Die Justiz agiert nicht blindwütig.

TP-Interview mit Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff.

Frage:

Herr Dr. Wolff, der Bundesgerichtshof wird am 25. Juni aufgrund der Revision der Berliner Staatsanwaltschaft über die Freisprüche in Sachen Böhme, Häber und Lorenz befinden.
Aufgrund mir zugegangener Informationen werden die Freisprüche keinen Bestand haben.
Haben Sie nicht doch irgendwo gehofft, daß mal ein positiver Schlußstrich unter das mehr als zehn Jahre andauernde Kapitel „Strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit“ gezogen wird?

Dr. Wolff:

Sie haben Recht, ich habe jahrelang gehofft, daß ein positiver Schlußstrich unter das Kapitel „Strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit“ gezogen wird. Heute bedarf es eines Schlußstriches eigentlich nicht mehr, da das Reservoir der Anklagen auf diesem Gebiet praktisch erschöpft ist. Es gibt zwar noch Einzelfälle, die verhandelt werden, doch stellen sie wegen der geringen Zahl kein politisches Problem mehr dar.

Frage:

Wie haben Sie überhaupt persönlich auf die Freisprüche im Juli 2000 reagiert? Hatten Sie in etwa das Gefühl, Sie befinden sich in einem „falschen Film“?

Dr. Wolff:

Nein, ich hatte nicht das Gefühl, in einem „falschen Film“ zu sein. Ich hatte vielmehr im Laufe der Gerichtsverhandlung das Gefühl, es könne ein Freispruch werden. Der Staatsanwalt machte einen zunehmend unzufriedenen Eindruck, und das bestärkte mich in diesem Gefühl. Ich hatte überhaupt den Eindruck, daß die Berliner Richter, die mit den Grenzprozessen und den Rechtsbeugungsprozessen, also mit der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung zu tun hatten, zunehmend unglücklicher über die ihnen auferlegte Pflicht waren.

Frage:

Wieso gab es überhaupt zwei Politbüro-Prozesse? Warum saßen die Politbüromitglieder Böhme, Häber und Lorenz, wenn es denn schon sein mußte, nicht bereits mit Kleiber, Krenz und Schabowski auf der Anklagebank? Eine Platzfrage wird es ja wohl nicht gewesen zu sein?

Dr. Wolff:

Die Frage, warum es überhaupt zwei Politbüro-Prozesse gegeben hat, vermag ich nicht sicher zu beantworten. Diese Frage kann nur von der Staatsanwaltschaft beantwortet werden. Es war natürlich keine Frage des Platzes im Gerichtssaal. Mann hätte selbstverständlich alle Politbüromitglieder auf die Anklagebank setzen können. Das Problem war nach meiner Ansicht, daß man nicht wußte, wie man eine Anklage rechtlich begründen könne. Im Laufe der Jahre hat man dann offenbar den Weg gefunden, der mit der Anklage im zweiten Politbüro-Prozeß beschritten worden ist.

Frage:

Freisprüche gab es ja nicht zum ersten Mal vor dem Landgericht Berlin in Grenzangelegenheiten. Nach meiner Kenntnis auch welche, die vor dem Bundesgerichtshof Bestand hatten. Oder umgekehrt, daß Verurteilungen gegen Grenzsoldaten vom BGH aufgehoben wurden und später in einer Wiederholungsverhandlung freigesprochen wurde. So eindeutig scheint die Beweislage also nicht immer gewesen zu sein. Oder wie ist das alles zu verstehen, wenn es doch eine klare Order zum Schießen an der deutsch-deutschen Grenze gegeben haben soll, für die ja schließlich die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (Streletz, Keßler und Albrecht) und des Politbüros (Kleiber, Krenz und Schabowski) verurteilt worden sind?

Dr. Wolff:

Die früheren Freisprüche in Verfahren wegen der Schüsse an der Grenze unterschieden sich von dem Freispruch im zweiten Politbüro-Prozeß juristisch fundamental. Die früheren Freisprüche beruhen darauf, daß den Angeklagten die Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Der Freispruch durch das Landgericht im zweiten Politbüro-Prozeß beruhte jedoch auf der Rechtsüberzeugung des Gerichts, daß die Angeklagten gegen das DDR-Recht…

Frage:

… das ja nach dem Einigungsvertrag die eigentliche Grundlage für die Verfahren wegen abzuurteilender Straftaten in der ehemaligen DDR bilden soll …

Dr. Wolff:

… nicht verstoßen hatten. Es ist nicht die Beweislage, die in diesem Verfahren eine Rolle spielte, sondern die rechtliche Würdigung der festgestellten Tat. Der Vergleich zwischen den beiden Prozessen zeigt, wie kompliziert es für die bundesdeutsche Justiz war, die Verurteilung der Angeklagten rechtlich zu begründen. Im ersten Politbüro-Prozeß war die Anklage genau wie im zweiten Politbüro-Prozeß darauf gestützt worden, daß die Angeklagten es unterlassen hätten, die Schüsse an der Grenze zu verhindern. Dieser Anklage war das Gericht im ersten Politbüro-Prozeß…

Frage:

… gegen Kleiber, Krenz und Schabowski …

Dr. Wolff:

… nicht gefolgt, sondern hatte im Eröffnungsbeschluß den strafrechtlichen Vorwurf darauf gestützt, daß die Angeklagten den Tod der Flüchtlinge durch ihr Handeln, also eben nicht durch ihr Unterlassen, verursacht hätten. Dieses Handeln soll zum Beispiel in der Bestätigung eines Redemanuskripts des Ministers für Nationale Verteidigung anläßlich eines Jahrestages der Grenztruppen bestanden haben.
Im zweiten Politbüro-Prozeß wurde die Anklage wieder darauf gestützt, daß die Angeklagten es unterlassen hätten, die Schüsse an der Mauer zu verhindern. Diesmal folgte das Gericht dieser Anklage…

Frage:

… verschärfte sie also nicht, wie es im ersten Politbüro-Prozeß geschehen ist …

Dr. Wolff:

… und eröffnete das Hauptverfahren im gleichen Sinne. Im Urteil stellte das Gericht jedoch fest, daß ein solches Unterlassen nach dem Recht der DDR nicht strafbar gewesen wäre.

Frage:

Der BGH hat in einem Fall, der zunächst mit einem Freispruch endete, festgestellt, daß die offiziellen Anweisungen zwar keine Tötung gedeckt, sondern nur Schüsse zur Herbeiführung der Fluchtunfähigkeit. Also diese offiziellen Anweisungen im Einklang waren mit Vorschriften des Grenzgesetzes der DDR, wonach das Leben eines Grenzverletzers nach Möglichkeit zu schonen ist. Dennoch hob der BGH den Freispruch mit der Begründung auf, daß es unterschwellige Erwartungen und Äußerungen gegeben habe, die die Abgabe tödlicher Schüsse nahegelegt hätten.
Dürfte es nach dieser Auffassung überhaupt noch Exzeßtaten geben? Denn schließlich könnte sich jeder Grenzsoldat, der eine Exzeßtat begangen hat, darauf hinausreden, „unterschwellige Erwartungen und Äußerungen“ hätten ihn dazu veranlaßt, einen Grenzverletzer zu töten, mithin auf Befehl gehandelt zu haben?

Dr. Wolff:

Exzeßtaten unterscheiden sich von der Rechtsprechung, die das Vorliegen eines „Schießbefehls“ aus der praktischen Handhabung an der Grenze ableitet, nicht von anderen Taten. Der Begriff „Exzeßtaten“ ist folglich für diese Rechtsprechung irrelevant. Fest steht, ein Schießbefehl – wie ihn der natürliche Menschenverstand versteht – hat nicht vorgelegen.

Frage:

Im ersten Politbüro-Prozeß hat der Chef der Grenztruppen, Baumgarten, als Zeuge ausgesagt, daß Dauerfeuer generell nicht dem Grenzgesetz widersprochen hätte. Das empörte sogar Politbüromitglieder. Ein Politbüromitglied schrieb dazu in seinen persönlichen Notizen, die mir vorliegen: Das ist einfach dusselig. Wären die Schuldigen für aktives Tun, wenn denn solche schon gefunden werden müssen, nicht doch eher im militärischen denn im politischen Bereich zu suchen?

Dr. Wolff:

Ich bin der Auffassung, daß es Schuldige weder im militärischen noch im politischen Bereich gibt. Es sei denn, daß es sich um Exzeßtaten handelt, die dann nur dem jeweiligen Schützen vorgeworfen werden können.

Frage:

Ein Prozeß, knapp 12 Jahre nach der Wiedervereinigung: noch DDR-Vergangenheitsbewältigung oder blindwütiges Agieren der Justiz?

Dr. Wolff:

Die Justiz agiert nicht blindwütig. Die Justiz handelt nach dem Gesetzesverständnis der Zeit. Die Tatsache, daß der Justiz die Bewältigung der DDR-Vergangenheit zugemutet wurde, beruht auf einem Versagen der Politik. Die Herstellung der Einheit Deutschlands hätte den Anlaß für eine gesetzliche Regelung geben müssen, nach der die im Verlauf des Kalten Krieges wechselseitig begangenen Handlungen strafrechtlich nicht verfolgt werden sollten. Dies ist mehr oder weniger konsequent in fast allen Ländern so geschehen, die einen Systemwechsel in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Das war so in Spanien nach Franko, und das war so in Südafrika nach der Beendigung des Apartheidregimes, und das war schließlich so in fast allen ehemals sozialistischen Ländern. Die Bundesregierung hat hier ihren eigenen Weg beschritten, weil sie in der einmaligen Situation war, daß in 3/4 Deutschlands das System nicht gewechselt hatte. So bewältigte die alte Bundesrepublik die Vergangenheit auf dem Gebiet der DDR etwa nach der gleichen Methode, mit der die DDR-Wirtschaft bewältigt worden ist. Ich halte diese Methode für nicht klug, sogar für verhängnisvoll.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Anmerkung:

Der Revisionstermin am 25. Juni 2002 vor dem BGH wurde aufgehoben und soll nun im Spätherbst stattfinden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*