaft begann mit dem Mauerfall und endete mit der deutschen Einheit. Im Interview spricht er über die ereignisreiche Nacht vom 9. November, die unsichere Lage an der Mauer, den Zettel von Günther Schabowski und die Umwälzungen in Ost und West und ihre Auswirkungen auf den Bundesrat.

Herr Momper, am 10. November 1989 leiteten Sie Ihre Antrittsrede als neuer Bundesratspräsident mit den Worten ein: Ich habe heute Nacht nicht geschlafen.

Bis auf drei Stunden.

Die Mauer war geöffnet worden. Mussten Sie Ihre ursprüngliche Rede in den Papierkorb schmeißen.

Ja, ich habe sie nachts neu geschrieben.

Sie fuhren in Ihrer Rede fort, hohe Lasten und große Probleme würden auf alle Länder der Bundesrepublik zukommen. Sie haben so getan, als ob am 10. November bereits alles geritzt wäre?

Es war nicht erst am Morgen geritzt, es war schon am Abend zuvor geritzt, als sie die Leute rüber gelassen haben. Ich bin 10. November morgens um 7 Uhr nach Bonn geflogen und habe gleich nach Ankunft die Senatskanzlei angerufen und gefragt, was ist an der Grenze los? Sie sollte nämlich ursprünglich morgens um 8 Uhr wieder geschlossen werden. Da berichtete der Chef der Senatskanzlei, das können die nicht mehr rückgängig machen. Es sei denn, sie zetteln einen Bürgerkrieg an.

Wie haben Sie die Stimmung im Bundesrat in Bonn erlebt?

Freudig. Überwältigt vor Freude.

Wurde im Anschluss an die Sitzung gefeiert?

Ich hatte keine Zeit, ich musste um 13 Uhr vor Ende der Sitzung nach Berlin zurück. Am Nachmittag gab es ja die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus mit Helmut Kohl, der seine Polenreise abbrach, und Willy Brandt. Da musste ich hin.

Sind Sie mit einem normalen Linienflugzeug geflogen?

Nein, die Amerikaner hatten eine Galaxy-Maschine zur Verfügung gestellt, in der man normalerweise Panzer transportiert. Wir waren zu fünft, drei Mitarbeiter, die Bundessenatorin und ich.

Warum bloß dieses Riesenflugzeug?

Das war ein Witz. Allerdings waren wir dadurch unabhängig. Der Flieger hatte auf uns auf dem Flughafen in Köln-Bonn gewartet.

Sie hatten zuvor am 30. Oktober ein Gespräch mit Günter Schabowski und dem Bürgermeister von Ost-Berlin. Über was haben Sie gesprochen?

Erst einmal über die Lage in der DDR. Da war der Schabowski ganz offen und zog über Honecker und seine ewig gestrige Art her, auch über einige andere, den Chef des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Harry Tisch, der zu viel Alkohol trinke. Am Ende des Gesprächs nach zwei, drei Stunden deutete er an, es werde Reisefreiheit geben. Ich habe ihn gefragt, was er darunter versteht? Jeder, der reisen kann, darf ausreisen, jeder, der zurückkommen will, darf zurückkommen. Sie wüssten noch nicht, wie sie es regeln, sie wollten es aber noch vor Weihnachten tun. Wir haben dann überlegt, wie viele Menschen am ersten Tag nach Westberlin kommen würden. Wir schätzten 500.000. Schabowski beruhigte: Machen Sie sich mal keine Sorgen, das können wir regeln. Es haben ja überhaupt nur zwei Millionen DDR-Bürger einen Pass.

Warum war ausgerechnet der 9. November der Tag der Maueröffnung?

Das weiß ich auch nicht. Wir hörten, dass am 9. November das Politbüro die Reisefreiheit behandeln würde. Der Gesetz-Entwurf wurde an Krenz gegeben, dem obersten neuen Chef nach Honecker. Der hat ihn in der Mittagspause rumgehen lassen. Anschließend ist die Reiseregelung im Zentralkomitee der SED beschlossen worden. Da war Günter Schabowski immer draußen. Beim Rausgehen fragte er Egon Krenz: Hast du noch etwas, was ich verkünden soll? Er gab ihm einen Zettel. Schabowski las ihn nicht direkt, er wusste nur, dass es um die Reisefreiheit ging. Anschließend fand die Pressekonferenz von 17 bis 19 Uhr statt. Zum Ende wird Schabowski nach der Reiseregelung gefragt. Er erinnert sich an den Zettel und liest den Inhalt vor – zum ersten Mal.

Wo waren Sie während der Pressekonferenz?

Im Springer-Hochhaus zur Verleihung des ´Goldenen Lenkrads`. Die Senatskanzlei hielt mich über die Ereignisse auf dem laufenden. Der Chefredakteur der Berliner Morgenpost, der die Pressekonferenz aufgezeichnet hatte, spielte mir die Passage vor. Ich wunderte mich, warum Schabowski nicht, wie verabredet, 14 Tage vorher Bescheid gegeben hatte. Es war klar: Jetzt müssen wir ihm den Rückweg versperren, falls es sich um ein Versehen gehandelt haben sollte.   Dann bin ich mit Blaulicht zum SFB gefahren, wo die Berliner Abendschau gerade gesendet wurde. Ich wurde gefragt: Was halten Sie von der Regelung? Meine Antwort war: Das ist der Tag, auf den wir 28 Jahre lang gewartet haben. Wir freuen uns sehr, dass alle zu uns kommen können. Wenn Sie nach West-Berlin fahren wollen, lassen Sie bitte die Trabis und Wartburgs zuhause. Benutzen Sie die Busse und U-Bahnen!

Waren Sie später auch an einem Grenzübergang?

Ja, am Grenzübergang Invalidenstraße, weil ich den am besten kannte. Ein Westberliner Polizist reichte mir ein Megafon und ich stellte mich auf einen Tisch. Ich hatte Angst, dass die DDR-Grenzsoldaten den Kontrollpunkt zumachen. Ich wollte den vielen Menschen sagen, dass sie aus dem Kontrollpunkt rausgehen sollen. Sie jubelten nach jedem Halbsatz. Ich hätte genauso gut das Telefonbuch vorlesen können.

Was konnten Sie als Bundesratspräsident in diesem besonderen Amtsjahr bewirken?

Ich konnte ein paar Dinge mit der Bundesregierung regeln. Wir mussten viel Geld in den Ausbau des Verkehrs und der Post in den neuen Bundesländern investieren. Helmut Kohl ließ sich nicht lumpen. Er hat den Bundesfinanzminister so bearbeitet bis er ihn dort hatte, wo er ihn haben wollte.

Irgendwann kippte die Euphorie der Menschen in der DDR. Wie haben Sie das als Präsident erlebt?

Weniger als Präsident als auf der Straße. Es war schrecklich zu erfahren, dass die Betriebe platt gemacht werden mussten und die Arbeitslosigkeit zunahm, DDR-Ware auf einmal nichts mehr zählte, sondern nur noch Tomaten aus Holland oder H-Milch aus Westdeutschland.

Kam 1989/90 schon die Frage auf, ob der Bundesrat nach Berlin umziehen soll?

Ja, darüber haben wir bald gesprochen. Doch Nordrhein-Westfalen sträubte sich. Das war hanebüchen. Irgendwann hat der Bundesrat kapiert, wenn er in Bonn bleibt, wird er die zweite Geige spielen.

Wie werden Sie den 30. Jahrestag der Maueröffnung begehen?

Auf einer Gedenkveranstaltung.

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin (Archiv)

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