Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) dringt auf eine rechtzeitige Reform des Wahlrechts zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl. Sie warte die Koalitionsverhandlungen ab, weil sie gehört habe, dass diese Frage auch Thema in diesen Gesprächen werden soll, sagte Bas der Wochenzeitung „Das Parlament“. Sie werde sich dann anschauen, wie die Vorschläge aussehen und was die Fraktionen vorlegen. Wenn das aber nicht stattfinde oder sie merke, dass es zu lange dauert, müsse die vom letzten Bundestag im April eingesetzte Kommission zur Reform des Wahlrechts wieder eingerichtet werden. „Wir müssen das in dieser Legislatur rechtzeitig machen – und nicht erst kurz bevor die nächste Wahl vor uns steht“, betonte die Parlamentspräsidentin.
Dabei wisse sie, wie schwierig das ist, fügte Bas hinzu. Wenn man die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten verringern wolle, müsse man die Wahlkreise vergrößern. Das sei ein Problem, wenn man gleichzeitig auch Bürgernähe wolle, und entsprechend immer ein Streitpunkt zwischen den Fraktionen gewesen. Für die Parteien, deren Abgeordnete vorwiegend über die Listen ins Parlament kommen, sei das nicht maßgeblich. Es werde also eine Mischung aus mehreren Maßnahmen geben müssen, um die Zahl der Abgeordneten wirksam zu begrenzen.
Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das am 1.11.2021 in der Wochenzeitung „Das Parlament“ erscheinende Interview im vollständigen Wortlaut:
Frau
Präsidentin, bei der Bundestagswahl im September konnten Sie noch nicht ahnen,
dass Sie an der Spitze des neuen Parlaments stehen werden. Waren Sie
überrascht, als Sie merkten, dass diese Aufgabe auf Sie zukommen könnte?
Ja, schon – auch wenn mein Name und andere vorher schon in den Medien genannt
worden waren. Ich bin seit 2009 im Bundestag, habe viele Jahre Erfahrung als
Parlamentarische Geschäftsführerin und kenne das Innenleben des Parlaments sehr
gut. Aber dass ich nun sogar dessen Präsidentin sein würde, kam überraschend
für mich und freut mich sehr.
Mit dem Amt
der Bundestagspräsidentin sind viele Erwartungen verbunden. Wo sehen Sie sich
in diesem Amt besonders gefordert?
Der neue Bundestag ist total jung und vielfältig aufgestellt. Ich möchte das
nutzen – was im Übrigen auch ein Anliegen vieler neuer Abgeordneter ist –, um
die Arbeitsweise des Parlaments zu modernisieren, digitaler zu werden, für
weitere Transparenz und Bürgernähe sorgen. Bürgernähe betrifft auch die
Sprache, die wir hier verwenden. Sie muss verständlich sein, damit die Menschen
Entscheidungen nachvollziehen können. Vielleicht kann man dazu außerdem das
Format der Bürgerräte, das es ja schon gibt, noch ausbauen oder ergänzen.
Sie haben ja
schon in Ihrer Antrittsrede für eine neue Sprache der Politik plädiert, mit der
die Menschen wieder besser erreicht werden sollen. Wo genau hapert es denn da
derzeit in Ihren Augen?
Zum Beispiel daran, dass wir im Plenum oft Fachbegriffe benutzen oder
Abkürzungen, die die Menschen nicht verstehen. Ich musste mir das selbst als
Gesundheitspolitikerin abgewöhnen, zum Beispiel „GKV“ für „Gesetzliche
Krankenversicherung“ zu sagen. Nicht jeder, der da zuhört, weiß auf Anhieb, was
damit gemeint ist. Man steckt als Fachpolitiker in der speziellen Materie und
setzt zu leicht voraus, dass jeder die Abkürzungen oder Begriffe kennt, die wir
benutzen. Deshalb ist mein Appell an die Abgeordneten, sehr Fachliches trotz
der knappen Redezeit zu erklären. Das klingt nach Kleinigkeiten, aber die
machen viel aus. Entscheidend für die Akzeptanz ist, dass Politik von den
Bürgerinnen und Bürgern verstanden wird.
Mit mehr
Bürgernähe wollen Sie auch Menschen erreichen, die sich von der Politik schon
lange nicht mehr angesprochen fühlen. Wie soll das etwa in Duisburg-Marxloh in
Ihrem Nachbar-Wahlkreis gehen, wo die Wahlbeteiligung im September bei 40
Prozent lag?
Da fühlten sich viele nicht angesprochen, in diesem Wahlkreis haben viele Menschen
einen Migrationshintergrund, es gibt oft Sprachbarrieren – das führt zu einer
gewissen Scheu. Man muss diese Scheu nehmen, sich mit Politik zu befassen oder
auf Abgeordnete zuzugehen. Deshalb ist die Arbeit der Parlamentarier im
Wahlkreis so ungeheuer wichtig, oder Formate wie die Wanderausstellung und die
Infomobile des Bundestages, die auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen über die
Arbeit des Parlaments informieren, häufig mit den Abgeordneten vor Ort. Man
muss sich auch fragen, wie man Zielgruppen erreicht, die mit einer Broschüre
nicht erreicht werden. Jugendliche etwa lesen keine Tageszeitung, die
informieren sich ganz anders, häufig über soziale Medien. Der Bundestag ist da
inzwischen sehr aktiv mit Informationen über Twitter, einem eigenen Youtube-Kanal
und Erklärvideos, eigenen, interaktiven Seiten für Jugendliche und Kinder. Die
Nutzung dieser Angebote hat enorm zugenommen, und das lässt sich digital sicher
noch weiter modernisieren, um all diese Gruppen zu erreichen.
In Duisburg,
zu dem auch ihr Wahlkreis gehört, weiß man, was Strukturwandel bedeutet. Welche
solcher Erfahrungen, auch mit den sozialen Folgen, lassen sich bei der
angestrebten ökologischen und digitalen Transformation des Landes nutzen?
Es ist den Leuten schon klar, dass sich etwas verändern muss, allein wenn sie
sehen, wie Wetterextreme zunehmen. Aber die meisten haben schon jetzt Angst,
dass sie dabei die Verlierer sind und – wie man so sagt – der kleine Mann am
Ende seine Arbeit nicht mehr hat. Bei mir im Wahlkreis sorgen sich die
Menschen, dass sie ihr altes Auto wegen der steigenden Benzinpreise nicht mehr
fahren und sich erst recht kein neues kaufen können. Viele alte Leute haben
Angst, dass sie im Winter mit der Decke in der Wohnung sitzen müssen, weil sie
die Heizung nicht mehr bezahlen können. Da müssen wir deutlich erklären, dass
wir das nicht zulassen werden. Die Notwendigkeit, diese Menschen mitzunehmen
und ihre Sorgen in die Politik zu transportieren, ist entscheidend. Von manchem
Strukturwandel fühlen sich die Menschen überrollt. Ein Beispiel: Wenn man
Stahlunternehmen auf Wasserstoff umstellt, wird es dort andere Berufe geben. Es
reicht aber nicht, nur die Technik umzustellen, sondern man muss auch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei mitnehmen – und zwar rechtzeitig durch
Umschulung und Weiterbildung und indem man ihnen die Sorgen vor einem
Arbeitsplatzverlust nimmt.
Noch einmal
zurück zu Ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin: Mit Ihnen und vier
Stellvertreterinnen sind mehr Frauen denn je im Präsidium…
Dass es jetzt mal einen sichtbaren Schub für mehr Frauen auch in
Führungsfunktionen gegeben hat, finde ich sehr gut. Und dass jetzt mal mehr
Frauen als Männer im Präsidium sind, finde ich gar nicht schlimm. Es war ja
viele Jahrzehnte genau umgekehrt.
Auch der Frauenanteil
im Parlament insgesamt ist wieder auf mehr als ein Drittel gestiegen. Halten
Sie das für ausreichend?
Wenn es nach mir ginge, wäre das große Ziel, dass wir irgendwann zu halbe-halbe
kämen. Aber das liegt am Wahlrecht, an der Aufstellung der Wahlkreiskandidaten
und der Frage, wer gewählt wird. Bei mir in Duisburg gibt es zwei Wahlkreise,
und da haben wir gesagt, dass in einem Wahlkreis eine Frau und im anderen ein
Mann kandidiert. Wenn es aber nur einen Wahlkreis gibt, geht das nicht.
Das betrifft
die direkt in den Wahlkreisen gewählten Abgeordneten. In Brandenburg und
Thüringen wurden Paritätsgesetze für verfassungswidrig erklärt, mit denen die
Parteien verpflichtet werden sollten, ihre Listenplätze abwechselnd mit Männern
und Frauen zu besetzen. Sehen Sie darin trotzdem einen möglichen Ansatz?
Ich bin keine Juristin, aber ich glaube, dass es schon Sinn macht, wenn es
tatsächlich zu einer Verpflichtung kommt, dass zumindest die Landeslisten so
aufgestellt werden. Die SPD macht die Listenaufstellung schon von sich aus
immer im Reißverschlussverfahren Frau/Mann. Deshalb ist bei den Parteien, die
das schon länger paritätisch handhaben, der Frauenanteil viel, viel höher. Ich
würde mir wünschen, dass es uns auch rechtlich gelingt, in Zukunft für alle Parteien
zu verankern, dass dieses paritätische Verfahren möglich wird.
Über die
Zusammensetzung des Bundestages wird auch sonst gerne diskutiert, etwa bei der
Klage, dass Akademiker im Parlament zu sehr unter sich seien. Ist solche Kritik
berechtigt?
Natürlich sollte das Parlament nach Möglichkeit alle gesellschaftlichen Gruppen
und Berufsgruppen widerspiegeln, aber das wird nie ganz gelingen. In der Tat
haben wir nicht so viele Abgeordnete mit „normalen Berufen“, und es gibt auch
den oft kritisierten Weg vom Hörsaal in den Plenarsaal. Auf der anderen Seite
stehen wir dafür, dass viele Menschen nach Möglichkeit einen hohen Bildungsgrad
erreichen können. Das spiegelt sich dann auch im Parlament wider. Ich finde das
nicht schlecht oder schlimm, aber ich fände es natürlich gut, wenn sich mehr
Menschen mit anderen Berufen, mit dualer Ausbildung beispielsweise, im
Parlament wiederfinden. Das Ziel muss doch sein, dass sich dies mehr Leute
zutrauen, die dann auch Lust haben, ihre Zeit in politisches Engagement zu stecken.
Mich fragen viele Schulklassen, wie ich das gemacht habe. Ich habe ja eine ganz
normale duale Ausbildung, ein paar Weiterbildungen und mich zunächst nebenbei
politisch engagiert. Ich sage den Schülerinnen und Schülern dann immer: Ihr
seht ja an mir, dass es geht – ihr müsst euch nur trauen.
Wie weit
muss das Parlament Ihrer Ansicht nach überhaupt die Zusammensetzung der
Bevölkerung widerspiegeln? Es wird ja auch argumentiert, dass es beispielsweise
nicht unbedingt Rentner im Parlament braucht, um die Interessen von Rentnern zu
vertreten.
Wir sind uns sicher einig, dass das Parlament nie alles abbilden kann. Das wäre
eine Illusion. Die Abgeordneten müssen alle in der Lage sein, sich in andere
Lebenswelten hineinzufinden und sie nachzuvollziehen. Viele sind in ihren
Wahlkreisen sehr verankert und reden mit allen Gruppierungen, mit allen
Bürgerinnen und Bürgern. Diese Erfahrungen in das Parlament mitzunehmen, ist
die Kunst, dafür muss man nicht immer zwingend selbst aus einer bestimmten
Gruppe kommen.
Viel Streit
gibt es seit Jahren über die Größe des Bundestages. Wird die im April
eingesetzte Kommission zur Reform des Wahlrechts erneut eingesetzt, um
Vorschläge zu einer Reduzierung der Mandatszahl zu erarbeiten, und hoffen Sie
da auf konsensfähige Empfehlungen?
Ich warte die Koalitionsverhandlungen ab, weil ich gehört habe, dass diese
Frage auch Thema in diesen Gesprächen werden soll. Ich werde mir dann
anschauen, wie die Vorschläge aussehen und was die Fraktionen vorlegen. Ich
habe sie öffentlich aufgefordert, das jetzt zu machen, und finde es daher gut,
dass die drei Parteien das Thema auf die Tagesordnung ihrer
Koalitionsverhandlungen gesetzt haben. Wenn das aber nicht stattfindet oder ich
merke, dass es zu lange dauert, dann muss die Kommission zur Reform des
Wahlrechts wieder eingerichtet werden, finde ich. Wir müssen das in dieser
Legislatur rechtzeitig machen – und nicht erst kurz bevor die nächste Wahl vor
uns steht.
Es gibt ja
zahlreiche Vorschläge zur Verkleinerung des Parlaments, etwa über eine
Reduzierung der Wahlkreise oder eine Begrenzung des Ausgleichs von
Überhangmandaten, die eine Partei hat, wenn sie mehr Direktmandate gewinnt als
ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Sehen Sie einen Königsweg?
Ich kenne viele Vorschläge und weiß, wie schwierig das ist. Ich bin zum
Beispiel in meinem Wahlkreis direkt gewählt, und wenn man die Zahl der direkt
gewählten Abgeordneten verringern will, muss man die Wahlkreise vergrößern. Das
ist ein Problem, wenn man gleichzeitig auch Bürgernähe will, und war
entsprechend immer ein Streitpunkt zwischen den Fraktionen. Für die Parteien,
deren Abgeordnete vorwiegend über die Listen ins Parlament kommen, ist das
nicht maßgeblich. Es wird also eine Mischung aus mehreren Maßnahmen geben
müssen, um die Zahl der Abgeordneten wirksam zu begrenzen.
Auch wenn
die Zusammensetzung des Parlaments dann nicht exakt den Zweitstimmenergebnis
der Parteien entspricht?
Ja. Weil wir sonst irgendwann bei 800 oder auch 900 Abgeordneten landen. Diese
Entwicklung braucht einen Deckel. Die kleineren Parteien finden es naturgemäß nicht
gerecht, wenn dieser Ausgleich vor allem zu ihren Lasten beschnitten wird. Das
ist der Konflikt, und es ist Aufgabe der Fraktionen, da einen Kompromiss zu
finden.
SPD, Grüne
und FDP wollen das Wahlalter für Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre senken.
Wie realistisch ist das angesichts der dabei notwendigen Zweidrittelmehrheit
für eine entsprechende Grundgesetzänderung?
Ich persönlich bin für die Absenkung, habe aber schon gehört, dass die Union
dem wahrscheinlich nicht zustimmen wird. Deshalb weiß ich nicht, wie
realistisch es ist, dafür eine Mehrheit zu finden. Vielleicht kann man die
Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion überzeugen; auch dort sind
Jüngere dazugekommen und sorgen vielleicht für einen Meinungsumschwung. Man
muss aber auch auf Argumente der Gegner eingehen: Wenn die Volljährigkeit erst
ab 18 Jahren gilt, kann ich verstehen, wenn gefragt wird, warum man dann schon
ab 16 Jahren den Bundestag wählen können soll. Da muss man miteinander
besprechen, wie das zusammengeht.
Fotoquelle: By Fotografin des Bildes ist Angelika Kohlmeier, uneingeschränktes Nutzungsrecht liegt dem Büro Bärbel Bas vor – Büro Bärbel Bas, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11492417