BVerfG-Beschluss vom 20. Juli 2021 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20.
Mit heute
bekanntgegebenem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ein Ablehnungsgesuch der Partei „Alternative
für Deutschland“ („AfD“) gegen die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats
in zwei von der „AfD“ gegen die Bundesregierung beziehungsweise die
Bundeskanzlerin gerichteten Organstreitverfahren verworfen.
Das Ablehnungsgesuch, welches die Antragstellerin im Wesentlichen mit dem
Besuch einer Delegation des Bundesverfassungsgerichts bei der Bundesregierung
am 30. Juni 2021 begründet, ist offensichtlich unzulässig, da es sich auf eine
gänzlich ungeeignete Begründung stützt.
Die Veröffentlichung des Beschlusses über das Ablehnungsgesuch erfolgt
gesondert.
Sachverhalt:
Mit Schriftsatz vom 9. Juli 2021 hat die Antragstellerin sämtliche Mitglieder des Zweiten Senats wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung ihres Ablehnungsgesuchs trägt sie im Wesentlichen vor, dass ausweislich der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 54/2021 vom 1. Juli 2021 eine Delegation des Bundesverfassungsgerichts unter Leitung des Präsidenten und der Vizepräsidentin am 30. Juni 2021 zu einem Treffen mit den Mitgliedern der Bundesregierung nach Berlin gereist sei. Auf Einladung der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel habe ein gemeinsames Abendessen mit der Bundesregierung stattgefunden. Die Teilnahme an einem Abendessen mit den Antragsgegnerinnen der von ihr angestrengten Organstreitverfahren nur wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung begründe die Besorgnis der Befangenheit gegen alle teilnehmenden Richterinnen und Richter des Zweiten Senats. Zudem hat die Antragstellerin auch die Mitglieder des Ersten Senats, die an dem Abendessen teilgenommen haben, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, sofern diese gemäß § 19 Abs. 1 BVerfGG über die Ablehnung der Mitglieder des Zweiten Senats oder gemäß § 19 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG in den Organstreitverfahren entscheiden sollten.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Das
Ablehnungsgesuch gegen die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats ist offensichtlich
unzulässig.
1. Offensichtlich unzulässig ist ein Ablehnungsgesuch vor allem dann, wenn es
nicht begründet wird oder sich auf eine gänzlich ungeeignete Begründung stützt.
Die Besorgnis der Befangenheit eines Richters oder einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts
nach § 19 BVerfGG setzt einen Grund voraus, der geeignet ist, Zweifel an der
Unparteilichkeit des Richters oder der Richterin zu rechtfertigen. Dabei kommt
es nicht darauf an, ob der Richter oder die Richterin tatsächlich parteilich
oder befangen ist oder sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist allein,
ob bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der
Unvoreingenommenheit des Richters oder der Richterin zu zweifeln.
2. Der Vortrag der Antragstellerin ist offensichtlich ungeeignet, die Besorgnis
der Befangenheit der abgelehnten Richterinnen und Richter zu begründen.
Das Bundesverfassungsgericht ist Teil der rechtsprechenden Gewalt und zugleich
oberstes Verfassungsorgan. Als solches ist es in das grundgesetzliche
Gewaltenteilungsgefüge eingebunden und nimmt an der Ausübung der Staatsgewalt
teil. Das Verhältnis der obersten Verfassungsorgane ist – auch jenseits der
eigentlichen Ausübung ihrer jeweiligen Kompetenzen – auf gegenseitige Achtung,
Rücksichtnahme und Kooperation angelegt. Die regelmäßigen Treffen des
Bundesverfassungsgerichts mit der Bundesregierung zum Gedanken- und
Erfahrungsaustausch sind im Sinne eines „Dialogs der Staatsorgane“ Ausdruck
dieses Interorganrespekts. Gleiches gilt für die regelmäßig stattfindenden
Besuche des Bundespräsidenten beim Bundesverfassungsgericht sowie die Treffen
des Bundesverfassungsgerichts mit Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Die
Treffen im Rahmen dieses Dialogs oberster Verfassungsorgane sind gänzlich
ungeeignet, Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richterinnen und Richter
des Bundesverfassungsgerichts zu begründen.
Etwas Anderes folgt nicht daraus, dass zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen
Treffens die vorliegenden Organstreitverfahren gegen die Bundeskanzlerin
beziehungsweise die Bundesregierung anhängig waren. Dagegen spricht bereits,
dass das Gericht permanent mit Verfahren befasst ist, welche das Handeln der
Bundesregierung oder anderer oberster Verfassungsorgane betreffen. Führte
allein dies dazu, dass von Zusammenkünften im Rahmen des institutionalisierten
Interorganaustauschs abgesehen werden müsste, würde dieser Austausch unmöglich.
Zudem käme darin ein Misstrauen gegenüber den Mitgliedern des
Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck, das dem grundgesetzlich und
einfachrechtlich vorausgesetzten Bild des Verfassungsrichters widerspricht.
Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass allein die zeitliche Nähe des Treffens
ohne irgendeinen inhaltlichen Bezug zur mündlichen Verhandlung dazu führen
könnte, dass die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht
mehr über die innere Unabhängigkeit und Distanz verfügen, die sie befähigt,
über die Gegenstände der vorliegenden Organstreitverfahren unvoreingenommen und
objektiv zu entscheiden. Soweit die Antragstellerin anzudeuten scheint, dass
die Einladung der Bundeskanzlerin gerade aus Anlass der vorliegenden
Organstreitverfahren ausgesprochen worden sei, handelt es sich schließlich um
eine Mutmaßung ohne sachlichen Hintergrund.
3. Bei offensichtlicher Unzulässigkeit sind die abgelehnten Richterinnen und
Richter zur Abgabe einer dienstlichen Erklärung nicht verpflichtet und von der
Entscheidung über das offensichtlich unzulässige Ablehnungsgesuch nicht
ausgeschlossen. Einer Entscheidung über das Ablehnungsgesuch gegen die
Richterinnen und Richter des Ersten Senats bedurfte es vor diesem Hintergrund
nicht.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 63/2021 vom 21. Juli 2021