„Ich maße mir kein Urteil darüber an, was in der DDR Recht war“.

TP-Interview mit Lorenz-Verteidiger Dr. Friedrich Wolff.

Frage:

Herbert Häber habe – ich sage das mal etwas überspitzt – möglicherweise mit seiner Westöffnungspolitik nichts unterlassen, um das Grenzregime zu humanisieren, aber doch etwas getan, um es zu verschärfen mit seiner Mitwirkung am Beschluß vom 11. Juni 1985, womit u.a. ein Bericht der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee zustimmend zur Kenntnis genommen worden ist.
Welchen Wink wollte der BGH mit dieser Differenzierung den Richtern des Wiederholungsverfahrens geben?

Dr. Wolff:

Haben Sie Verständnis dafür, daß ich mich zu Fragen, die ausschließlich Herrn Häber betreffen, nicht äußere.

Frage:

Wegen der Mitwirkung u.a. an diesem Beschluß vom 11. Juni 1985 wurden ja bekanntlich Kleiber, Krenz und Schabowski wegen Totschlags durch aktives Tun verurteilt. Wie erklären Sie sich die Interpretation der Justiz zu diesem Beschluß, der ja – jedenfalls für einen juristischen Laien – alles andere als eine konkrete Kausalkette zum Töten von Flüchtlingen an der ehemaligen DDR-Grenze erkennen läßt?

Dr. Wolff:

Ich finde keine Erklärung, die Anspruch auf eine gediegene juristische Argumentation erheben könnte. Dieser „Bericht … über die politisch ideologische Arbeit zur Verwirklichung des vom X. Parteitag der SED übertragenen Klassenauftrags“ wird von mir nicht als Anstiftung zum Mord angesehen, und ich vermag auch nicht zu erkennen, wie ein Gericht das aus ihm herauszulesen vermag.

Frage:

In der Presseerklärung des Bundesgerichtshofs heißt es zur Aufhebung der Freisprüche, daß sich die Angeklagten nicht erfolgreich darauf berufen können, daß jeder einzelne von ihnen möglicherweise … an einer entgegenstehenden Mehrheit gescheitert wäre.
Also auf gut deutsch gesagt, man muß eine Chance auch nutzen, wenn man keine hat? Oder keine sieht?

Dr. Wolff:

Ihre Ansicht trifft auf den Fall der Mitgliedschaft in einem Kollegialorgan wie dem Politbüro zu.

Frage:

Der BGH beruft sich in seiner Entscheidung auch auf eine ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR zu Fällen, in denen mehrere parallel Verantwortliche die Rettung von Menschenleben oder den Schutz menschlicher Gesundheit unterlassen hatten.
Hat der BGH hier die Rechtsprechung in der DDR richtig erkannt und ist sie Ihrer Meinung nach auf die hier vorliegenden Fälle korrekt angewendet worden?

Dr. Wolff:

Ich bin kein Richter und schon gar kein oberster Richter. Daher maße ich mir kein letztes Urteil darüber an, was in der DDR Recht war. Ich kann nur sagen, daß mich die Argumentation des BGH nicht überzeugt. Die Entscheidungen, auf die sich der BGH bezieht, betrafen andere, nicht vergleichbare Geschehensabläufe. Der BGH konnte keinen Fall anführen, in dem Mitglieder eines Kollektivorgans sich eines gemeinschaftlichen strafbaren Unterlassens schuldig gemacht hatten. Der BGH ist folglich rechtsschöpferisch hinsichtlich des Rechts der DDR tätig geworden. Das gleiche hatte er 1990 hinsichtlich des Rechts der BRD in seinem sog. „Ledersprayurteil“ getan, das den Vorstand einer GmbH betraf. Dieses Urteil ist auf Widerspruch in der bundesdeutschen rechtswissenschaftlichen Literatur gestoßen. Das zeigt meines Erachtens bereits, wie unsicher das rechtliche Fundament des BGH-Urteils ist.
Dazu kommt überdies noch, daß der BGH die Pflichten der Politbüromitglieder einseitig unter dem Blickwinkel des Schutzes des Lebens von Personen gesehen hat, die die DDR unter Verletzung ihrer Strafgesetze verlassen wollten. Der BGH hat die andere Pflicht der Politbüromitglieder, die DDR und ihre „sozialistischen Errungenschaften zu schützen, trotz entsprechender Hinweise der Verteidigung nicht beachtet. Das ist etwa so, als müsse Bush nur das Leben seiner Soldaten und nicht die Sicherheit der USA vor Angriffen von „Schurkenstaaten“ gewährleisten. Mir erscheint diese Betrachtungsweise als politisch und einseitig.

Frage:

„Gefangen“ hieß ein Kommentar im Neuen Deutschland zur Aufhebung der Urteile bzw. Freisprüche durch den BGH.
Ist ein Gericht in jedem Falle gefangen in seiner eigenen Rechtsprechungspraxis?

Dr. Wolff:

Nein, ein Gericht kann auch von seiner eigenen Rechtsprechung abweichende Entscheidungen treffen. Es muß dies allerdings begründen. Hier läge dieser Fall nicht vor, da es bisher noch keinen Fall der strafbaren Unterlassung in „Mauerschützenverfahren“ gegeben hatte.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 17.12.2002

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