Ein Spiegel und ein Mann, der durch die Wand geht.

Eine „Soziale Skulptur“ vor und in der JVA Tegel zum Gedenken an Harald Poelchau.

TP-Gastbeitrag von Pfarrer Erhard Wurst, Gefängnisseelsorger in den JVA‘s Moabit und Tegel in Berlin anlässlich des heutigen 117. Geburtstages des Gefängnisseelsorgers und NS-Widerstandskämpfers Harald Poelchau.

Die TP Presseagentur Berlin sprach am 03. Oktober 2020 mit einem der jetzigen evangelischen Gefängnisseelsorger in der JVA Tegel, Pfarrer Erhard Wurst, über Harald Poelchau, der am 05. Oktober 2020 117 Jahre alt geworden wäre. Erhard Wurst war auch mit seiner Kollegin Christina Ostrick an der für Harald Poelchau von der Künstlerin Katrin Hattenhauer und 10 Gefangenen geschaffenen sozialen Skulptur in und vor der JVA Tegel beteiligt.

„Herr Poelchau, Sie müssen aufpassen, das fällt langsam auf. Wenn Sie reingehen, ist Ihre Aktentasche immer viel dicker als beim Rausgehen.“ So warnte ein gutmeinender Bediensteter den Gefängnisseelsorger Harald Poelchau, der in seiner Aktentasche Briefe an und von politisch Inhaftierten schmuggelte, aber auch Wurst und Honigsemmeln zum einfachen Überleben verteilte. Harald Poelchau war von 1933 bis 1945 (und dann noch einmal von 1949 bis 1951) evangelischer Gefängnisseelsorger in der damaligen Strafanstalt Berlin-Tegel.

Auf Grund seines christlichen Menschenbildes stand Poelchau der nationalsozialistischen Ideologie von Anfang an kritisch gegenüber und unterstütze in verschiedener Weise die Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“. Er ermöglichte Kontakte zwischen den politisch Inhaftierten und ihren Angehörigen, versuchte die Haftbedingungen zu lindern und begleitete zum Tode Verurteilte auf ihrem Weg zur Hinrichtung. Darüber hinaus vermittelte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Dorothee Poelchau in der Stadt illegale Unterkünfte an jüdische Mitbürger, um sie vor dem Konzentrationslager zu bewahren. Am 05.10.2018, dem 115. Geburtstag von Harald Poelchau, wurde mit der Enthüllung einer „Sozialen Skulptur“ vor und in der JVA Tegel an diesen mutigen Mann erinnert.

Soziale Skulptur für Harald Poelchau vor der JVA Berlin-Tegel. Eine identische Skulptur befindet sich innerhalb der Anstalt.
Vorderseite der Stele für Dorothee und Harald Poelchau in der Märkischen Allee in Berlin-Marzahn
Rückseite der Stele
Nach Poelchau benannter S-Bahnhof in Berlin
Poelchaustraße/Ecke Märkische Allee in Berlin-Marzahn
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Berliner Gedenktafel für Harald Poelchau in der Afrikanischen Straße 140b in Berlin-Wedding

Ein Jahr zuvor waren die Tegeler Insassen eingeladen worden, in einer Kunstgruppe, angeleitet durch die Künstlerin Katrin Hattenhauer und begleitet von den evangelischen Seelsorgern, eine gegenständliche Form des Gedenkens an Harald Poelchau zu entwickeln.

Am Anfang stand ein Info-Abend. Katrin Hattenhauer, selbst 1989 in der DDR als Oppositionelle inhaftiert, machte sich und ihren künstlerischen Ansatz bekannt mit der Frage: Was ist Mut? Wie kommt es dazu, dass Menschen mutig handeln? Es fanden sich neun Insassen, die sich auf diese Fragestellung und ein Jahr intensiver Beschäftigung mit diesem Thema einließen.

In der Auseinandersetzung mit den Zeitumständen und der Persönlichkeit von Harald Poelchau waren die Gruppenteilnehmer immer wieder beeindruckt von seiner Lebensleistung. Schnell war für alle klar: So, wie Poelchau „drinnen“ und „draußen“ verbunden hat, so geht das Thema „Mut“ auch die Menschen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses an. Also müsste eine Skulptur auch von innen und von außen zu sehen sein. Sehr verschiedene Modelle wurden entworfen, gezeichnet, gebastelt. Unterschiedliche Begabungen wurden eingebracht: Handwerklicher Sachverstand, künstlerische Phantasie, mathematische Überlegungen. Die Künstlerin Katrin Hattenhauer legte an alle Entwürfe beharrlich das strenge Kriterium der Beziehung zwischen Form und Inhalt an.

Grabstelle von Dorothee und Harald Poelchau auf dem Friedhof Berlin-Zehlendorf. Sie ist als Ehrengrabstelle des Landes Berlin gwidmet.

Was ist eigentlich eine „Soziale Skulptur“? Nicht nur das „Endprodukt“ ist das Ergebnis, sondern auch der Gruppenprozess, das miteinander Agieren, Reden, Hören, Akzeptieren einer anderen Meinung und das Aushalten, wenn der eigene Entwurf nicht favorisiert wird.

Wie lange man über die Form, die Größe, den Abstand der Buchstaben und die Anordnung eines Schriftzuges debattieren kann! Die Gruppenteilnehmer kamen aus verschiedenen Häusern der Anstalt mit je sehr unterschiedlichem Hafthintergrund. Dass wir uns dennoch auf eine Skulptur einigen konnten, macht das eigentlich Soziale daran aus. Spannend war die Aktentasche, mit der Poelchau die Dinge transportiert hat, sie ist zu einem Symbol geworden. So stand am Ende fest, dass es ein Mann sein sollte, der mit einer Aktentasche durch die Wand geht, gleichsam Mauern durchbricht. Orte für die Installation wurden besichtigt. Eine Stelle an der Gefängnismauer „außen“ in Sichtweite des Gefängnistores wurde auserkoren und „drinnen“ die Stirnseite eines Flügels der Teilanstalt II, ein Ort, an dem viele Insassen täglich vorbeikommen. Auf Grund von Sicherheitsbedenken wurde „der Mann, der durch die Wand geht“ an der Außenmauer zunächst nicht genehmigt. So kam es, dass Modell Nr. 2, der Spiegel, zusätzlich verwirklicht wurde, wogegen es keinen Einwand gab. Im Nachhinein korrespondieren die Silhouette aus Edelstahl und der Spiegel sehr sinnträchtig miteinander. Auf ihm ist, erst, wenn man vor ihn tritt, der versetzt eingravierte Schriftzug zu lesen:

WASBRAUCHTES           

EINEMANDERENZUHELFEN

Die Antwort ergibt sich aus dem Spiegelbild: Sich selbst, die ganze Person.

Finanziert wurde das gesamte Projekt von der ev. Landeskirche und maßgeblich von der JVA Tegel. Angefertigt wurden „Spiegel“ und „Mann“ von einer externen Firma, da die fachlichen Arbeiten in der JVA selbst nicht möglich waren.

Enthüllt wurde die doppelte „Soziale Skulptur“ von der Tochter von Harald Poelchau, Frau Andrea Siemsen, in Anwesenheit des Justizsenators von Berlin, Dirk Behrendt.

Noch während der Enthüllungsfeierlichkeit verständigte man sich darauf, „den Mann, der durch die Wand geht“ auch an der Außenmauer zu realisieren. Die Sicherheitsbedenken waren nach den Festreden wohl nicht mehr so gravierend.

Fotoquellen: TP Presseagentur Berlin

Auszug aus Wikipedia mit Ergänzungen von TP Presseagentur Berlin:

Harald Poelchau (* 5. Oktober 1903 in Potsdam; † 29. April 1972 in Berlin) war während der Nazi-Zeit ein deutscher Gefängnispfarrer in der damaligen Berliner Strafanstalt Tegel (heute JVA) von 1933 bis 1945 und von 1949 bis 1951, religiöser Sozialist und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus.

Poelchau schmuggelte heimlich Briefe und Nachrichten aus bzw. ins Gefängnis Tegel. Im Oktober 1941 begann die Deportation von Juden aus Deutschland. Harald Poelchau wusste schon früh, dass nur eine Flucht in den Untergrund Rettung bringen würde. Die Flüchtlinge sollten ihn in seinem Tegeler Büro anrufen und nur reden, wenn er sich mit dem Codewort „Tegel“ meldete. Das eigentliche Gespräch fand aber in seinem Dienstzimmer statt, das nur durch etliche verriegelte Türen erreichbar war. Unterstützt von seiner Ehefrau Dorothee Poelchau vermittelte er Unterkünfte in seinem großen Bekanntenkreis. Dazu zählten Gertie Siemsen, eine langjährige Freundin aus Studienzeiten, Willi Kranz, Kantinenpächter der Gefängnisse Tegel und Plötzensee, und dessen Lebensgefährtin Auguste Leißner, Hermann Sietmann und Otto Horstmeier, zwei ehemalige politische Häftlinge, das Ehepaar Reinhold und Hildegard Schneider, die im Fürsorge- bzw. Schulbereich arbeiteten, die Pfarrfrau Agnes Wendland und ihre Tochter Ruth, die Gefängnisärztin Hilde Westrick sowie der Physiker Carl-Friedrich Weiss und seine Frau Hildegard.

Poelchau wurde vielfach geehrt:

Am 30. November 1971 wurden Harald und Dorothee Poelchau von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt.
Die 1973 eröffnete Poelchau-Oberschule, Eliteschule des Sports, im Ortsteil Berlin-Charlottenburg-Nord trägt seinen Namen.
Mit Beschluss des Berliner Senats vom 6. Oktober 1987 wurde seine Begräbnisstätte auf dem Friedhof Zehlendorf in ein Ehrengrab des Landes Berlin umgewandelt.
Am 17. November 1988 wurde am Haus Afrikanische Straße 140b in Berlin-Wedding, in dem er 1933 bis 1945 wohnte, eine Berliner Gedenktafel angebracht.
Am 31. Januar 1992 erhielt in Berlin-Marzahn die Karl-Maron-Straße den Namen Poelchaustraße, ebenso ein S-Bahnhof.
Der am 29. April 1992 von F. Börngen an der Sternwarte Tautenburg entdeckte Asteroid (10348) Poelchau wurde nach ihm benannt.
Dr.-Rainer-Hildebrandt-Medaille 2007 (postum), gestiftet von Alexandra Hildebrandt
Am 18. September 2017 wurde an der Ecke Poelchaustraße/Märkische Allee in Berlin-Marzahn eine Erinnerungsstele für Harald und Dorothee Poelchau übergeben..
Am 5. Oktober 2018 wurde in der Justizvollzugsanstalt Tegel ein Denkmal, geschaffen von der Künstlerin Katrin Hattenhauer und Inhaftierten der JVA Tegel, für den früheren Gefängnisseelsorger und Widerstandskämpfer Harald Poelchau anlässlich seines 115. Geburtstages eingeweiht.

BUCHTIPPS:

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