Kein Verstoß gegen Unionsrecht im Falle des inhaftierten Verdächtigen in „Maddie“-Sache.

Eine freiheitsbeschränkende Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl (EHB) ergangen ist, wegen einer früheren und anderen Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung eines zweiten EHB zugrunde liegt, verstoße nicht gegen das Unionsrecht, wenn diese Person den Ausstellungsmitgliedstaat des ersten EHB freiwillig verlassen hat.

In diesem Zusammenhang müsse die Zustimmung von den Vollstreckungsbehörden des Mitgliedstaats erteilt werden, der die verfolgte Person auf der Grundlage des zweiten EHB übergeben hat.

XC wurde in Deutschland in drei verschiedenen Strafverfahren strafrechtlich verfolgt. Erstens wurde er am 6. Oktober 2011 von einem Amtsgericht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Zweitens wurde gegen ihn im Jahr 2016 in Deutschland ein Strafverfahren wegen einer in Portugal begangenen Tat eingeleitet. Da sich XC in Portugal aufhielt, erließ die Staatsanwaltschaft Hannover (Deutschland) einen EHB zur Strafverfolgung dieser Tat. Die portugiesische Vollstreckungsbehörde bewilligte die Übergabe von XC an die deutschen Justizbehörden. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Während des Vollzugs dieser Strafe wurde die Aussetzung der 2011 verhängten Strafe zur Bewährung widerrufen. Am 22. August 2018 stellte die Staatsanwaltschaft Flensburg (Deutschland) bei der portugiesischen Vollstreckungsbehörde einen Antrag auf Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität und ersuchte um Zustimmung zur Vollstreckung der 2011 verhängten Strafe.

Nach diesem in Art. 27 Abs.2 des Rahmenbeschlusses 2002/5841 aufgestellten Grundsatz dürfen nämlich Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. Nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g dieses Rahmenbeschlusses finde jedoch der Grundsatz der Spezialität keine Anwendung, wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung erteilt. Am 31. August 2018 wurde XC mangels einer Antwort der portugiesischen vollstreckenden Justizbehörde freigelassen. Am 18. September 2018 begab er sich in die Niederlande und später nach Italien. Am darauffolgenden Tag erließ die Staatsanwaltschaft Flensburg gegen ihn einen neuen EHB zur Vollstreckung des Urteils vom 6. Oktober 2011.

Auf der Grundlage dieses EHB wurde XC in Italien festgenommen, und die italienische Vollstreckungsbehörde bewilligte seine Übergabe an die deutschen Behörden. Drittens erließ das Amtsgericht Braunschweig (Deutschland) am 5. November 2018 einen Untersuchungshaftbefehl wegen des Verdachts einer dritten, im Jahr 2005 in Portugal begangenen Straftat von XC (im Folgenden: Haftbefehl vom 5. November 2018). Im Dezember 2018 ersuchte die Staatsanwaltschaft Braunschweig (Deutschland) die italienische vollstreckende Justizbehörde, auch der Strafverfolgung von XC wegen dieser Tat zuzustimmen. Diese Zustimmung wurde seitens der italienischen Behörde erteilt. Vom 23. Juli 2019 bis zum 11. Februar 2020 befand sich XC aufgrund des Haftbefehls vom 5. November 2018 in Deutschland in Untersuchungshaft. Währenddessen wurde er mit Urteil vom 16. Dezember 2019 der im Jahr 2005 in Portugal begangenen Tat schuldig gesprochen und unter Berücksichtigung des Urteils vom 6. Oktober 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

XC legte gegen das Urteil vom 16. Dezember 2019 beim vorlegenden Gericht, dem Bundesgerichtshof (Deutschland), Revision ein, die er u.a. auf den im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehenen Grundsatz der Spezialität stützt. Er macht im Wesentlichen geltend, da die portugiesische Vollstreckungsbehörde der Strafverfolgung wegen der 2005 in Portugal begangenen Tat nicht zugestimmt habe, seien die deutschen Behörden nicht befugt gewesen, ihn zu verfolgen. In Anbetracht dieses Vorbringens fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Haftbefehl vom 5. November 2018 fortbestehen kann oder aufgehoben werden muss.

Mit seinem heutigen im Rahmen des Eilvorabentscheidungsverfahrens (PPU) ergangenen Urteils hat der Gerichtshof (EuGH) für Recht erkannt, dass Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sei, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster EHB ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten EHB freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten EHB übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten EHB die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.

Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass sich aus der wörtlichen Auslegung von Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt, dass der darin aufgestellte Grundsatz der Spezialität eng mit der Übergabe infolge der Vollstreckung eines bestimmten EHB verbunden ist, da die Bestimmung ihrem Wortlaut nach auf die „Übergabe“ im Singular abstellt. Diese Auslegung findet in der systematischen Auslegung dieser Bestimmung Bestätigung, da auch andere Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/5842 darauf hinweisen, dass der Grundsatz der Spezialität im Zusammenhang mit der Vollstreckung eines bestimmten EHB steht. Unter diesen Umständen würde das Erfordernis einer Zustimmung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowohl seitens der einen ersten EHB vollstreckenden Justizbehörde als auch seitens der einen zweiten EHB vollstreckenden Justizbehörde die Wirksamkeit des Übergabeverfahrens behindern, womit das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgte Ziel, die Übergaben zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten zu vereinfachen und zu beschleunigen, gefährdet würde.

Da im vorliegenden Fall XC das deutsche Hoheitsgebiet freiwillig verließ, nachdem er in Deutschland die Strafe verbüßt hatte, zu der er wegen der Tat verurteilt worden war, auf die der erste EHB abgestellt hatte, ist er somit nicht mehr berechtigt, sich auf den Grundsatz der Spezialität im Zusammenhang mit diesem ersten EHB zu berufen. Da im vorliegenden Fall für die Beurteilung der Beachtung des Grundsatzes der Spezialität allein die auf der Grundlage des zweiten EHB erfolgte Übergabe relevant ist, ist die nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses 2002/584 erforderliche Zustimmung allein von der vollstreckenden Justizbehörde des Mitgliedstaats zu erteilen, der die verfolgte Person auf der Grundlage dieses EHB übergeben hat. Namentlich Art. 1 Abs. 1, der den EHB im Hinblick auf das mit diesem verfolgte spezifische Ziel definiert, und Art. 8 Abs. 1, wonach jeder EHB hinsichtlich der Art und der rechtlichen Würdigung der von ihm erfassten Straftaten genau sein und die Umstände ihrer Begehung beschreiben muss.

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

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