TP-Interview mit dem Justizsprecher Berlin, Dr. Rüdiger Reiff.
TP: Nach der Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten Mückenberger im sog. Politbüroprozeß wurde von dem Krenz-Verteidiger Dr. Wissgott, aber auch anderen Verteidigern, sinngemäß folgende These aufgestellt: Obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht schon vor Beginn des Prozesses bekannt war, daß Mückenberger nur eingeschränkt verhandlungsfähig ist, wurde das Hauptverfahren eröffnet, um sozusagen den Buchstaben „M“ zu retten, damit die 27. Strafkammer unter Richter Bräutigam das Verfahren bekommt. Nun habe der „Mohr“ seine Schuldigkeit getan und kann gehen. Berechtigte Vorwürfe oder an den Haaren herbeigezogene absurde Theorien?
Dr. Reiff: In einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik gibt es keinen „Mohr, der seine Schuldigkeit“ tun müßte. Vielmehr existieren Gesetze und sonstige Vorschriften, die ohne Ansehen der Person anzuwenden sind.
Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Bieten die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so hat die Staatsanwaltschaft Anklage bei Gericht zu erheben.
Im hier in Rede stehenden Fall hat die Staatsanwaltschaft wegen der Todesschüsse an der Mauer Ermittlungsverfahren nicht nur gegen die unmittelbaren Schützen, sondern auch gegen die die entsprechenden Befehle gebenden Hintermänner eingeleitet, u.a. gegen die im vorliegenden Prozeß angeklagten ehemaligen Mitglieder des DDR-Politbüros.
Auf der Grundlage des Legalitätsprinzips ist es der Staatsanwaltschaft gar nicht möglich gewesen, willkürlich gegen die einen Anklage zu erheben und gegen die anderen nicht. Vielmehr war nach Abschluß der Ermittlungen gegen alle, gegen die hinreichender Tatverdacht des Totschlags bestand, die öffentliche Klage zu erheben.
Werden mehrere Personen angeklagt, so richtet sich die Zuständigkeit der Kammer nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens des ältesten Angeklagten. Dies war der Angeklagte Mückenberger. Die These, er sei nur deshalb mitangeklagt worden, damit der Vorsitzende Richter am Landgericht Bräutigam die Sache verhandeln könne – sollte sie tatsächlich in dieser Form aufgestellt worden sein -, läßt in beeindruckender Weise das Bild einiger weniger Juristen von deren Justizverständnis erahnen. Rechtsstaatliche Verfahrensweisen wird einigen wenigen Personen genauso schwer zu vermitteln sein, wie deren konsequente Anwendung für sie ein ebenso unbegreifliches Phänomen sein muß.
TP: Steht die Abtrennung des Verfahrens insbesondere gegen den Angeklagten Mückenberger nicht im Widerspruch zu den zu Beginn des Verfahrens gestellten Aussetzungsanträgen auf Einholung von völkerrechtlichen Gutachten sowie auf das Abwarten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hinsichtlich Keßler, Streletz und Albrecht, die der Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt Jahntz, mit dem Argument des „Beweismittelverlustes“ im Hinblick auf das hohe Alter der Angeklagten Hager und Mückenberger zurückgewiesen sehen wollte? Bestätigt die jetzige Abtrennung des Verfahrens gegen Mückenberger nicht eher die Theorie der Verteidiger, denn durch das Ausscheiden von Mückenberger wird dem „Beweismittelverlust“ eher Vorschub geleistet?
Dr. Reiff: Die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten Mückenberger steht in keinerlei Widerspruch zu in der Hauptverhandlung zuvor gestellten Anträgen irgendwelcher Art. Vielmehr war die Abtrennung ausschließlich aus sachlichen Gründen erfolgt. Der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme hatte gezeigt, daß entgegen der ursprünglichen Erwartung der umfangreiche Verfahrensstoff bei der dem Angeklagten Mückenberger maximal möglichen Verhandlungsdauer von 2 x 2 Stunden pro Woche nicht in angemessener Frist zu verhandeln war. Das geplante Beweisprogramm konnte bisher nicht bewältigt werden. Angesichts der Vielzahl der noch zu hörenden Zeugen war nach dem bisherigen Verlauf bei zweistündiger Verhandlungsdauer mit einer weiteren Ausdehnung zu rechnen. Hinzu kam, daß nach dem mündlichen Gutachten eines der Sachverständigen zunächst eine neue, das Verfahren verzögernde eingehende Untersuchung des Angeklagten Mückenberger erforderlich gewesen wäre, nachdem dieser dem Sachverständigen ein weiteres Nachlassen seiner Konzentrationsfähigkeit mitgeteilt hatte.
TP: Als prozeßökonomisch sei die Abtrennung des Verfahrens gegen Mückenberger nach Auffassung von Prozeßbeobachtern auch nicht gerade zu sehen, auch wäre sie im Hinblick auf das Beschleunigungsinteresse absurd. Ein separat gegen Mückenberger zu führendes Verfahren würde auch Jahre dauern. Hätte man demzufolge nicht seine Person im jetzt laufenden Verfahren belassen können? Oder wurde bei der Entscheidung davon ausgegangen, daß Mückenberger ohnehin bald total verhandlungsunfähig ist, und ist die Abtrennung daher ein Vorgriff auf die endgültige Einstellung?
Dr. Reiff: Die Abtrennung ist erfolgt, um in angemessener Zeit die Sachaufklärung und ein Urteil über die Vorwürfe gegen die übrigen Angeklagten zu ermöglichen. Der Sinn einer Gerichtsverhandlung besteht u.a. auch darin, sie in absehbarer Zeit einem Ende, nämlich dem Urteil zuzuführen. Dies liegt nicht nur im Interesse des Gerichts, sondern insbesondere im Interesse der Angeklagten. Eine Hauptverhandlung, deren Ende auf Monate oder Jahre nicht absehbar ist, ist für jeden Angeklagten unzumutbar. Ob Herr Mückenberger in nächster Zukunft verhandlungsunfähig werden wird mit der – rechtsstaatlichen – Konsequenz der Einstellung, wird abzuwarten sein. Tatsache ist, daß eine parallele Verhandlung gegen Herrn Mückenberger angesichts der Auslastung der in außerplanmäßiger Besetzung verhandelnden Kammer derzeit nicht möglich ist.
TP: Ist es gerechtfertigt, daß das Verfahren gegen Mückenberger nach einem Jahr Dauer abgetrennt wird, obwohl überhaupt keine Änderung im Gesundheitszustand oder in der Verhandlungsfähigkeit von Mückenberger eingetreten ist, ja das Landgericht noch nicht einmal eine Untersuchung veranlaßt hat?
Dr. Reiff: Die Abtrennung eines Verfahrens gegen einen Angeklagten ist nicht nur dann möglich, wenn sich der Gesundheitszustand des Angeklagten ändert bzw. verschlechtert. Die Notwendigkeit einer Abtrennung kann sich vielmehr aus der Fürsorgepflicht oder aus der Sachaufklärungspflicht des Gerichts ergeben. Das Gericht hat diese Voraussetzungen angenommen.
TP: Wird nach der Abtrennung des Verfahrens gegen Mückenberger jetzt ein schnellerer Fortgang des Verfahrens erwartet?
Dr. Reiff: Es wird täglich länger verhandelt werden können, was nicht bedeutet, daß deswegen schneller verhandelt würde. Es besteht damit aber die Möglichkeit, das Verfahren in kürzerer und damit in einer dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Zeit zu einem Abschluß zu bringen.
TP: Kann jetzt schon abgesehen werden, wie lange das Verfahren noch dauert?
Dr. Reiff: Eine Prognose, wie lange das Verfahren insgesamt noch dauern wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand abgeben. Dies wird insbesondere von den noch zu hörenden Zeugen, den zu verlesenden Urkunden und nicht zuletzt von den Ausführungen der Prozeßbeteiligten abhängen. Derzeit ist der Prozeß – vorläufig – bis 28. November 1996 terminiert.
TP: Hat das Landgericht Berlin sichergestellt – wenn ja, auf welchem Wege – ständig über den aktuellen Stand der Verfassungsbeschwerde von Keßler unterrichtet zu werden?
Dr. Reiff: Die Verfassungsbeschwerde Keßler’s gegen das gegen ihn ergangene Urteil betrifft ein juristisch vollkommen anderes Verfahren, so daß keinesfalls Veranlassung besteht, „ständig“ über den aktuellen Stand der Verfassungsbeschwerde unterrichtet zu werden. Natürlich kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes mittelbar das hiesige Verfahren beeinflussen. Deshalb hat die Kammer das Bundesverfassungsgericht in einem Schreiben vom hier stattfindenden Prozeß in Kenntnis gesetzt. Es ist somit sichergestellt, daß das Bundesverfassungsgericht dem hier erkennenden Gericht eine Entscheidung unverzüglich mitteilen kann.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin