TP-Interview mit Prof. Dr. Uwe Wesel.
Frage:
Als im Jahre 2000 die Politbüro-Mitglieder Herbert Häber, Siegfried Lorenz und Hans-Joachim Böhme vom Landgericht Berlin freigesprochen wurden, ging das damals Ihrer Meinung nach in Ordnung?
Wesel:
Ja, das war ein sehr vernünftiges Urteil; allerdings hat der Vorsitzende Richter ja gleich gesehen, daß die Gefahr bestehen würde, die Urteile könnten aufgehoben werden. Er hat ja auch gesagt, er beträte wissenschaftliches Neuland. Das Problem bestand für ihn darin, daß vorher eine andere Strafkammer aufgrund desselben Sachverhaltes im 1. Politbüro-Prozeß die Angeklagten …
Frage:
… Günther Kleiber, Egon Krenz und Günter Schabowski …
Wesel:
… verurteilt hatte, und er kam zu dem Ergebnis: Das Urteil war falsch, ich mache es anders; und es war zu erwarten, daß der Bundesgerichtshof, der ja dieses erste Urteil bestätigt hatte, dann im anderen Fall wieder ebenso entscheiden müßte. Das heißt also, dieses Urteil wieder aufheben würde. Das war zu erwarten. Das Urteil des Landgerichts im 2. Politbüro-Prozeß war richtig, das im 1. Politbüro-Prozeß war falsch. Aber der Richter im 2. Politbüro-Prozeß war ein mutiger Mann, der kurz vor seiner Pensionierung stand. Der konnte richtiges Recht sprechen, die anderen mußten noch Rücksicht nehmen.
Frage:
Der BGH hat ja nun, wie Sie schon gesagt haben, die Freisprüche nicht gelten lassen. Er ist der Ansicht, die Angeklagten hätten sich der Beihilfe zum Mord durch Unterlassen schuldig gemacht. Rechtskonstruktion oder korrekte Anwendung bzw. Auslegung des DDR-Rechts?
Wesel:
Wir befinden uns hier im Bereich stark politischer Beurteilungen von Vorgängen. Juristisch ist diese Beurteilung des Bundesgerichtshofes völlig neben der Sache. Eine Beihilfe durch Unterlassen kann ja wirklich nur der leisten, der eine Chance hat, etwas zu erreichen, wenn er etwas tut. Natürlich haben die Politbüro-Mitglieder irgendwo die Pflicht gehabt, etwas zu tun, aber selbst wenn sie etwas getan hätten, das heißt, wenn sie protestiert hätten innerhalb des Politbüros und verlangt hätten, daß diese Art des Grenzregimes geändert wird, würden sie sofort rausgeschmissen worden sein. Es hätte sich überhaupt nichts geändert, d.h. juristisch ist das Ganze ein völliger Unsinn.
Frage:
Der BGH hat ja auch in seinem Urteil vom 6. November 2002 die Voraussetzung einer Beihilfe durch Unterlassen nach DDR-Recht dann als gegeben angesehen, wenn betreffenden Personen zum einen eine Rechtspflicht obliegt, gegen strafbare Handlungen einzuschreiten und das Verhalten des Gehilfen die Straftat tatsächlich ermöglicht oder erleichtert hat. Wäre von DDR-Gerichten diese Rechtsansicht auf die Politbüro-Mitglieder übertragen worden?
Wesel:
Die Frage stellen, heißt doch schon, sie zu verneinen. Es geht ja auch nach dem Recht der Bundesrepublik noch nicht mal; selbst das Recht der Bundesrepublik ist falsch angewendet worden, und es ist natürlich auch das Recht der DDR falsch angewendet worden, und nach keinem Recht der DDR wären die verurteilt worden. Vielleicht hätte ein Gericht der DDR etwa Anfang 1990 verurteilt, ich glaube es aber nicht.
Frage:
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat ja in seinem Urteil gegen Keßler, Krenz, Streletz und einen Grenzsoldaten auch angeführt, daß in der Noch-DDR bereits Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren als Indiz dafür, daß auch verurteilt worden wäre.
Wesel:
Da war ja inzwischen der politische Wind schon umgeschlagen. Da hatten inzwischen die Wahlen stattgefunden, Herr de Maizière war gewählt worden. Allerdings waren ja noch alle alten Richter der DDR im Amt. Ich glaube nicht, daß die ein solches Urteil gefällt hätten, obwohl, man weiß nie, ob da Opportunisten darunter gewesen sind. Aber ich glaube nicht, daß in der DDR, auch unter Krenz und Modrow, wie auch unter de Maizière ein solches Urteil gefällt worden wäre. Fast ausgeschlossen.
Frage:
Auch unter de Maizière nicht?
Wesel:
Nein, da sind ja noch die alten Richter gewesen, die waren ja noch im Amt und würden das niemals gemacht haben. Und wenn man auch normal nach DDR-Recht vorgeht und – ich betone das nochmal – genauso wie nach dem Recht der Bundesrepublik: die haben sich keiner Unterlassung schuldig gemacht, die strafbar ist, weil sie nichts erreicht haben würden damals. Wenn sie protestiert hätten und wenn sie einen entsprechenden Antrag im Politbüro gestellt hätten, dieses Grenzregime in dieser Form zu beenden und sofort sozusagen die Grenze zu öffnen und nicht mehr zu schießen, dann wären sie aus dem Politbüro rausgeflogen, neue Leute wären ins Politbüro reingekommen und es würde sich nichts geändert haben. Das würde nicht gelaufen sein, sie hatten keine Chance. Selbst wenn sie gewollt hätten, sie hätten nichts erreicht. Sie haben es natürlich nicht gewollt, das ist richtig, insofern haben sie etwas unterlassen; aber wenn sie es gewollt hätten – eine Bestrafung wegen Unterlassung setzt ja auch voraus, daß auch noch eine Chance besteht, daß man etwas erreichen kann, aber diese Chance bestand ja noch nicht einmal – hätte sich ja auch nichts geändert, denn sie wären rausgeflogen und das Ganze wäre weitergemacht worden.
Frage:
Der BGH hat sich in seinem Urteil auch auf eine ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichts bezogen, wonach mehrere parallel Verantwortliche die Rettung von Menschenleben oder den Schutz menschlicher Gesundheit unterlassen hatten. Hat der BGH hier die DDR-Rechtsprechung richtig erkannt und ist sie insoweit korrekt auf die Politbüro-Mitglieder angewendet worden?
Wesel:
Wir sprechen hier immer wieder über dasselbe. Die Verurteilung ist sowohl nach DDR-Recht falsch wie sie nach bundesdeutschem Recht falsch ist. Natürlich gibt es Unterlassungshandlungen, die tatsächlich strafbar sind, das zitiert der Bundesgerichtshof zwar …
Frage:
… aber überträgt sie falsch auf die Politbüro-Mitglieder? …
Wesel:
… natürlich, weil sie keine Chance gehabt hätten. Die Fälle, die der Oberste Gerichtshof meint, sind Fälle, in denen diejenigen, die etwas unterlassen hatten, auch eine Chance hatten, jemanden zu retten oder Tötungen zu verhindern. Das sind ganz andere Fälle. Es ist doch auch lächerlich: Nehmen Sie nur die Politbüro-Beschlüsse, derentwegen Krenz und seine Mitangeklagten auf der einen und Häber und seine Mitangeklagten auf der anderen Seite verurteilt worden sind. Diese Beschlüsse sind so läppisch, die haben keinerlei Auswirkungen mehr gehabt. Ein positives Tun ist nicht mehr nachweisbar, jetzt geht man auf Unterlassen. Das ist genauso läppisch.
Frage:
Prof. Häber soll ja nun auch wie Egon Krenz und Kleiber und Schabowski wegen der Mitwirkung an einem Beschluß vom 11. Juni 1985 wegen Totschlags durch aktiven Tuns verurteilt werden. Ist dieser Beschluß denn nun wirklich kausal für den Tod von Flüchtlingen an der deutsch-deutschen Grenze anzusehen?
Wesel:
Nein, das kann man nicht sagen. Dieser Beschluß ist dann zwar in den Befehlen des Ministeriums immer wieder gebetsmühlenartig neben vielen anderen mitgenannt worden, aber wenn dieser Beschluß nicht ergangen wäre, würde die Todesmaschinerie natürlich weitergelaufen sein. Auch diese Konstruktion ist einfach falsch, um nicht zu sagen lächerlich.
Frage:
In den von Ihnen genannten Befehlen ist sogar die Rede davon, daß Grenzverletzer als solche festzunehmen sind, und wer tatsächlich zu vernichten ist, ist jemand, der die DDR angreift. Wie erklären Sie sich die Interpretation der Gerichte, Grenzverletzer seien zu vernichten gewesen?
Wesel:
Grenzverletzer sind auch solche, die fliehen wollten, das war ja nach DDR-Recht ein Verbrechen, wenn es da an der Grenze passiert ist und noch gewisse Umstände hinzukommen, die ja regelmäßig angenommen wurden oder tatsächlich gegeben hat. Das war ja diese komische Kombination der Strafvorschrift im Strafgesetzbuch der DDR wegen ungesetzlichen Grenzübertritts mit dem § 27 des Grenzgesetzes. Das war insofern schon in Ordnung, daß man das als Verbrechen bezeichnet, aber diese Beschlüsse, besonders der vom 11. Juni 1985, hat mit der Todesmaschinerie, die da lief seit 1961 spätestens, ja überhaupt nichts mehr zu tun . Die lief ja schon seit fast 25 Jahren. Das wurde ja einfach immer nur jedes Jahr wieder beschlossen. Dieser Beschluß vom 11. Juni 1985 betraf auch etwas ganz anderes. Er ist zwar in diese lange Reihe von Beschlüssen des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates mit aufgenommen worden, aber wenn er nicht dagewesen wäre – und das ist das entscheidende -, wenn er nicht gefaßt worden wäre, würden die armen Menschen, die danach erschossen worden sind, mit Sicherheit auch erschossen worden sein.
Frage:
In einem Kommentar von Neues Deutschland stand drin, daß der BGH in seiner eigenen Rechtsprechung gefangen sei hinsichtlich früherer Verurteilungen von DDR-Funktionsträgern. Ist ein Gericht stets an seine eigene Rechtsprechung gebunden bzw. ist ein Gericht in jedem Falle gefangen in seiner eigenen Rechtsprechungspraxis?
Wesel:
Das ist natürlich Quatsch. Jedes Gericht kann seine Rechtsprechung sofort ändern – im Gegensatz zur DDR, möchte ich mal betonen. Da war das schwer möglich. Unsere Richter sind tatsächlich frei, wie Sie ja auch am Landgericht Berlin sehen: die eine Kammer urteilt so, die andere urteilt anders. Und natürlich kann auch der BGH seine Rechtsprechung jederzeit ändern. Er ist da nicht gefangen. Das wäre jetzt peinlich gewesen, wenn die Richter die Verurteilungen in dem einen Fall bestätigten und im anderen Falle, der genauso gelagert ist, den Freispruch auch bestätigten. Da hätten sie sich in der Tat widersprochen. Das hätten sie zwar theoretisch tun können – juristisch wäre das auch ohne weiteres möglich gewesen -, nur hätte das natürlich schon einen etwas merkwürdigen Eindruck gemacht und sicherlich auch die Empörung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und anderer freundlicher Presseorgane hervorgerufen.
Frage:
Sie haben ja auch die Meinung vertreten, daß die Gerichte sich hinsichtlich der DDR-Vergangenheitsbewältigung am Rande der Rechtsbeugung bewegen. Ist dieser Rand nach dem, was Sie jetzt alles gesagt haben, nicht längst überschritten worden?
Wesel:
Nein, das würde ich nicht sagen. Rechtsbeugung setzt ja voraus, daß ein Richter ganz bewußt die Grenzen übertritt, die ihm durch das Recht gesetzt sind. Es geht ja auch nicht nur um Gesetze, sondern es geht um Recht. Und Rechtsbeugung würde ich den Richtern nicht vorwerfen. Sie leben in einer Justiz, in der westdeutschen Justiz, die da auch eine klare Haltung hat. Irgendwo muß man das auch verstehen können. Es sind ja nun auch tatsächlich Verbrechen begangen worden an der Grenze von seiten der DDR. Und daß man nun verzweifelt versucht durch komplizierteste juristische Konstruktionen, die Täter zu verurteilen, das ist, wie ich es formuliert habe, am Rande der Rechtsüberbeugung, aber ich würde sagen, es ist kein ungesetzlicher Grenzübertritt, wie es im Strafgesetzbuch der DDR hieß. Es darf noch nicht geschossen werden, wie es im § 27 des Grenzgesetzes hieß.
Frage:
Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff hat ja in einem Interview gesagt, daß er wohl nicht mehr mit einem Freispruch rechnet in einem Wiederholungsverfahren. Er hofft auch Bewährungsstrafen.
Wesel:
Ich glaube, daß Herr Wolff Recht hat. Das Verfahren liegt ja nun wieder beim Landgericht Berlin, der Freispruch ist aufgehoben, eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin wird sich an die Vorgaben des BGH halten, sonst wird das Urteil nur wieder aufgehoben, was zusätzliche Arbeit kostet. Also es wäre unsinnig, jetzt wieder freizusprechen. Man muß damit rechnen, daß die Angeklagten des 2. Politbüro-Prozesses jetzt verurteilt werden. Bei Herrn Häber wird man natürlich besonders berücksichtigen, wie er sich später verhalten hat oder wie er ja später selbst unter Druck der politischen Führung gekommen ist. Und das wird wahrscheinlich zu einer Bewährungsstrafe führen, die dann aber folgerichtig wäre. Bei der Strafzumessung kann man ja auch die ganzen Umstände berücksichtigen, die ein Angeklagter zur Zeit der Tat, aber auch bis zur Verurteilung zu vertreten hat. Ich bin sicher, daß Herr Häber nur eine Bewährungsstrafe bekommt. Das ist dann auch in einem höheren Maße „gerecht“, wenn man das etwa mit Herrn Krenz vergleicht.
Frage:
Die beiden anderen – Böhme und Lorenz – werden wahrscheinlich auch Bewährungsstrafen erhalten, denn der BGH hat ja auch darauf hingewiesen, daß die Dauer des Verfahrens zu berücksichtigen ist.
Wesel:
Das ist noch ein zusätzliches Moment. Der BGH fährt hier eine mittlere Linie. Auf der einen Seite sehen sie selbst, daß die Sache ein bißchen grotesk ist, auch das mit der Verurteilung im 1. Politbüro-Prozeß mindestens zweifelhaft ist, auch für die Richter da in Leipzig. Und nun macht man das, was man in solchen Fällen immer macht: Man fährt nicht die harte Linie, sondern eine mittlere.
Interview: Dietmar Jochum, 13.12.2002
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin