Die FDP-Wehrexpertin und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, rechnet mit einer Mehrheit in der Ampelkoalition für die von der Bundesregierung geplante Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes und die Bildung eines Sondervermögens Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. „Die Ampelfraktionen werden diesem Vorschlag folgen“, sagte sie in einem Interview in der Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“, die am kommenden Montag (7. März) erscheint. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben sei „ein sehr mutiger, aber auch international sehr wichtiger Schritt“, betonte Strack-Zimmermann. „Alle Bedenkenträger sollen jetzt bitte schweigen.“ Die Bundeswehr sei kontinuierlich über 25 Jahre „kaputtgespart“ worden. Zudem forderte sie Veränderungen im Beschaffungswesen und ein Ende der „Verantwortungsdiffusion“ im Verteidigungsministerium. Die Parlamentarierin sprach sich dafür aus, bei Beschaffung verstärkt auf marktverfügbare Ausrüstung zurückzugreifen. Der Artikel 346 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU erlaube Ausnahmemöglichkeiten bei der militärischen Beschaffung und könne deutlich mehr Tempo in die Beschaffung bringen.
Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das am 7. März 2022 in der Wochenzeitung „Das Parlament“ erscheinende Interview vorab im vollen Wortlaut:
Das
Parlament: Frau Strack-Zimmermann, der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant
Alfons Mais, hat der Bundeswehr bescheinigt, sie stehe „blank“ dar. Und er
forderte, den Afghanistaneinsatz „strukturell und materiell“ hinter sich zu
lassen. Ansonsten könne die Bundeswehr ihre Bündnisverpflichtungen nicht
erfolgreich umsetzen. Sind Landes- und Bündnisverteidigung zukünftig mit
Auslandseinsätzen nicht mehr vereinbar?
Strack-Zimmermann: Ich schätze die Offenheit des Generals. Auch wenn für manche
der Zeitpunkt erstaunlich war, angesichts der Lage kam sie im richtigen Moment.
Er hat übrigens zum Ausdruck gebracht, was sowieso jeder weiß. Der Landes- und
Bündnisverteidigung kommt nicht erst jetzt, angesichts des Krieges in der
Ukraine, eine größere Bedeutung zu. Bereits im Weißbuch von 2016 wurde als
unmittelbare Folge der russischen Annexion der Krim dieses explizit
beschrieben. Es ist bis heute nur nicht entsprechend umgesetzt worden.
Weiterhin sind wir ebenso herausgefordert durch den internationalen
Terrorismus. Er destabilisiert ganze Regionen, was in Folge davon auch für
unsere Sicherheit von hoher Relevanz ist. Deshalb werden wir auch weiterhin
gemeinsam mit unseren Verbündeten und den Vereinten Nationen den Terror
weltweit bekämpfen müssen. Auch eine Form der Landes- und
Bündnisverteidigung.
Das
Parlament: Nun sollen die Verteidigungsausgaben drastisch erhöht werden. Neben
einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll der Wehretat auf mindestens
zwei Das Parlament: Prozent des Bruttoinlandproduktes steigen. Das wäre mehr
als 70 Milliarden Euro jährlich. Wird das Sondervermögen mit den zwei Prozent
verrechnet oder kommt das wirklich obendrauf?
Strack-Zimmermann: Das Sondervermögen wird einmalig gebildet, um dringend
benötigtes militärisches Material zu beschaffen. Es wird Jahre dauern, bis das
umgesetzt sein wird. Der laufende Haushalt wird losgelöst davon an das
Zwei-Prozent Ziel angepasst, um die Aufgaben in Zukunft zu meistern. Ich bin
dem Bundeskanzler, unserem Finanzminister Christian Lindner und der
Außenministerin Annalena Baerbock sehr dankbar, dass sie gemeinsam diesen sehr
mutigen, aber auch international sehr wichtigen Schritt einschlagen
haben.
Das
Parlament: Der Applaus für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben fiel bei der
Unionsfraktion deutlich größer aus als etwa bei der SPD oder den Grünen. Sind
Sie denn sicher, dass die Ampelkoalition eine eigene Mehrheit dafür
bekommt?
Strack-Zimmermann: Die Ampelfraktionen werden diesem Vorschlag folgen. Diese
historische Wende in der deutschen Sicherheitspolitik wäre bei einer
schwarz-gelben Koalition gesellschaftlich vermutlich auf viel größeren
Widerstand gestoßen. Das Momentum erinnert mich an die Entscheidung der
rot-grünen Koalition 1998, die Nato im Kosovo-Krieg einzusetzen. Ich bin
darüber hinaus froh, dass wir diese Maßnahmen gemeinsam mit der Union auf den
Weg bringen werden. Es ist jetzt nicht die Stunde des politischen Klein-Kleins.
Putins brutaler Krieg gegen die Ukraine hat nicht nur die Menschen in den
Ländern der EU und der Nato aufgeschreckt, sondern auch bündnisneutrale Staaten
wie Finnland und Schweden und viele andere weltweit. Nach aktuellen Umfragen
unterstützen 78 Prozent der Deutschen eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben.
Der großen Mehrheit der Deutschen ist klar, dass es nicht mehr reicht,
wehrbereit zu sein. Wir müssen auch wehrfähig sein.
Das
Parlament: Die Liste der Beschaffungswünsche ist lang. Reicht der versprochene
Geldsegen für die Bundeswehr überhaupt?
Strack-Zimmermann: Nicht alles, was heute beschafft wird, steht tags drauf auf
dem Kasernenhof. Deshalb geht es darum, Material zu beschaffen, welches unsere
Fähigkeiten sichert, und das dringend benötigte moderne Gerät einzukaufen, auch
um unseren Verpflichtungen im Rahmen der Nato nachzukommen. Der Artikel 346 des
Vertrages über die Arbeitsweise der EU erlaubt Ausnahmemöglichkeiten bei der
militärischen Beschaffung und könnte deutlich mehr Tempo in die Beschaffung
bringen. Und aufgrund des erhöhten Budgets sind Einkäufe in den Folgejahren
möglich.
Das
Parlament: Bei kurzfristigen Einkäufen im Ausland hat die deutsche
Rüstungsindustrie aber das Nachsehen. Entpuppt sich der Sparkurs der
Vergangenheit somit als Milchmädchenrechnung für Deutschland?
Strack-Zimmermann: Es geht nicht darum, dass die Rüstungsindustrie hier oder in
anderen Ländern jetzt glänzende Augen bekommt. Sie muss auch in der Lage sein,
kurzfristig zu liefern. Es geht darum, die Bundeswehr best- und
schnellstmöglich auszurüsten, übrigens auch und besonders um die persönliche
Ausrüstung jeder Soldatin und jedes Soldaten. Natürlich werden wir weiterhin
mit den europäischen Partnern Großprojekte weiterentwickeln, unter anderem beim
Eurofighter und dessen Fähigkeit der elektronischen Kampfführung. Der Bundeskanzler
hat gerade noch mal betont, dass beispielsweise FCAS, das Future Combat Air
System, zusammen mit Frankreich und Spanien gemeinsam weiter entwickelt wird.
Aber neben diesen großen langfristigen Entwicklungen müssen auch kurzfristige
Beschaffungen wo auch immer ermöglicht werden.
Das
Parlament: Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter hat eine
Prioritätenliste bei den Beschaffungen eingefordert, damit das Geld nicht mit
der Gießkanne verteilt wird. Was setzt denn die Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann
ganz oben auf die Prioritätenlisten?
Strack-Zimmermann: Relevant ist nicht die persönliche Wunschliste, sondern
folgt aus dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Davon leitet sich alles ab, auch
die Finanzbedarfsanalyse. Grundlegenden Fähigkeiten zu besitzen, ist die
Voraussetzung auch im internationalen Zusammenwirken. Dazu gehören auch
dringend die Digitalisierung landbasierter Operationen, die Nachfolge des
Tornados, der Schwere Transporthubschrauber und die bodengebundene
Luftverteidigung. Wir haben übrigens im Koalitionsvertrag die Themen Tornado
und bewaffnete Drohnen aufgeführt. Ich teile die Auffassung von Herr
Kiesewetter, es geht darum, Geld systematisch einzusetzen. Gleichzeitig muss
dringend das Beschaffungswesen verändert werden und die Verantwortungsdiffusion
im Verteidigungsministerium ein Ende haben.
Das
Parlament: Auf den Reformbedarf im Beschaffungswesen hat auch
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hingewiesen. Das haben ihre
Amtsvorgängerinnen aber auch schon. Gebessert hat sich offenbar nur wenig…
Strack-Zimmermann: Sehr viele haben sich die Zähne daran ausgebissen.
Vermutlich fehlte aber auch der ernsthafte Wille, etwas verändern zu wollen.
Ich traue der Ministerin das zu. Sie ist Juristin ist und hat gute
Nerven.
Das
Parlament: Aktuell schafft es die Bundeswehr aber nach Angaben der
Wehrbeauftragten Eva Högl nicht einmal, ihre Soldaten im Baltikum mit
ausreichend Wärme- und Nässeschutz auszurüsten. Das sind Produkte, die man in
jedem Outdoor-Laden kaufen kann.
Strack-Zimmermann: Kann man alles auf dem freien Markt kaufen. Es muss nicht
jedes Fleece bis in die letzte Faser beschrieben werden. Zudem sollte man die
Truppe fragen, was erforderlich ist. Bei der Beschaffung neuer Stiefel hat die
Bundeswehr ihre Soldaten Probe laufen lassen, welches Modell am besten zu
tragen ist. So wird im wahrsten Sinne des Wortes ein Schuh draus.
Das
Parlament: Wie lange wird es denn dauern, bis die Bundeswehr ihren Auftrag
wieder vollumfänglich erfüllen kann?
Strack-Zimmermann: Die Bundeswehr wurde kontinuierlich über 25 Jahre kaputt
gespart. Das lässt sich nicht in fünf Jahren ausgleichen. Ich kann Ihnen keine
konkrete Zeitangabe machen. Aber wir müssen und werden Tempo machen. Es handelt
sich hier um nicht weniger als eine nationale Kraftanstrengung. Alle
Bedenkenträger sollen jetzt bitte schweigen. Wir brauchen Tatkraft und
Beweglichkeit: In der Politik, im Verteidigungsministerium, in der Beschaffung
und in der Industrie.
Das Interview führte Alexander Weinlein.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) ist Vorsitzende des Verteidigungsausschusses.
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin