Feindschaft zwischen Täter und Opfer kann gedämpft werden.

TP-Interview mit Rechtsanwältin Susann Westphal.

TP: Warum hier eine Nebenklage? Die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben und das Gericht die Anklage sogar verschärft – trotzdem kein Vertrauen in die Justiz?

Westphal: Grundsätzlich muß einmal klargestellt werden, daß die Nebenklage ganz eindeutig die Repräsentanz des Opfers im Strafverfahren deutlich machen soll. Die Nebenklage ermöglicht Opfern mancher Delikte eine aktive Prozeßteilnahme über die Zeugenrolle hinaus. Dementsprechend können sich Nebenklägerin oder Nebenkläger auch anwaltlich vertreten lassen. Spezielle Vorschriften für den Nebenklagevertreter gibt es jedoch kaum. Erst seit 1986, als die Reform des Opferschutzgesetzes die Stellung des Opfers etwas neu geregelt hat, sind hier auch die Regelungen eindeutiger beziehungsweise leichter zu fassen.

In einem Strafverfahren, das ohne die Beteiligung des Nebenklägers oder dessen Vertreter stattfindet, erscheint das Opfer in der Regel zu sehr neutralisiert. Die Frage, „Was geschieht mit dem Täter?“, dominiert in solchen Verfahren selbstverständlich. Natürlich ist gerade die Versachlichung im Strafverfahren der eigentlichen Rechtsfindung nur dienlich. Die Nebenklage soll dementsprechend auch nicht zum bloßen „Stimmungsmacher“ ausarten. Jedoch bedürfen Wiedergutmachung und Versöhnung, die zu einer größeren Komplexität und Effektivität auch beim Strafverfahren führen können, der Opferbeteiligung. Jedenfalls seit der Reform des Opferschutzgesetzes 1986 können Nebenkläger nicht mehr, wie dies früher recht häufig ausschließlich gesehen wurde, als „Gehilfen der Staatsanwaltschaft“ betrachtet werden. Der Nebenkläger ist selbständiger Verfahrensbeteiligter. Die Nebenklage soll auch tatsächlich dem Opfer das Gefühl vermitteln, an der Rechtsfindung im Prozeß beteiligt zu sein, geht es doch sehr häufig ganz maßgeblich um gravierende Einzelschicksale. Letztendlich ist es ja gerade die Tat, die dem Opfer Nachteile zugefügt hat, die zur Hauptverhandlung führt.

Hierin liegt auch der eigentliche Unterschied zur Staatsanwaltschaft. Sie vertritt den Staat. Damit nimmt sie die Belange des in rechtsstaatlichen Normen handelnden Gemeinwesens wahr. Die Staatsanwaltschaft als staatliche Behörde unterliegt den rechtlichen Bindungen des Staates, den sie vertritt. Das Interesse des Nebenklägers ist jedoch auf materielle Wahrheit und Gerechtigkeit festgelegt. Der Nebenkläger ist deshalb als Verletzter und Geschädigter materiell als Partei anzusehen. Er schützt zuerst sein eigenes Interesse und eventuell noch das Interesse der Allgemeinheit.
Der Nebenkläger und sein Vertreter vertreten insofern nicht den Staat. Auch sind ihnen jegliche Befugnisse zur Gewaltanwendung entzogen, hierbei muß er sich ganz auf die hierzu befugten staatlichen Organe verlassen.

Natürlich soll die Opferbeteiligung im Strafverfahren die Staatsanwaltschaft auch kontrollieren und nicht zuletzt ihren legitimen Einfluß auf den Prozeß ausüben. Schließlich geht es oftmals gerade um ganz bestimmte Konfliktsituationen zwischen Täter und Opfer. Im vorliegenden Fall ist die Auseinandersetzung mit dem Tatgeschehen und die Konfrontation des Täters mit dem Opfer bzw. den Hinterbliebenen des Opfers besonders wichtig. Hier handelt es sich um angeklagte Personen, die normalerweise dem Zugriff des Opfers entzogen wären. Politiker, Generäle und andere hochstehende Persönlichkeiten im Staatsgefüge sind gerade den Maueropfern als Auseinandersetzungspartner entzogen gewesen. Gerade ein solcher Prozeß wie der vorliegende kann als ein Prozeß der Versöhnung und des psychosozialen Ausgleichs unter Umständen dem Rechtsfrieden dienlich sein. Die eventuell bestehende Feindschaft zwischen Täter und Opfer kann gedämpft werden, unter Umständen wird der Täter allein durch die Anwesenheit des Opfers über die Konsequenzen seines Tuns eher einsichtig, und dies ist ein ganz wesentlicher Punkt, das Opfer erkennt auch, daß die Täter auch lediglich Menschen sind.

Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Nebenkläger bzw. deren Vertreter der Staatsanwaltschaft zur Seite treten, um das Genugtuungsinteresse des Opfers im Rahmen der staatlichen Strafverfolgung durchzusetzen. Diese sollte jedoch als Möglichkeit der Wiederherstellung des Rechtsfriedens aufgefaßt werden, da durch die Auseinandersetzung die Versöhnung von Täter und Opfer im besten Fall erreicht werden kann. Der Anwalt, als Organ der Rechtspflege und mit dem Vertrauen des Nebenklägers ausgestattet, kann dazu natürlich wesentlich beitragen.

TP: Wollen wir hoffen, daß dieser Idealfall der Versöhnung von Täter und Opfer, den sie hier sehr engagiert schildern, gegebenenfalls eintritt, doch wäre zuerst einmal zu klären, ob sich die Angeklagten überhaupt strafbar gemacht haben. Die Verteidigung und die Angeklagten stehen ja nun auf dem Standpunkt, durch diesen und vergleichbare Prozesse werde das Rückwirkungsverbot verletzt – wie begründen Sie als Vertreterin der Nebenklage das Gegenteil?

Westphal: Dies ist natürlich eine Frage, die in diesem Prozeß und auch in den parallel laufenden Prozessen dieser Art ständig im Auge behalten werden muß. Das Gericht ist gehalten, einen wahren rechtlichen Balanceakt zu vollziehen. Dies erfordert ungeheures sauberes juristisches Arbeiten von seiten der Gerichte. Hier ist sicherlich die 1946 entwickelte „Radbruchsche Formel“, die zur Eingrenzung und juristischen Einordnung des Unrechts im Dritten Reich gefunden wurde, als sog. Unerträglichkeitsformel zur Lösung heranzuziehen.

Auch die ehemalige DDR wurde nicht im luftleeren Raum regiert, sondern versuchte sich auch in völkerrechtliche Bedingungen einzuordnen. Sie hat dementsprechend diverse völkerrechtliche Entscheidungen mitgetragen und Verträge mit unterzeichnet. Nunmehr muß sich auch die DDR an den völkerrechtlichen Maßstäben, die sie in diesen Verträgen deutlich anerkannt hat, messen lassen.

TP: Die DDR hat diese internationalen Vereinbarungen nie in innerstaatliches Recht umgesetzt.

Westphal: Der BGH hat dessen ungeachtet in den bislang geführten Prozessen die von der DDR übernommenen Maßstäbe für die Verletzung der Menschenrechte aus den internationalen Vereinbarungen angewandt. Wie das Bundesverfassungsgericht sich in dieser Angelegenheit letztendlich entscheiden wird, ist meines Erachtens nicht vorhersehbar. Es handelt sich hierbei auch um ausgesprochen komplexe und schwierige juristische Fragen, die nicht angemessen vereinfacht beantwortet werden können.

TP: Als Vertreterin der Nebenklage verhielten Sie sich im bisherigen Prozeßverlauf äußerst zurückhaltend – läuft alles Ihren Wünschen entsprechend?

Westphal: Auch das ist, so denke ich, verallgemeinernd so nicht zu beantworten. Es laufen leider zur Zeit im Hause drei derartige Prozesse, einmal der sog. Politbüroprozeß, dann der sog. Kollegiumsprozeß und ein Prozeß gegen ehemalige Generäle der ehemaligen DDR.

Als Nebenklagevertreterin bin ich für die Nebenklage dementsprechend in allen drei Prozessen anwesend, da in allen drei Prozessen immer wieder der Fall Bittner in der Anklage zu finden ist, die Nebenklage dementsprechend in allen drei Prozessen diesbezüglich auch zugelassen wurde. Diese drei Prozesse sind aufgrund ihres vollkommen unterschiedlichen Prozeßverlaufes kaum noch miteinander zu vergleichen. Dies liegt teilweise an der Verhandlungsführung durch die jeweils Vorsitzenden Richter, auch an der sehr unterschiedlich gehandhabten Art und Weise der gewählten Verteidigung. Der Prozeß gegen die Generäle der ehemaligen DDR läuft bislang am zielstrebigsten seinem Ende entgegen. In diesem Verfahren war es für die Nebenklage sicherlich erwünscht und auch gefordert nach Bedarf einzugreifen und ihren Standpunkt deutlich zu machen bzw. durch Fragen ihren Standpunkt herausarbeiten zu müssen.

Gerade im vorliegenden Verfahren, dem sog. Politbüroprozeß, ergibt sich jedoch meines Erachtens bislang nicht die Notwendigkeit direkt einzugreifen. Der hier bislang vernommene Zeuge Oberstaatsanwalt Schneider aus München war prädestiniert für die Befragung durch die Verteidigung. Hier ergibt sich für die Nebenklage nicht unbedingt ein Betätigungsfeld.

Es muß hinzukommend beachtet werden, daß sich dieser Prozeß gegen die Politbüromitglieder noch sehr am Anfang der Beweisaufnahme befindet. Es wird sich sicherlich noch des öfteren die Gelegenheit ergeben, auch in diesen Prozeß von seiten der Nebenklage her einzugreifen. Dabei sollte immer der Sinn und Zweck der Nebenklage im Auge behalten werden, und es sollte gerade von der Nebenklage vermieden werden, unnötig Öl ins Feuer zu schütten, dies ist der Vergangenheitsbewältigung beider Seiten nicht dienlich.

TP: Ihr Kollege Plöger, der andere Nebenkläger vertritt, ist da weniger zimperlich. Er sieht schon einen Eingriff von der Nebenklage her geboten, wenn z.B. durch Anträge der Verteidigung zuviel Tumult im Gerichtssaal entsteht und beantragt dann schon mal, das Gericht möge einen Hinweis erteilen, daß die Angeklagten auch wegen Ungebührlichkeit in Haft genommen werden können.

Auch eine Aufgabe der Nebenklage, mal auf den Putz zu klopfen?

Westphal: Selbstverständlich ist es grundsätzlich jedem Kollegen selbst überlassen, wie er seine ihm gegebene Aufgabe übernimmt. Der Stil des Kollegen Plöger unterscheidet sich da unter Umständen einfach von dem meinen. Ich kann nur wiederholen, daß es meines Erachtens der Sache nicht dienlich ist und auch keinerlei Lösung herbeiführt, durch mehr oder weniger bewußt provozierte Streitgespräche ein Verfahren in den unsachlichen Bereich zu drängen.

TP: Wie beurteilen Sie eigentlich die Rechtsansicht, daß die Anklage schlicht und einfach konstruiert ist?

Westphal: Meines Erachtens kann man von einer konstruierten Anklage nicht ausgehen. Die Anklagevertretung hat sich durch wahre Berge von Urkunden hindurchgelesen, sämtliche Materialien und Informationen gesammelt, die sie für eine so schwierige Anklage sicherlich auch benötigte. Ein argumentativ so wenig belegter Vorwurf, die Anklage sei schlicht und einfach konstruiert, entbehrt jeder Grundlage. Es müßten zumindest Argumente angeführt werden, mit denen sich alle Seiten auseinandersetzen könnten. Man vergißt wohl von seiten der Angeklagten, daß Belege, Urkunden und anderes Material selbstverständlich auch jeweils von zwei Seiten betrachten werden können.

TP: Es fällt aber noch sehr gravierend auf, daß Divergenzen zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht insofern bestehen, als das Gericht die Anklage sogar verschärft hat. Die Staatsanwaltschaft hält dennoch – jedenfalls was die vier jüngeren Angeklagten betrifft – strikt am ursprünglichen Anklagevorwurf fest – gibt das nicht zu denken?

Westphal: Selbstverständlich sollte die kritische Auseinandersetzung mit der Anklageschrift bzw. mit dem Verhalten von Gericht und Staatsanwaltschaft immer möglich sein. Keinesfalls ist es im Sinne der Nebenklage, lediglich bei irgend jemandem zu einem Schuldspruch zu gelangen, ohne daß sich dabei an rechtsstaatliche Prinzipien gehalten wird. Die Nebenklage hat kein Interesse daran, daß irgendeine Verurteilung erfolgt. Es kommt vielmehr darauf an, daß die tatsächlichen Täter mit rechtsstaatlichen Mitteln überführt werden können. Doch diese Verfahren dürfen nicht dazu führen, undifferenziert eine Verurteilung gerade dieser Angeklagten herbeizuführen, ohne sich weiterhin kritisch mit den Vorwürfen bzw. der Vorwerfbarkeit auseinanderzusetzen. Es kann nur im Interesse der Nebenklage sein, sich gerade rechtsstaatlicher Mittel zu bedienen.

TP: Worin liegt für Sie der Beweis, daß es einen Schießbefehl in der DDR gegeben hat?

Westphal: Wir haben mit den ins Strafverfahren eingeführten bzw. noch einzuführenden Befehlen 101 u.a. die Rahmenbedingungen, unter denen die ehemalige DDR ihre Grenze geschützt sehen wollte. Diese Befehle konkretisierten sich in der Laufleiter der Befehle nach unten hin immer deutlicher. Dies endete in der alltäglichen Vergatterung der Grenzer, die dann vor Ort diese Grenze zu bewachen und zu „verteidigen“ hatten. Letztendlich war der Grenzdurchbruch zu verhindern. Als letztes Mittel war hierbei auch der Einsatz der Schußwaffe erlaubt, insbesondere auch als letztes Mittel die Tötung der Flüchtenden. Dies deckt auch die Schußwaffengebrauchsbestimmung der ehemaligen DDR ab.

Wenn man bedenkt, daß die Grenzsoldaten in der Regel auf den Wachtürmen ihren Dienst taten, dann bleibt für den einzelnen Grenzsoldaten kaum noch eine andere Wahl überhaupt ein anderes Mittel anzuwenden, als die Schußwaffe, um den Flüchtenden am Grenzübertritt zu hindern. In einem Parallelverfahren hat ein Schütze die Frage gestellt, wie er denn oben von seinem Turm, durch diverse Türen und Leitern gehindert, tatsächlich jemandem, der womöglich schnell rennend die Grenze überwinden wolle, hinterherkommen solle. Bis er auf gleicher Ebene mit dem Flüchtenden sei, sei dieser doch längst über die Grenze verschwunden. Es sei dementsprechend beschönigend dargestellt worden, daß die Flucht durch Schüsse als letztes Mittel zu verhindern sei, in der Regel sei der Schuß auch das einzige Mittel gewesen, das den Flüchtenden überhaupt an der Flucht habe hindern können.

TP: Hans Modrow sagt, wir müssen die Globalität der Zeit begreifen -glauben Sie, daß unter Berücksichtigung der geschichtlichen Zusammenhänge der hier vorliegende Fall anders zu bewerten wäre?

Westphal: Gerade der Versuch, die Fehler der Vergangenheitsbewältigung aus dem Dritten Reich zu vermeiden, hat zu einer fast zwanghaften Art geführt, nunmehr das Aufarbeiten nicht zu vergessen.

Da sind wir wieder bei einem ganz problematischen Punkt angelangt. Die Argumentation im vorliegenden Prozeß und in den Parallelprozessen reduziert sich oftmals und immer wieder darauf, daß bloß Befehle ausgeführt wurden, diese hätte man schließlich befolgen müssen.

Diese Problematik trägt man bereits einige Zeit mit sich herum: Befehle werden befolgt, das enthebt einen zu denken.

So werden – menschlicherweise – immer wieder unangenehme Konsequenzen des eigenen Handelns umgangen, entschuldigt auch diese damit.

Wenn also die Verteidigungslinie stimmt, daß man nur nach Gesetz und Recht der DDR Befehle entworfen habe, dann sind die Gesetze schuld und damit die juristischen Berater. Demzufolge müßten also diese auf die Anklagebank beziehungsweise, wenn sich der Kreis schließt, eigentlich niemand mehr…

Warum aber wurden letztendlich die Mauerschützen belobigt, ausgezeichnet und mit Geldprämien sogar bedacht; wäre der Tod nicht gewollt gewesen, dann hätte eine Auszeichnung und Belobigung nicht erfolgen dürfen. Und daß sie stattgefunden haben, denke ich, ist unstrittig.
Auf politischem Wege gibt es immer andere Möglichkeiten als die Gewalt gegen das eigene Volk, aber auch die Gewalt der Völker untereinander. Auch das ist, so denke ich, in der politischen Landschaft tagtäglich zu beobachten.

Paradoxerweise ist die Verteidigung in diesen Prozessen erstaunlich uneins. Es kam z.B. die Frage auf, ob es sich hier tatsächlich um Befehle handelt, ob tatsächlich die Befehle 101 und andere eigentlich nur als Befehle überschrieben wurden, aber inhaltlich so unkonkret seien, daß man sagen muß, es handele sich gar nicht um Befehle. Das wiederum stieß bei dem Prozeß gegen die Generäle, also in dem Parallelprozeß, auf heftigstes Lachen; also ist offensichtlich nicht mal die Verteidigung in diesen Prozessen auf einer Linie, beziehungsweise selbst da schiebt man die Argumentation hin und her -mehr oder weniger nach Bedarf.

Waren die Russen nun aber wirklich die Sklaventreiber der DDR, zu denen man sich sozusagen beifallheischend umsah?
Dr. Hans-Otto Bräutigam hat in seiner Zeugenvernahme im Prozeß gegen die ehemaligen Generäle recht deutlich gesagt, daß die ehemalige DDR selbstverständlich nicht unbedingt frei war in dem, was sie entscheiden konnte, aber sie hat diese Art der Grenzsicherung auch befürwortet, das heißt, sie hat sie akzeptiert und sie hat sich auch nicht dagegen gestellt. Es ginge gar nicht um die Frage, konnte sie sich dagegen stellen, sie wollte es auch nicht.

Vielleicht war es prozeßökonomisch fatal, diese Prozesse insgesamt zu beginnen. Tatsächlich erscheint im Angesicht der Toten an der Mauer auch bereits die Absicht, nicht die Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, jedoch noch weniger erstrebenswert.

Prozeßökonomisch sind diese Prozesse nicht, sie sind juristisch extrem schwierig, und trotzdem muß man sich meines Erachtens dieser Mühsal unterziehen; es kann natürlich nicht sein, daß Mauerschützenprozesse stattfinden und die politisch Verantwortlichen verschont bleiben.

TP: Unterstellt, die DDR existierte noch – könnten Sie sich vorstellen, daß ihre Staatsoberhäupter heute noch ungehindert auf Staatsbesuch in der Bundesrepublik einreisen könnten bzw. die Justiz Prozesse führen würde, wie es heute geschieht?

Westphal: Hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben, so wären wir heute wahrscheinlich – und ich bitte zu bedenken, daß dies auch nur eine rein hypothetische Antwort sein kann – soweit, wie es die politischen Annäherungsversuche zugelassen hätten. Da es die ganz deutliche politische Zielrichtung der damaligen Bundesrepublik war, die ehemalige DDR nicht durch verbale Angriffe und Verurteilungen bloßzustellen, sondern auf politischem Wege die gegenseitigen Lebensbedingungen zu erleichtern bzw. zu normalisieren, ist anzunehmen, daß auf diesem Wege fortgefahren worden wäre. Es hätte keinen Grund gegeben, hiervon abzuweichen, wo bereits seit Jahrzehnten versucht wurde, eine gewisse Entspannungspolitik zu betreiben.

Jedenfalls hätte es keinerlei Sinn gemacht, in den völlig unproduktiven und sich gegenseitig behindernden „Kalten Krieg“ zurückzufallen und den Pfad der Verhandlungsbasis zu verlassen.

TP: Und an der Grenze und Mauer wären womöglich weiterhin Menschen erschossen oder verletzt worden und die Maßnahmen von westlicher Seite her hätten sich auf politische Proteste -allenfalls- beschränkt. Hätte es einem Staatsanwalt nicht schon bereits 1987, anstatt das Straffreiheitsgesetz für Honecker zu akzeptieren, besser angestanden, sich darauf zu besinnen – wir haben Gewaltenteilung und das Legalitätsprinzip wäre insofern auch eine Art Berechtigung gewesen – Anklage schon damals zu erheben?

Westphal: Ich glaube, die Staatsanwaltschaft hätte es damals gar nicht gekonnt und zwar aus den Gründen, die sie wahrscheinlich erst jetzt dazu befähigen; man hat damals einfach gar nicht genug Informationsmaterial gehabt. Sämtliche Unterlagen, die heute zugänglich sind, standen nicht zur Verfügung, diese sind erst durch Wiedervereinigung verwertbar gewesen.

TP: Es gibt ja durchaus glaubwürdige Politiker, die argumentieren, was brauchen wir denn für Beweise, die Toten und Verletzten sind doch Beweis genug, die gab es 1987 bereits zur Genüge…

Westphal: Da kommen wir zu dem Punkt, den Sie eben bereits angesprochen haben: Wir haben eine Gewaltenteilung und so einfach darf sich das glücklicherweise auch die Staatsanwaltschaft nicht machen. Natürlich ist jeder Tote an der Mauer zu viel. Aber als juristisch verwertbarer Beweis darf er alleine nicht gelten. Es muß natürlich ein rechtsstaatlicher Prozeß stattfinden, der den Grundsätzen des Rechtsstaates gehorcht und dementsprechend auch die Beweiskette schließt und die Kausalitäten nachweist.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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