Eine irre Herausforderung.

TP-Interview mit MdA Volker Ratzmann.

Frage:

Herr Ratzmann, ist die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit für Bündnis 90/Die Grünen überhaupt noch ein Thema oder ist dieses Thema für Sie abgeschlossen?

Ratzmann:

In der aktuellen politischen Diskussion ist das abgeschlossen.

Frage:

Was diese strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit betrifft, gab es über 100000 Ermittlungsverfahren, jedoch nur knapp 300 Verurteilungen. Ist dieses krasse Mißverhältnis nicht irgendwo ein deutliches Indiz dafür, daß bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mehr öffentlichkeitswirksam geklappert werden sollte, als Ergebnisse herbeigeführt werden sollten?

Ratzmann:

Für mich ist es eher ein Indiz dafür, daß die bundesdeutsche Justiz auch in diesem Bereich – bei aller Kritik, die man an den Verfahrensausgängen, die Verurteilungen nach sich gezogen haben, haben kann – jedenfalls nicht über die Maße sich in eine Pose der Siegerjustiz begeben hat, sondern daß die strafrechtlichen, rechtsstaatlichen Standards, die bei uns gelten, in diesem höchst komplizierten und höchst komplexen und juristisch völlig neuen Bereich Anwendung gefunden haben. Daher glaube ich, es war eher ein Zeichen dafür, daß auch in dieser Situation das Vertrauen in die bundesdeutsche Strafjustiz nachhaltig gestärkt worden ist.

Frage:

Wenn bei über 100000 Ermittlungsverfahren lediglich ein kläglicher Rest an Verurteilungen herauskommt, läßt das nicht doch irgendwo den Schluß zu, daß jede Menge Straftatbestände willkürlich konstruiert wurden und Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen für westdeutsche Juristen geschaffen werden sollten?

Ratzmann:

Die Straftatbestände waren ja bekannt und fixiert. Klar war, daß man bestimmtes Verhalten strafrechtlich aufarbeiten wollte. In der Situation blieb, glaube ich, keine andere Möglichkeit, als diejenigen Verhaltensweisen von Menschen, die Anhaltspunkte für Ermittlungsverfahren gaben und strafrechtlich relevantes Verhalten mit sich gebracht haben, zu prüfen, um dann in den Verfahren zu beurteilen, kommt es letztendlich zu einem gerichtlichen Verfahren oder kommt es dazu nicht. Das ist eine irre Herausforderung gewesen.
Man kann grundsätzlich in Frage stellen, ob es sinnvoll war, in diesem zwischenstaatlichen Bereich – auf einen Staat ja erst einmal nur anwendbare – strafrechtliche Normen zur Aufarbeitung heranzuziehen oder ob sich das grundsätzlich verbietet. Ich glaube, daß die zur Zeit geführte Diskussion – über internationales Recht, das Jugoslawien-Tribunal, das Völklerstrafgesetzbuch, die Ratifizierung eines Vertrages über die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes – gut ist. Es ist ein Fortschritt, wenn davon ausgegangen wird, daß es einfach bestimmte Verhaltensweisen gibt, die nicht auf die nationalstaatlichen Grenzen beschränkt sind, und wir auch anfangen, diejenigen zu verfolgen, die sich in staatliche Ämter gekleidet haben und im Rahmen dieser staatlichen Ämter Straftaten begangen haben. Man kann mit Fug und Recht darüber reden, ob die Bundesrepublik der richtige Ort gewesen ist, diese zwischenstaatlichen, diese staatlichen Kriminalitätsansätze aufzuarbeiten oder ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, das einem internationalen Strafgerichtshof zu übertragen.

Frage:

Man hätte sich auf jeden Fall dadurch eine Menge Vorwürfe ersparen können.

Ratzmann:

Ich wage nur die Prognose, daß auch in einem solchen Fall nicht viel andere Ergebnisse herausgekommen wären, jedenfalls nicht viel andere als die, die wir jetzt auch an Verurteilungen zu verzeichnen haben. Ich verweise das nur auf das Verfahren von Egon Krenz, der ja bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegangen ist, also schon in den supranationalen Bereich hinein. Und dort ist das Ergebnis, das hier von einem Berliner Kriminalgericht getroffen worden ist, ja auch gehalten worden.

Frage:

Wir haben ja nun in der Verfassung ein striktes Rückwirkungsverbot, was 1996 vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt wurde. Gleichzeitig wurde jedoch die umstrittene Einschränkung gemacht, daß dieses Rückwirkungsverbot seine rechtsstaatliche Einschränkung in der besonderen Vertrauensgrundlage fände, welche die Strafgesetze trügen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen Gesetzgeber erlassen werden. Nun ist aber im Einigungsvertrag festgelegt worden, daß bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gerade dieses DDR-Recht zugrunde zu legen ist, das aber nach der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts null und nichtig wäre. Wer soll das alles noch nachvollziehen?

Ratzmann:

Es gibt ja einen übergesetzlichen Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz. Das heißt, ich muß mich natürlich auch als Gesetzesanwender, als bundesdeutscher Gesetzesanwender fragen, vor welchem Hintergrund kann ich denn ein bestimmtes Verhalten eines/-r Bürger/-in eines anderen Staates überhaupt beurteilen. Und da bleiben mir ja nur die DDR-Gesetze übrig, weil das diejenigen Gesetze waren, die letztendlich für ihn greifbar Geltung in einem staatlichen Gefüge dann auch erlangt haben. Das ist ein, finde ich, auch sehr schwieriges, auch moralisch und legitimatorisch sehr schwierig in den Griff zu kriegendes Problem: Woran messe ich das Verhalten, welchen Maßstab lege ich an das Verhalten eines Menschen an, wonach verurteile ich ein bestimmtes Verhalten, wenn ich selbst als demokratisch legitimierter, für meinen staatlichen Teilbereich in Deutschland legitimierter Gesetzgeber das, was auf der anderen Seite ist, als undemokratisch und nicht als akzeptabel ansehe?
Dennoch finde ich es richtig, dann zu sagen, selbst wenn das so ist, lege ich deren eigenen Maßstäbe an und gucke, habt ihr euch nach diesen eigenen Maßstäben richtig verhalten oder nicht. Und darauf beruht ja diese ganze Legitimationskette in dem Bereich der Verurteilungen.

Frage:

Ist es überhaupt legitim, mit der Radbruchschen Formel an solche Sachen heranzugehen?

Ratzmann:

Welche Formel sollte es irgendwie sonst sein in diesem Bereich? Wenn ich staatliche Gewalt anwende, eine der sozusagen tiefgreifendsten staatlich zu verordnenden Maßnahmen, jemand die Freiheit zu entziehen und ein moralisch legitimes Unwerturteil über ein Verhalten treffe, dann muß ich mich, wenn ich rechtsstaatliche Grundsätze für mich selbst in meiner Beurteilungspraxis in Anspruch nehme, natürlich darauf berufen und sagen: Ich kann es nicht machen, ohne daß ich auch eine Legitimationsgrundlage habe. Ich kann mich natürlich auch in den übergesetzlichen Bereich hineinbegeben, bloß dann kommen wir natürlich in ein sehr schwieriges Fahrwasser. Die Verurteilungen gehen ja schon ein Stückchen weit diesen Weg, auch zu fragen, gibt es über die nationalstaatlich gesetzgeberisch legitimierte Kraft des Strafgesetzes hinaus etwas, was für alle Menschen universell gilt. Etwas, woran jeder sich – unabhängig in welchem Land der Welt er sich befindet – halten muß. Jeder Staat, der das für sich in Anspruch nimmt, hat dann letztendlich auch die Möglichkeit Verstöße zu verurteilen.

Frage:

Das wäre dann natürlich am unkompliziertesten.

Ratzmann:

Das ist aber ein sehr schwammiger Bereich, und ich halte sehr viel davon, daß menschliches Verhalten nur aufgrund von Gesetzen, die vorher demokratisch zustande gekommen sind, dann auch sanktioniert werden darf.

Frage:

Nun hat es der bundesdeutsche Gesetzgeber ja 1952 in der Hand gehabt, die bereits in Gesetzesform gegossene Radbruchsche Formel in der Europäischen Menschenrechtskonvention in innerstaatliches Recht zu transformieren. Statt dessen hat er einen Vorbehalt dagegen erklärt. Dieser gilt bis heute. Nach diesem Artikel 7 Absatz 2 der EMRK, der quasi diese Radbruchsche Formel umfaßt, kann sich niemand auf Handlungen und Unterlassungen berufen, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Menschenrechten strafbar sind. Warum wurde dieser Weg nicht gewählt?

Ratzmann:

Wir gehen ja jetzt auch den Weg des internationalen Strafgerichtshofs und eines Völkerstrafgesetzbuches. Beides ist im bundesdeutschen Recht implementiert. Ich glaube, da ist auch international ein Zug am Rollen, der, wie ich finde, einfach nur positiv beurteilt werden kann. Diesen Weg müssen wir natürlich weiter gehen. Ich würde im Moment eher auf die weitere positive Ausgestaltung setzen, als jetzt in der Vergangenheit nach Versäumnissen des Jahres 1952 zu suchen.

Frage:

Wir gehen vielleicht heute den richtigen Weg, aber 1997, als Krenz und andere verurteilt wurden, war es eindeutig so, daß die Bundesrepublik das 1952 eingeschränkt vorhandene Rückwirkungsverbot immer noch nicht in innerstaatliches Recht transformiert hat. Wie gesagt, selbst bis heute noch nicht. Das ist für mich irgendwo fragwürdig. Ich frage mich auch und Sie, wieso eine Radbruchsche Formel, die ja Richterrecht ist, angewendet worden ist, wenn wir es gesetzgeberisch eleganter hätten lösen können, also mit der Transformierung des Art. 7 Absatz 2 der EMRK in innerstaatliches Recht. Es heißt ja auch, mit der Nichttransformierung im Jahre 1952 wollten wir unsere Nazis schützen.

Ratzmann:

Das war, glaube ich, auch so. Und 1952 hatten wir noch eine gesellschaftliche Stimmung und vor allen Dingen auch gesellschaftliche Institutionen, die einzig und allein darauf ausgerichtet waren. Der große Durchbruch kam ja erst letztendlich durch die 68er-Bewefung, die das thematisiert hat. Und wir haben uns jetzt natürlich in einer historischen Situation befunden, in der wir die Fehler, die in der Aufarbeitung des Nazi-Regimes gemacht worden sind, nicht noch einmal wiederholen wollten. Damit kamen wir natürlich gleichzeitig in die Schwierigkeit, zwei völlig unterschiedliche Tatbestände miteinander in Beziehung zu setzen. Ich finde nach wie vor, daß das, was Wesel mal zu dem Problem gesagt hat, richtig ist: Wir hätten im Fall der Bewältigung der DDR-Vergangenheit mit Fug und Recht auf die strafrechtliche Aufarbeitung verzichten können, weil wir gesellschaftlich in der Lage waren, das politisch-historisch aufzuarbeiten, weil wir die Garantie auch der unabhängigen Aufarbeitung hätten abgeben können. In einer solchen Situation waren wir nach 1945 nicht. Wer hätte das leisten sollen, ohne daß alles unter den Teppich gekehrt worden wäre. Die wissenschaftliche Elite, die in der Lage gewesen wäre, das auch zu tun, war kritisch genug in Bezug auf die DDR, um diese unabhängige Aufarbeitung zu gewährleisten. Wir hätten, glaube ich, die strafrechtliche nicht gebraucht. Dennoch sage ich – so wie es gelaufen ist, mit den Spitzen, die wir zu verzeichnen haben -, war es von der Justiz zumindest der Versuch, dieses Vorhaben unter strikter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze in Angriff zu nehmen. Die politische Entscheidung hat der Bundesgesetzgeber dazu beigetragen. Er hätte natürlich so etwas wie ein Amnestiegesetz machen können. Das hat er nicht gewollt, weil er sich von der alleinigen historischen Aufarbeitung, der politischen Aufarbeitung nicht so viel versprochen hat; aber es wäre ein Weg gewesen, um auch gerade die Unterschiedlichkeit zur Bewältigung der NS-Vergangenheit noch einmal deutlich zu machen.

Frage:

Wesel hat auch in etwa gesagt, daß wir im Laufe der Geschichte die Urteile in Bezug auf die DDR-Vergangenheit quasi mal um die Ohren gehauen bekommen könnten.

Ratzmann:

Man muß abwarten, ob wir sie irgendwann mal um die Ohren gehauen kriegen. Ich glaube, es war erst einmal richtig, daß wir die mangelhafte Bewältigung der Nazivergangenheit um die Ohren gehauen bekommen haben. Das war ja auch schrecklich genug. Ich würde diese These von Wesel erst einmal nicht so unterschreiben. Ich würde keinen hohen Betrag darauf verwetten, daß das tatsächlich mal so kommt.

Frage:

War es überhaupt notwendig, für jedes Delikt in den 90er Jahren eine Verjährungsverlängerung im Bundestag zu beschließen, während man bei Nazi-Verbrechen schon mal fünfe gerade sein ließ und sagte: Wären die Nazi-Verbrechen rechtzeitig erkannt worden, wären sie auch abgeurteilt worden – bereits in der NS-Zeit.

Ratzmann:

Ich glaube, daß das auch die Schnelle nicht so pauschal beantwortet werden kann. War wir zu berücksichtigen haben, ist, daß wir unter den 17 Millionen, die in der DDR gelebt haben und die dann 1989/90 zu Bundesbürgern geworden sind, eine Menge an Leuten gelebt haben, die unter dem DDR-Regime gelitten haben.

Frage:

Das steht ja außer Frage.

Ratzmann:

Wenn ich deren Schicksale ernst nehme, dann muß ich mich natürlich mit der Frage auseinandersetzen, wie lange muß der Staat, der sich um die Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu kümmern und auch eine Integrationsleistung zu vollbringen hat, die Zeit gewähren, um diese Art der Aufarbeitung zuzulassen.
Die Frage muß ich beantworten. Und ich glaube, daß diese Zeit nach zehn Jahren einfach noch nicht abgelaufen war. Irgendwann muß aber mal der Schnitt sein. Im Gegensatz zur Ära nach ’45 gab es keine verschleierte Fortexistenz des Staates DDR. Das war nach ’45 anders, weil es damals die politischen Akteure, die Träger des alten Staates gewesen sind, die wieder die Funktionen des neuen Staates inne hatten.

Frage:

Zum Beispiel Globke, Oberländer, Filbinger und so weiter.

Ratzmann:

Das war doch aber gerade bei dem Untergang der DDR nicht der Fall, sondern da haben wir ja die „westdeutsche Übermacht“ als Garant gegen ein Wiederaufleben auch nur des Geistes der DDR gehabt. Wir hätten uns vielmehr – und das ist für mich auch noch einmal eine Bestätigung der Wesel’chen These – vielmehr in den Bereich einer politisch-historischen Aufarbeitung begeben können.

Frage:

Wenn ich jetzt die Zeit zwischen 1945 und heute Revue passieren lasse, dann stelle ich fest, daß nicht ein einziger westdeutscher Richter wegen Rechtsbeugung verurteilt worden ist. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß kein westdeutscher Richter je das Recht in dieser Zeit gebeugt haben soll. Schill in Hamburg ist zwar mal erstinstanzlich verurteilt worden, der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil jedoch wieder auf und Schill konnte Innensenator von Hamburg werden.

Ratzmann:

Schade, schade, schade… Ich glaube natürlich, daß die richterliche Allmacht in diesem Bereich einfach auch voraussetzt, daß es wirklich eine breite, breite, breite Legitimationsbasis gibt. Ich sage, es gibt viele, viele Anzeichen, die einen kritisch auf diesen Bereich blicken lassen.
Wenn ich mir z. B. angucke, was in Brandenburg in Sachen Trennungsgeldaffäre gerade los ist, wo eine breite Anzahl des richterlichen Personals sich diesen Mißgriff geleistet haben soll, dann ist das natürlich eine legitimatorische Krise für ein ganzes Land, für das ganze Rechtssystem eines Landes. Wir müssen einfach dafür sorgen und darauf vertrauen dürfen – und ich sage, es gab in der jüngsten Vergangenheit wenig Anlaß dafür, daran zu zweifeln -, daß Richter genau mit dieser richterlichen Ermächtigung auch sorgsam, rechtsstaatlich umgehen. Das war nach ’45 anders. Es hätte eines legitimatorischen Aktes bedurft, um genau diese alten Nazi-Richter aus ihren Ämtern zu jagen und dafür zu sorgen, daß wir neue bekommen. Wenn ich mir angucke, was hier auch mit Kolleginnen und Kollegen von mir – Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sowie Notarinnen und Notaren – geschehen ist, die bis ins hohe Alter darum kämpfen mußten, daß sie die ihnen von den Nazis entzogenen Berufsausübungserlaubnisse wieder bekommen haben, dann faßt man sich wirklich ans Hirn. Aber wie gesagt, wir waren ’89/’90 in einer anderen Situation, und ich glaube, es ist zumindest auch in der kritischen Auseinandersetzung deutlich geworden, daß die Unterschiedlichkeit, die ganzen Widersprüche und die ganze Entwicklung, die seitdem dagewesen ist, schon eine Rolle gespielt hat in der Diskussion um die Aufarbeitung.

Frage:

Nehmen wir mal Kinkels Satz aus dem Jahre 1991 auf dem Deutschen Richtertag in Köln: „Ich baue auf Sie, es muß gelingen, das SED-Regime zu delegitimieren.“ Dieser Satz wird von den Gegnern der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als eine politische Aufforderung an die westdeutsche Justiz verstanden, radikal mit der DDR/SED-Vergangenheit aufzuräumen.
Wenn man die angestrengten Ermittlungsverfahren sieht, scheint er damit Gehör gefunden zu haben. Aber dürfen die nur 300 Verurteilungen darüber hinwegtäuschen, daß die Gerichte unabhängig von Kinkels „Plädoyer“ agiert haben?

Ratzmann:

Ich will das mal positiv unterstellen, weil ich glaube, jeder Richter, jede Richterin ist unabhängig, weiß sich unabhängig und ist sich seiner Unabhängigkeit bewußt. Und wenn man sich mal anguckt, wie sensibel Richter auch auf politische Beeinflussungen reagieren, dann kann man nur positiv davon ausgehen, daß Kinkels Satz gemeint und verstanden war als eine Aufforderung, die zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Gestaltungsspielräume zu nutzen – mehr nicht.

Frage:

Also hat Kinkel keinen solchen Einfluß gehabt?

Ratzmann:

Nein, ich glaube nicht, daß Kinkel einen solchen Einfluß gehabt hat. Ich vertraue da auf die Unabhängigkeit der Justiz auch zu diesem Zeitpunkt.

Frage:

Die Justiz bräuchte also niemanden, der ihr irgendwo reintritt, um ihr zu sagen, was sie zu tun hätte?

Ratzmann:

Das kann nur der Gesetzgeber, jedenfalls kein Minister, keine Ministerin.

Frage:

Der Rechtswissenschaftler Kai Ambos sprach im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1996 davon, daß wir in Umkehrung des Bohleyschen Satzes „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“ nun zwar die Gerechtigkeit erhalten, aber ein Stück Rechtsstaat verloren haben.

Ratzmann:

Beide Sätze drücken natürlich eine gewisse enttäuschte Hoffnung aus. Frau Bohley hatte die Hoffnung, daß der Rechtsstaat ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht. Der Rechtsstaat ist nichts anderes als die geronnene Vorstellung gesellschaftlicher Gerechtigkeit und immer ein Ausgleich widerstreitender Interessen. Ich glaube, das muß man akzeptieren. Wir stellen im Moment – gerade im europäischen Vergleich – fest, daß wir in der Bundesrepublik sehr hohe Verfahren-Standards haben, gerade im strafrechtlichen Bereich. Von daher ist der Rechtsstaat schon immer etwas anderes als Gerechtigkeit gewesen, aber er ist dennoch ein zu verteidigender Wert. Daß wir ein Stück Rechtsstaat verloren haben, ist einer allgemeinen Entwicklung geschuldet, und wir haben es ja gerade in jüngster Vergangenheit – 11. September im Nachklapp und auch jetzt in verschiedenen Diskussionen – immer mehr gesehen. Wir müssen aufpassen, auch eine aufgeheizte Stimmung verleitet dazu, rechtsstaatliche Standards aufzugeben, um vermeintliche Risiken zu vermeiden. Ich glaube, daß das ein falscher Weg ist.

Frage:

In der Tageszeitung „junge welt“ habe ich mal den Satz von Bärbel Bohley persifliert gelesen: Wir wollten den Rechtsstaat und nun müssen wir Miete bezahlen.“ Drückt das – mal abgesehen davon, daß mit diesem Satz Frau Bohley als Träumerin hingestellt werden sollte – irgendwo auch aus, daß von der Bundesrepublik mehr Sozialstaat erwartet wurde und in der DDR stärker vorhanden war?

Ratzmann:

Der Sozialstaat DDR ist untergegangen, auch weil er wirtschaftlich nicht haltbar war. Ich glaube, auch insoweit drückt sich eine enttäuschte Hoffnung aus in diesem Satz. Dennoch muß man einfach berücksichtigen, daß Sozialstaat natürlich auch immer nur in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext existieren kann. Und wir müssen einfach dafür sorgen, daß dieser gesellschaftliche Kontext erhalten bleibt, und dann können wir, glaube ich, auch darüber reden, wie wir sozialstaatliche Standards sichern.

Frage:

Ein zentraler Punkt in den Prozessen wegen der Toten und Verletzten an der deutsch-deutschen Grenze war ja immer die Frage nach einem Schießbefehl. Kann da nicht der Eindruck entstehen, daß da mehr von politischen Erwägungen als von Tatsachen ausgegangen wurde?

Ratzmann:

Nein, das glaube ich nicht, müßte da aber nochmals in die Urteile reingucken, um da genauer zu antworten.

Frage:

Im Paragraphen 27 Absatz 2 des Grenzgesetzes der DDR stand ja nun drin, wann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden darf und wann nicht. Gerichtlich wurde auch festgestellt, daß sich das Grenzgesetz der DDR bzw. die darin enthaltenen Schußwaffenbestimmungen sich nicht wesentlich von den unsrigen im Westen unterscheiden. Und im Grunde genommen haben sich die Grenzsoldaten doch daran gehalten.

Ratzmann:

Das ist doch auch berücksichtigt worden, das war der Ausgangspunkt unserer Diskussion. Das ist sozusagen der Beurteilungsmaßstab in diesem Bereich.

Frage:

Wenn sie demnach nichts anderes wollten als den Flüchtling fluchtunfähig zu schießen, warum sind sie dann alle wegen Totschlags verurteilt worden, eine gefährliche Körperverletzung – wenn überhaupt – wäre doch wohl hier eher als Schuldspruch angebracht gewesen.

Ratzmann:

Das ist doch wohl eine Einzelfrage. Dazu muß sich doch auch jeder Polizeibeamte hier verhalten. Der Schußwaffengebrauch und auch der Schußwaffengebrauch mit der Absicht zu töten, ist hier auch von allgemeinen Standards abhängig gemacht.
Es muß eine Nothilfesituation gegeben sein, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit keine andere Abwägung zuläßt, als den Schußwaffengebrauch auch mit dieser Wirkung einzusetzen. Dazu muß sich jeder Mensch verhalten, der das auf sein Gewissen nimmt. Wenn man diese Voraussetzungen überschreitet – das wird sehr genau geprüft -, dann steht man einfach im Bereich der rechtswidrigen Tötung. Das ist eine Einzelfallentscheidung, die kann man pauschal nicht so einfach beantworten und sagen, es war eine gefährliche Körperverletzung oder ein Totschlag.

Frage:

Nun soll ja der Schießbefehl eine über das Grenzgesetz hinausgehende Tatsache gewesen sein. Man spricht sogar von einem Tötungsbefehl, Grenzverletzer zu vernichten. Wenn es denn so gewesen ist, würde dann überhaupt noch eine Unterscheidung zwischen einem Exzeßtäter und einem solchen, der sich ans Grenzgesetz gehalten hat, einen Sinn machen? Wenn denn ein Tötungsbefehl vorgelegen haben soll, hätte ja jeder das „Recht“, sogar die Pflicht gehabt, einen Flüchtling zu erschießen und wäre demnach kein Exzeßtäter, weil’s ihm ja befohlen worden und Praxis gewesen wäre. Aber dennoch wurde diese Unterscheidung gemacht. Ist sie so gesehen nicht überflüssig?

Ratzmann:

Aber wir haben ja noch immer die Frage zu beurteilen, daß jeder individuell auch für sich entscheiden muß, ob er einen Befehl befolgt oder nicht. Das ist eine sehr schwierige Prüfung. Einfach zu sagen, was mein Vorgesetzter sagt, mache ich, rechtfertigt nicht. Das führt aus der individuellen Verantwortung nicht heraus. Natürlich auch, weil sich verantwortlich handelnde Subjekte, auch in Soldatenuniform, immer die Frage stellen müssen: War es möglich und zumutbar, etwas anderes zu entscheiden und anders zu handeln, auch um den Preis der eigenen beruflichen Sanktionen? Das ist der eine Strang, den man berücksichtigen muß. Und der zweite Strang ist der des Exzesses. Wenn diese Frage verneint wird, dann komme ich natürlich zu der Frage, : Bewege ich mich im Bereich des durch das Gesetz legitimierten Verhalten; oder geht es darüber hinaus. Also ich glaube, die Sachen sind so einfach pauschal nicht zu beantworten, sondern immer auf den Einzelfall bezogen.

Frage:

Im sog. ersten Politbüroprozess hat der Chef der Grenztruppen der DDR, Baumgarten, ausgesagt, daß Dauerfeuer generell nicht dem Grenzgesetz der DDR widersprochen hätte. Das empörte sogar Politbüromitglieder. Sind die Schuldigen für aktives Tun, wenn denn solche schon gefunden werden müssen und vorhanden sind, nicht doch eher im militärischen denn im politischen Bereich zu suchen?

Ratzmann:

Nicht unbedingt.

Frage:

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß im Politbüro gesagt wurde: Ihr müßt die Flüchtlinge erschießen und nicht nur verletzen.

Ratzmann:

Im Politbüro gab es, glaube ich, andere Möglichkeiten, bestimmte Verhaltensweisen zu erzwingen, von ihnen auszugehen als den direkten expressis verbis geäußerten Befehl.

Frage:

Etwa unterschwellig Erwartungen zu erzeugen?

Ratzmann:

Durch bestimmte Sanktionen, Beförderungen, Goutierungen von Verhaltensweisen kann man natürlich auch in eine bestimmte Richtung drängen. Und vielleicht war niemand so doof, explizit zu sagen: Mit Dauerfeuer drauf, jeder Grenzverletzer muß vernichtet werden! Aber das Unterbleiben von Sanktionen bei einem solchen Verhalten, ist ja schon ein Zeichen für die anderen, daß das goutiert wird. Da liegt es, glaube ich, auch ein Stückchen weit an den Zwischentönen was erwartet wird. Und das war auch die Schwierigkeit in den ganzen Verfahren, zu klären, wodurch denn letztendlich eine bestimmte Erwartungshandlung geweckt worden ist.

Interview: Dietmar Jochum, 11. Mai 2005

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