„Aus den Verbrechen der Vorfahren erwächst Verantwortung fürs Heute und das Morgen“.

Rede von Michelle Müntefering, Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, anlässlich der Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Haus der Wannseekonferenz.

Sehr geehrter Herr Dr. Hans-Christian Jasch,

lieber Klaus Lederer,

sehr geehrte Frau Éva Fahidi,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

Exzellenzen,

Massenmord und Verbrechen werden selbst dem Tod zu viel. Und so beschließt er, vorerst seinen Dienst zu verweigern. Das ist das Thema der Oper „Der Kaiser von Atlantis“, für das der jüdische Komponist Viktor Ullmann die Musik schuf. Er schuf sie im Konzentrationslager Theresienstadt, in das er 1942 deportiert wurde. Dort vertonte er übrigens auch das jiddische Gedicht „Beryozkele“. Wir werden die Musik später noch hören.

Woher jemand die Kraft nimmt, in den dunkelsten Tagen solche Musik zu schaffen, es erscheint beinahe unerklärlich. Leider beschrieb diese Oper nur eine Vision, eine Hoffnung. Der Tod hatte nicht abgedankt, im Gegenteil. Am 16. Oktober 1944 wurde Viktor Ullmann nach Auschwitz deportiert. Zwei Tage später starb er. Er wurde vergast.

Meine Damen und Herren,

es gibt viele Menschen, die für seinen und den Tod von Millionen weiterer Jüdinnen und Juden verantwortlich sind. Das ist die Verantwortung, die Deutschland zu tragen hat. Und die Pflicht, daran zu erinnern. Fassungs- und sprachlos, ja entsetzt über die Abgründe menschlichen Handelns und Denkens ist man, wenn man auf das schaut, was vor 78 Jahren hier an diesem Ort geschah. 15 Männer kamen hier damals zusammen. Hochrangige Vertreter der NS-Regierung und der SS-Behörden. Das Protokoll, dessen einzig verbliebene Kopie im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts liegt, lässt keinen Zweifel: Sie waren sich der Dimension ihres Tuns bewusst. Land für Land haben sie die jüdische Bevölkerung aufgelistet – man kann es in der Ausstellung sehen, die ich mir gerade kurz angeschaut habe -, die der so genannten „Endlösung“ – was für ein zynisches Wort – zugeführt werden sollten. Sie kamen auf 11 Millionen. Sie taten das detailliert, gründlich – und vollkommen gewissenlos.

Einer dieser Männer hieß Martin Luther. Er war Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt. Zum Treffen nahm er eine Liste mit: „Wünsche und Ideen“ stand darauf. „Wünsche und Ideen“ in Bezug auf den millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Es bleibt ungeheuerlich. Und doch ist es Teil unserer Geschichte. Der deutschen, aber auch der des Auswärtigen Amts.

In diesem Jahr wird uns das wieder sehr bewusst. 2020 gedenken wir auch der 150-jährigen Geschichte des Auswärtigen Amts. Die Mitwisser- und Mittäterschaft an den Menschheitsverbrechen der Nazis spielt dabei eine zentrale Rolle. Es geht dabei nicht allein um Verantwortung für und vor unserer Geschichte. Es geht auch darum, im Hier und Jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen. Unseren moralischen Kompass immer wieder zu überprüfen und auszurichten.

Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgt diese neu konzipierte Ausstellung. Sie tut das, indem sie sich nicht nur auf die Täter konzentriert, die hier am 20. Januar zusammenkamen. Sondern die Verstrickung eines großen Teils der Gesellschaft zeigt und deutlich macht, dass die Shoah eben kein isoliertes Verbrechen einiger weniger an der Staatsspitze war. Die Umsetzung des Mordprogramms war nur möglich, weil auf allen Ebenen viele, viele Einzelne mitgemacht haben. Erschütternde Zeugnisse davon sind in dieser Ausstellung zu sehen. Etwa:

– die schriftliche Denunziation einer untergetauchten jüdischen Frau durch ihre Nachbarin. Die Behörden sollten schnell handeln, schreibt die Nachbarin, sonst entkomme die junge Frau noch.

– Oder der Brief eines Soldaten an seine Frau: „Männer, Frauen und Kinder, alles umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Mache Dir keine Gedanken darüber, es muss sein.“

„Es muss sein.“ Wie häufig wohl wurde mit solchen oder ähnlichen Worten das Verbrechen ummantelt, die eigene Verantwortung fortgeschoben und das eigene Gewissen, sofern überhaupt vorhanden, beruhigt? Nein, es musste nicht sein. Mehr noch: es durfte nicht sein.

Dass es möglich war, sich zu widersetzen, auch das zeigt diese Ausstellung sehr deutlich – und bricht damit ganz bewusst mit der Täterperspektive. Indem sie ihnen Menschen wie Heintz Güntzlaff gegenüberstellt, der einem jüdischen Mitbürger sein Ausweisdokument gab, um dessen Foto einzufügen. Es bewahrte ihn vor dem Tod.

Beispiele wie dieses zeigen: Niemand musste im National-sozialismus zwangsläufig zum Täter werden. Wer es doch wurde, wie die Akteure der Wannseekonferenz, der kann keine mildernden Umstände für sich in Anspruch nehmen. Der hat sich schuldig gemacht.

Meine Damen und Herren,

es ist richtig, dass das Haus der Wannseekonferenz die Frage, wie solche Verbrechen geschehen konnten, noch mehr als bisher in den Mittelpunkt stellt. Denn die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung ist leider auch heute wieder erschreckend relevant. Antisemitische Anfeindungen sind erneut Alltag geworden in Deutschland. Jüdinnen und Juden werden offen auf unseren Straßen angegriffen oder anonym im Internet bedroht und beschimpft.

Mehr als zwei antisemitische Vorfälle pro Tag hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus im ersten Halbjahr 2019 gezählt – und das nur hier, in Berlin! Wie tödlich die Gefahr ist, hat der Angriff in Halle gezeigt, als zwei Menschen umkamen und nur eine Tür Dutzende weitere Menschenleben rettete. So verwundert es nicht, dass 44 Prozent der Juden in Deutschland schon einmal übers Auswandern nachgedacht haben. Eine Zahl, die mich erschrecken lässt.

Der Kampf gegen Antisemitismus muss deshalb oberste Priorität haben. In Deutschland. Aber auch in Europa. Denn diejenigen, die Hass schüren, die Feindbilder nutzen, um die eigene dumpfe Ideologie zu rechtfertigen, die sind in ganz Europa unterwegs. Sie, die rechten Populisten und Nationalisten sind es, die den Nährboden schaffen für Antisemitismus, Hass und Gewalt. Wir haben uns deshalb vorgenommen, den Kampf gegen Antisemitismus zu einem Kernanliegen zu machen, wenn wir ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Strafverfolgung und ein besserer Schutz jüdischer Einrichtungen gehören ebenso dazu wie Bildungs- und Integrationsmaßnahmen. Auch den Kampf gegen Hasskriminalität und Desinformation im Internet wollen wir während unserer Präsidentschaft intensivieren.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, dass ich heute in Vertretung für Bundesaußenminister Maas diese Ausstellungseröffnung wahrnehmen darf und zu Ihnen sprechen kann. Der Bundesminister richtet Ihnen allen seine Grüße aus. Dass er heute nicht hier sein kann, bedauert er sehr. Aber – Sie haben es gerade gehört und in der Zeitung gelesen – die heutige Libyen-Konferenz erfordert natürlich auch seine Anwesenheit. Und auch ich bitte um Verständnis, wenn ich gleich zum Flughafen aufbrechen muss.

Sehr gerne hätte ich den nachfolgenden Reden zugehört. Aber ich habe gerade schon gesagt: ich komme noch einmal wieder mit mehr Zeit. Es ist ein bedrückender Moment, wenn man an diesen Ort kommt. Ich habe gerade auch mit den Mitgliedern des Beirates gesprochen, dass wir in der nächsten Zeit noch einmal die Gelegenheit haben, intensiv zu sprechen.

Ich muss rechtzeitig nach Brüssel. Ich darf die Bundesregierung bei der Ministerkonferenz der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken vertreten. Deutschland kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Ab März übernehmen wir erstmals den Vorsitz der IHRA. Deren Geburtsstunde war vor genau 20 Jahren die Stockholmer Erklärung, in der sich Teilnehmer aus knapp 50 Staaten verpflichtet haben, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und gegen Antisemitismus zu kämpfen.

Ein Schwerpunkt unseres Vorsitzes bei der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken wird sein, wie wir mit der wachsenden historischen Unkenntnis, aber auch der bewussten Verfälschung des Holocaust umgehen – in der Öffentlichkeit, in Gedenkstätten, aber auch online. Denn obwohl es noch nie so einfach wie heute war, an Informationen zu kommen, schwindet das Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen.

Gedenkstättenleiter wie Sie, Herr Dr. Jasch, berichten davon, dass Schülergruppen viel weniger mit den Fakten vertraut sind als früher. Und laut einer Studie wissen 40 Prozent der jungen Deutschen nach eigener Einschätzung fast nichts über die Shoah. Umso wichtiger, dass es Menschen wie Sie gibt, Frau Fahidi, die seit vielen Jahren die Erinnerung wach halten. Ich freue mich, dass wir uns heute kurz kennen lernen konnten. Ihre Lebensgeschichte hat mich tief ergriffen.

Ich bewundere Sie für Ihren Mut, sich dem Erlebten nach so vielen Jahren noch einmal zu stellen. Und ich bin beeindruckt von Ihrer Energie, diese Geschichte zu erzählen. Sie haben gerade gesagt: auch wenn Geschichten nicht gern gehört, sie müssen erzählt werden. Und dabei auch nichts auszulassen. Uns nicht zu schonen. Das ist bewundernswert und hat unser Aller Dank verdient!

Sie berichten aus eigenem Erleben vom Grauen und zeigen, wozu Antisemitismus und Rassismus führen können. Und sensibilisieren damit vor allem junge Leute. Doch leider gibt es immer weniger Zeitzeugen, die ihre Geschichten erzählen können. Frau Fahidi, Sie haben einmal gesagt, die Zeit „danach“ müsse eine neue Art der Erinnerungskultur einläuten, an der sich „alle beteiligen müssen“. Und das ist so wahr! Das Haus der Wannseekonferenz hat sich dieser Herausforderung gestellt. Ein Resultat ist diese Ausstellung. Sie ist nun zugänglicher als die vorherige – und nicht nur rein physisch, weil Wert auf Barrierefreiheit gelegt wurde. Sie setzt weniger Wissen voraus und arbeitet mehr mit visuellen Medien. Sie macht Gedenken nicht nur zum Erinnerungs-, sondern zu einem Erkenntnisprojekt. Das ist der richtige Weg. Erinnern muss gegenwärtig sein und nicht museal – ohne zu relativieren. Erinnern lebt vom Austausch, vom Hinsehen und vom Hinterfragen. 

Meine Damen und Herren,

der Komponist Viktor Ullmann bewahrte sich noch in Theresienstadt seinen Glauben an das Gute im Menschen. Die positiven Kräfte, so hoffte er, würden am Ende über jedes tyrannische Regime siegen. Heute wissen wir: Damit sich die positiven Kräfte durchsetzen, braucht es jede und jeden Einzelnen von uns.

Das ist auch die Botschaft dieser Ausstellung: Aus den Verbrechen der Vorfahren erwächst Verantwortung fürs Heute und das Morgen. Die Verantwortung, nie wieder gleichgültig zu sein.

Herzlichen Dank!

Fotoquelle (Archiv): TP Presseagentur Berlin

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