Rede von Bundeskanzler Scholz in Davos.
Sehr geehrter Herr Professor Schwab,
meine Damen und Herren,
wenn einer, der wie ich in Hamburg aufgewachsen ist, hierher nach Davos kommt,
dann stellen sich ganz unweigerlich Gedanken ein an Thomas Mann und seinen
großen Roman vom „Zauberberg“. So ging es mir zumindest auf dem Weg hierher,
zumal der Davos-Besuch des Hamburgers Hans Castorp im Roman mit dem endet, was
Thomas Mann den „Donnerschlag“ nennt, nämlich mit dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs im Juli 1914.
Meine Damen und Herren, auch wir haben einen Donnerschlag erlebt – am
24. Februar 2022. Russlands Überfall auf die Ukraine markiert nicht den
Ausbruch irgendeines Konflikts irgendwo in Europa. Hier nimmt eine nuklear
hochgerüstete Großmacht für sich in Anspruch, Grenzen neu zu ziehen. Putin will
zurück zu einer Weltordnung, in der der Stärkere diktiert, was Recht ist, in
der Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung eben nicht allen zustehen. Das
ist Imperialismus! Das ist der Versuch, uns zurückzubomben in eine Zeit, als
Krieg ein gängiges Mittel der Politik war, als unserem Kontinent und der Welt
eine stabile Friedensordnung fehlte. Darum habe ich drei Tage nach dem
russischen Angriff im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen.
Das deckt sich übrigens mit der Analyse des World Economic Forum und mit dem
Leitbild, unter das Sie unser heutiges Treffen gestellt haben, lieber Herr
Professor Schwab: Ja, die Welt erlebt einen „turning point“, einen Umbruch. Zur
Disposition steht nicht allein die Staatlichkeit der Ukraine. Zur Disposition
steht ein System internationaler Zusammenarbeit, das aus dem „Nie wieder!“
zweier verheerender Weltkriege entstanden ist, eine Ordnung, die Macht an Recht
bindet, die Gewalt als Mittel der Politik ächtet und die uns in den vergangenen
Jahrzehnten Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat.
Deshalb ist unser Ziel ganz klar: Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen. Und
ich bin überzeugt: Er wird ihn nicht gewinnen! Schon jetzt hat er all seine
strategischen Ziele verfehlt. Eine Einnahme der gesamten Ukraine durch Russland
scheint heute weiter entfernt als noch zu Beginn des Krieges, auch dank des
beeindruckenden Abwehrkampfs der ukrainischen Armee und Bevölkerung.
Mehr denn je betont die Ukraine ihre europäische Zukunft – ähnlich wie
Georgien, Moldau. Übrigens: Auch die EU-Integration der Staaten des westlichen
Balkans treiben wir aktiv voran. Die Versprechungen, die da gemacht worden
sind, müssen jetzt schnell eingehalten werden. Die Brutalität des russischen
Kriegs hat die Ukrainerinnen und Ukrainer als Nation enger zusammengeschweißt
als jemals zuvor.
Mit Schweden und Finnland wollen sich zwei enge Freunde und Partner dem
nordatlantischen Bündnis anschließen. Sie sind herzlich willkommen!
Und schließlich hat Putin die Geschlossenheit und Stärke unterschätzt, mit der
die G7, die NATO und die EU auf seine Aggression reagiert haben. Gemeinsam
haben wir so harte und weitreichende Sanktionen verhängt wie niemals zuvor
gegen ein Land von der Größe Russlands. Schon jetzt sind die Kosten für Putins
Machtapparat gewaltig, und sie steigen jeden Tag. Erstmals überhaupt liefert
Deutschland Waffen in ein solches Kriegsgebiet, darunter auch schweres Gerät.
Eines scheint mir klar zu sein: Ernsthaft über Frieden verhandeln wird Putin
jedoch nur, wenn er merkt, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen
kann. Darum unterstützen wir die Ukraine. Diese Unterstützung ist eng
abgestimmt mit unseren Partnern und Allliierten. Und auch darin sind wir uns
einig: Wir tun nichts, was die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Denn das
würde die direkte Konfrontation zwischen Nuklearmächten bedeuten. Vielmehr geht
es darum, Putin klarzumachen: Es wird keinen Diktatfrieden geben. Das wird die
Ukraine nicht akzeptieren – und wir auch nicht.
Und schließlich, meine Damen und Herren, haben wir eine Kehrtwende auch in der
deutschen Verteidigungspolitik vollzogen. Wir haben entschieden, unsere
Bundeswehr so auszustatten, dass sie unser Land und unser Bündnis auch in der
von Russland verursachten neuen Realität zu jedem Zeitpunkt verteidigen kann.
Dafür sind wir sogar dabei, unsere Verfassung zu ändern. Und wir wollen in den
nächsten Jahren 100 Milliarden Euro für die notwendige Modernisierung
unserer Streitkräfte bereitstellen. Es geht um die Sicherheit unseres Landes,
und es geht um die unmissverständliche Botschaft an unsere Bündnispartner: Auf
Deutschland ist Verlass!
Und noch etwas ist ganz klar: Wir machen Deutschland und Europa unabhängig von
Energieimporten aus Russland. Mit Blick auf Kohle ist das im Herbst bereits
beschlossene Sache. Den Ausstieg aus russischem Öl wollen wir bis Jahresende
erreichen. Auch beim Gas arbeiten wir mit Hochdruck an der Unabhängigkeit von
Russland. Wir greifen zum Beispiel auf schwimmende Flüssiggasterminals und auf
neue Bezugsquellen zurück. Und wir sind dabei, den Ausbau der notwendigen
Infrastruktur ‑ Terminals, Häfen, Pipelines ‑ in nie gekannter
Geschwindigkeit voranzutreiben.
Trotzdem wird dieser Umbau Auswirkungen auf Europas Volkswirtschaften haben.
Das spüren wir alle, nicht zuletzt an den steigenden Energiepreisen. Natürlich
liegt darin eine ganz besondere Herausforderung für ein Land wie Deutschland,
das Industrieland ist und bleiben wird. Deshalb lassen wir unsere Unternehmen
nicht allein. Wir haben einen Schutzschirm aufgespannt, mit dem wir Kredite
absichern und, wo nötig, auch beim Eigenkapital unterstützen.
In den kommenden Jahren werden wir Milliarden in die Transformation unserer
Wirtschaft investieren. Die Zeit für Planungsprozesse wollen wir verkürzen,
mindestens halbieren. Und wir rufen in den nächsten Wochen eine „Allianz für
Transformation“ ins Leben, in der wir gemeinsam mit Arbeitgebern und
Arbeitnehmern den Umbau unserer Volkswirtschaft begleiten. So schaffen wir für
alle Seiten Planungssicherheit.
Schließlich hat unser Ziel, bis 2045 CO2-neutral zu werden, durch
Putins Krieg noch an Bedeutung gewonnen. „Jetzt erst recht!“ lautet also
deshalb die Devise. In Deutschland arbeiten wir mit Hochdruck an einem
Klimaschutz-Sofortprogramm. Erste Schritte sind bereits beschlossen. Bis 2030
wollen wir das Tempo bei der Emissionsminderung nahezu verdreifachen und unsere
Stromversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien decken.
Zugleich treiben wir die Verkehrs- und Wärmewende voran und arbeiten am Aufbau
einer Wasserstoffwirtschaft. Ziel ist es eben, Industrieland zu bleiben und
gleichzeitig klimaneutral zu werden. Das macht die Zwanzigerjahre zu Jahren der
Veränderung, der Erneuerung und des Umbaus. Diesen Weg gehen wir nicht alleine.
Mit ihrem „Fit for 55“-Paket sorgt die EU dafür, dass auch in Europa die
Weichen auf Klimaneutralität 2050 gestellt werden.
Am Beispiel der Energie- und Klimapolitik wird auch deutlich: Putins Krieg mag
den Handlungsdruck auf uns erhöhen. Alleiniger Auslöser dieser Zeitenwende aber
ist er keineswegs. „History at a turning point“ – das Leitbild unseres Treffens
weist weit über diesen Bruch der internationalen Friedensordnung hinaus.
Neben Russlands Krieg sehe ich eine weitere globale Entwicklung, die ebenfalls
eine Zeitenwende bedeutet. Wir erleben, was es heißt, in einer multipolaren
Welt zu leben. Die Bipolarität des Kalten Kriegs ist genauso Geschichte wie die
relativ kurze Phase, in der die Vereinigten Staaten die einzig verbliebene
Weltmacht waren, auch wenn die USA natürlich der bestimmende Machtfaktor in der
Welt bleiben werden.
Ich glaube übrigens auch nicht an die Erzählung einer neuen Bipolarität
zwischen den USA und China. Natürlich ist China ein globaler Akteur – wieder,
sollte man hinzufügen, denn historisch gesehen war das ja über weite Strecken
der Weltgeschichte immer der Fall. Aber genauso wenig wie daraus die
Notwendigkeit folgt, China zu isolieren, lässt sich daraus der Anspruch
chinesischer Hegemonie in Asien und darüber hinaus ableiten. Genauso wenig
können wir wegsehen, wenn Menschenrechte verletzt werden, wie wir das gerade in
Xinjiang sehen.
Zumal wir in Asien, Afrika und Lateinamerika neue, aufstrebende Mächte erleben.
Sie alle nutzen die Chancen, die ihnen die Globalisierung bietet. Noch vor
Beginn der Pandemie hatte die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers eine Studie
zur Welt im Jahr 2050 veröffentlicht. Ihr zufolge werden unter den größten
Volkswirtschaften dann Länder sein, die wir heute noch als Schwellenländer
bezeichnen: neben China auch Indien und auch Indonesien, Brasilien und Mexiko.
Nach der Pandemie dürfte diese Analyse kaum anders aussehen.
Ein weiterer Faktor bleibt natürlich Russland, das seine Bedeutung durch
militärische Macht zu sichern versucht – mit furchtbaren Konsequenzen, wie wir
gerade erleben.
Und da ist die Europäische Union, die sich endlich aufmacht, ihren
geoökonomischen auch in geopolitischen Einfluss umzumünzen. Das ist es, was wir
mit „europäischer Souveränität“ meinen.
In dieser multipolaren Welt fordern ganz unterschiedliche Länder und Regionen
gemäß ihrem wachsenden ökonomischen und demografischen Gewicht größere
politische Mitsprache ein. Um es klar zu sagen: Darin liegt keine Bedrohung. Wo
sich Einfluss und Gestaltungsmacht verschieben, hat das jedoch auch zwangsläufig
Folgen für die politische Ordnung. Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns,
dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird? Oder anders
ausgedrückt: Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche
Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken?
Diese Aufgabe ist keineswegs trivial, zumal es dafür kein historisches Vorbild
gibt. Und doch bin ich überzeugt: Das kann gelingen, wenn wir neue Wege und
Felder der Zusammenarbeit erschließen, zumal die Alternative ‑ jeder für
sich und zugleich jeder gegen jeden ‑ selbst für die größten Mächte mit
hohen Risiken und Kosten verbunden ist.
Auch deshalb war es so entscheidend, Russlands eklatantem Völkerrechtsbruch
hart und unmissverständlich entgegenzutreten, weil diese Reaktion auch allen
anderen deutlich macht: Eine multipolare Welt ist keine regellose Welt! Dieses
Prinzip aufrechtzuerhalten, liegt im Interesse aller. Daher war es so wichtig,
dass im März 141 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Russlands Angriff
klar verurteilt haben.
Aber wir wissen: Für viele Länder Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas ist der
Krieg in der Ukraine geografisch weit weg. Ganz nah hingegen sind seine
globalen Folgen in Form drohender Hunger-, Rohstoff- und Inflationskrisen. Wenn
wir wollen, dass diese Länder auch in Zukunft Freiheit und Recht gemeinsam mit
uns verteidigen, dann müssen wir uns auch ihren Sorgen gegenüber solidarisch
zeigen.
In einer multipolaren Welt wird eine solche internationale Ordnung nicht ohne
internationale Solidarität zu haben sein. Deshalb investieren wir in neue
Partnerschaften. Deshalb stellen wir bestehende Partnerschaften breiter auf,
Stichwort politische Diversifizierung. Dabei setzen wir auf ein Merkmal, das
uns mit vielen Ländern des globalen Südens verbindet: Wir sind Demokratien. Zu
lange haben wir Demokratie praktisch gleichgesetzt mit dem Westen im
klassischen Sinne. Dabei war es gerade dieser Westen, der dem Süden auf ganz
undemokratische Weise seine Rechte und seine Freiheit bis weit ins letzte Jahrhundert
hinein vorenthalten hat, Stichwort Kolonialismus. Dies anzuerkennen ist nicht
nur ein Gebot der Ehrlichkeit, sondern Voraussetzung für eine engere
Zusammenarbeit mit den Demokratien der Welt, die wir brauchen und auf die wir
hinarbeiten.
Anfang der Woche bin ich aus Südafrika, Senegal und Niger zurückgekommen. Ganz
bewusst habe ich dort für enge Zusammenarbeit mit unserer G7-Präsidentschaft
geworben – bei Themen wie der Energiewende, beim Klimaschutz, bei der
Pandemiebekämpfung, in Migrationsfragen und nicht zuletzt bei der Frage, wie
wir in dieser Zeit internationale Kooperation erhalten und stärken können.
Ganz bewusst habe ich die Kollegen aus Südafrika und dem Senegal neben den
Regierungschefs von Indien, Indonesien und auch Argentinien als Vorsitz der
Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten zum G7-Gipfel Ende
Juni nach Elmau eingeladen. Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit
die Welt braucht, um bei globalen Herausforderungen in Zukunft voranzukommen.
Ganz bewusst haben wir in Deutschland eine Indopazifik-Strategie beschlossen,
um die Zusammenarbeit mit den Ländern dieser Zukunftsregion zu vertiefen.
Ganz bewusst haben wir im April erstmals Regierungskonsultationen zwischen
Deutschland und Japan vereinbart. Als dritt- und viertgrößte Volkswirtschaften
der Welt wollen wir gemeinsam Lösungen für nachhaltiges Wachstum entwickeln,
die auch für andere funktionieren.
Und ganz bewusst habe ich meinen indischen Kollegen, Premierminister Modi, und
seine Regierung Anfang dieses Monats zu Regierungskonsultationen nach Berlin
eingeladen. Ergebnis dieses Treffens ist, dass unsere Länder künftig bei Themen
wie Klimaschutz, Energie, Migration und Mobilität noch enger zusammenarbeiten.
Es geht um Fortschritt in Zukunftsfragen, und zugleich geht es immer auch
darum, zu zeigen: Internationale Kooperation liefert Antworten. Der
Multilateralismus funktioniert!
Das ist übrigens die Voraussetzung dafür, die Deglobalisierung zu stoppen, die
wir erleben. Natürlich müssen wir manch strategische Abhängigkeit reduzieren.
Die Pandemie hat uns das nicht nur bei Medikamenten oder Schutzausrüstung vor
Augen geführt. Auch unsere Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland fällt
in diese Kategorie. Deshalb wird sie beendet. Oder denken Sie etwa an den
gegenwärtigen Mangel an Halbleitern. Insofern ist es eine wirklich gute
Nachricht, dass Intel künftig Chips in Deutschland produzieren wird, übrigens
eine der größten Industrieansiedlungen in der Geschichte unseres Landes.
Mehr wirtschaftliche Resilienz lautet das Gebot der Stunde in dieser
multipolaren, krisenanfälligen Welt. Auch hier muss die Antwort
Diversifizierung lauten, und zwar für Politik und Wirtschaft gleichermaßen.
Zugleich müssen wir achtgeben, dass aus notwendiger Diversifizierung kein
Vorwand für Abschottung, Zollschranken und Protektionismus wird. Um es ganz
klar zu sagen: Die Deglobalisierung ist ein Holzweg! Sie wird nicht
funktionieren.
Denn entgegen all dem, was Populisten vollmundig versprechen, wird der Preis
von Zöllen und Handelsschranken von Unternehmen bezahlt, von Arbeitnehmerinnen
Arbeitnehmern, von Verbrauchern in unseren Ländern, von denjenigen also, die
ohnehin schon unter steigenden Preisen leiden.
Und noch etwas dürfen wir nicht vergessen, wenn leichtfertig von Deglobalisierung
oder gar „decoupling“ die Rede ist: Der Anteil der Menschen in extremer Armut
ist in den vergangenen 40 Jahren von über 40 Prozent auf unter
10 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit ging in derselben Zeitspanne
von zehn auf unter vier Prozent zurück. Global gesehen ist die Lebenserwartung
um ganze zwölf Jahre gestiegen, von 61 auf 73 Jahre.
Diese Erfolge sind nicht nur das Ergebnis nationaler Politik. Sie sind vor
allem das Resultat internationaler Arbeitsteilung, das Ergebnis von Wissensaustausch
und weltweiter wirtschaftlicher Vernetzung, die Milliarden Menschen den Weg aus
der Armut geebnet hat.
Ich will damit nicht sagen, dass die Globalisierung in den letzten 20,
30 Jahren nur Gewinner hervorgebracht hat. Das gilt gerade auch mit Blick
auf die industrialisierten Länder. Weltweite Konkurrenz, die Verlagerung von
Produktionsstandorten, die Krisen am Finanzmarkt, die Auswirkungen der
Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt ‑ all das verunsichert viele unserer
Bürgerinnen und Bürger. All das verstärkt eben die Rufe nach
Renationalisierung.
Politik und Wirtschaft müssen diese Sorgen ernstnehmen. Unsere Antwort darauf
kann kein simples „Weiter so!“ sein, zumal die besondere Phase der
Globalisierung, die wir in den letzten 30 Jahren in Nordamerika und Europa
erlebt haben ‑ mit verlässlichem Wachstum, hoher Wertschöpfung und
niedriger Inflation ‑ unweigerlich zu Ende geht, und zwar schon deshalb,
weil aus den günstigen Produzenten in den Ländern des Globalen Südens Schritt
für Schritt leistungsfähige Volkswirtschaften mit eigener Nachfrage geworden
sind, die denselben Wohlstand beanspruchen und um dieselben Güter konkurrieren
wie wir.
Was wir daher brauchen, ist eine nachhaltige, resiliente Globalisierung, die
Rücksicht auf natürliche Ressourcen und vor allem auf künftige Generationen
nimmt. Wir brauchen eine solidarische Globalisierung, die allen Bürgerinnen und
Bürgern zugutekommt, in allen Teilen der Welt. Und wir brauchen eine kluge
Globalisierung und mit modernen Regeln und neuen Arten der Zusammenarbeit.
Ich will an drei Beispielen deutlich machen, was ich damit meine.
Nehmen Sie den Klimawandel. Wir alle wissen: Wenn wir die Pariser Klimaziele
verfehlen, steuert die Welt auf eine Katastrophe zu. Zugleich höre ich von
Vertreterinnen und Vertretern von Entwicklungs- und Schwellenländern immer
wieder den Einwand: „Auf absehbare Zeit brauchen wir die fossilen Energieträger
noch, um unsere Entwicklungschancen zu nutzen, so wie ihr es über
150 Jahre hinweg getan habt.“ Von unseren Unternehmen in den
industrialisierten Ländern hören wir wiederum: „Wenn ihr die Klima-Regeln
weiter verschärft, dann werden wir womöglich ganze Industriezweige dorthin
abwandern sehen, wo die Vorschriften laxer sind.“ Carbon leakage lautet das
Schlagwort.
Diese Widersprüche müssen wir auflösen, und zwar durch Zusammenarbeit. Wir
haben uns vorgenommen, die G7 zum Kern eines internationalen Klimaclubs zu
machen, der die Pariser Klimaziele beschleunigt umsetzt. Dieser Club steht
allen Staaten offen, wenn sie sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichten.
So schaffen wir ein „level playing field“ und verhindern, dass unterschiedliche
Regeln den Wettbewerb verzerren.
Zugleich werden wir als Klimaclub klimafreundliche Technologien miteinander
weiterentwickeln und noch enger zusammenarbeiten, etwa im Bereich des
Wasserstoffs. Auch das Thema internationale Klimafinanzierung wollen wir als G7
weiter voranbringen. Neben Südafrika wollen wir weiteren Schwellen- und
Entwicklungsländern sogenannte Just Energy Transition Partnerships anbieten,
die sie beim gerechten Übergang in eine klimaneutrale Zukunft unterstützen. So
holen wir Partner an Bord, die wir für die Klimawende dringend brauchen.
Mein zweites Beispiel betrifft die Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Die
Pandemie und Russlands Krieg drohen, Entwicklungsfortschritte der vergangenen
Jahrzehnte zurückzudrehen. Besonders dramatisch ist das beim Kampf gegen Hunger
und Armut. Wenn wir hier nicht schnell und entschieden gegensteuern, droht uns
die weltweit größte Hungersnot seit Jahrzehnten.
Als G7-Präsidentschaft haben wir daher zusammen mit der Weltbank ein Bündnis
für globale Ernährungssicherheit ins Leben gerufen. Deutschland hat dafür schon
gleich zu Beginn knapp eine halbe Milliarde Euro bereitgestellt. Zusätzlich
investieren wir mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr in ländliche Entwicklung
und Infrastruktur und in Ernährungssicherung.
Wir werben intensiv um Unterstützung, und zwar nicht nur bei anderen
Regierungen und internationalen Organisationen, sondern auch in der Wissenschaft,
der Zivilgesellschaft, bei Stiftungen und nicht zuletzt bei
Wirtschaftsführerinnen und Wirtschaftsführern wie Ihnen. Das globale Bündnis
für globale Ernährungssicherung ist offen für alle!
Und noch etwas ist wichtig in dieser Lage: Als G7 bekennen wir uns zu offenen
Agrarmärkten. Das sage ich, wohl wissend, dass dabei noch viel Arbeit vor uns
liegt, auch in Europa. Exportrestriktionen sind jedenfalls keine Lösung. Sie
untergraben die globale Ernährungssicherheit, ja, sie gefährden Menschenleben.
Das dritte Feld, auf dem wir für eine bessere internationale Zusammenarbeit
sorgen wollen, betrifft unseren künftigen Umgang mit Gesundheitskrisen. Wir
alle hatten gehofft, dass 2022 das Jahr wird, in dem die Weltwirtschaft nach
der COVID-19-Pandemie wieder voll durchstarten kann. Stattdessen sehen wir
Lockdowns in China, neue Virusvarianten und nach wie vor hohe Infektionszahlen.
Die Pandemie ist noch nicht vorbei, so sehr wir uns auch das Gegenteil
wünschen. Sie wird auch kein Ende finden, wenn wir den Kreislauf aus immer
neuen Mutationen, die immer neue Infektionswellen auslösen, nicht endlich
durchbrechen. Deshalb werden wir als G7 den von der Weltgesundheitsorganisation
koordinierten ACT-Accelerator, der für eine weltweite Versorgung mit Impfstoffen
sorgt, weiter massiv unterstützen. Deutschland geht hier mit
1,3 Milliarden Euro allein in diesem Jahr voran. Ich bitte Sie alle:
Unterstützen auch Sie und Ihre Unternehmen uns auf diesem Weg!
Ein Beispiel dafür, was im Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft gelingen
kann, ist der Aufbau einer globalen Impfstoffproduktion. Vor einigen Wochen
habe ich gemeinsam mit der EU, der Afrikanischen Union, den Präsidenten
verschiedener afrikanischer Länder und der deutschen Firma BioNTech den
Startschuss für ein Projekt zur Schaffung modularer Produktionsstätten in
Südafrika, Ruanda, Ghana und Senegal gegeben. Es geht um den Kampf gegen
COVID-19, aber perspektivisch auch gegen Krankheiten wie Malaria oder Ebola.
Letzte Woche haben sich die Gesundheitsminister der G7 auf einen „Pact for
Pandemic Readiness“ verständigt. Dabei geht es um einen besseren
Datenaustausch, um die Vernetzung internationaler Gesundheitsexpertinnen und
-experten und um die Mobilisierung schneller Einsatzteams, die im Ernstfall
einen Ausbruch bekämpfen sollen.
Wir werden die Weltgesundheitsorganisation dauerhaft stärken. Ein erster
Durchbruch ist uns Ende April gelungen: Wir haben uns international darauf
verständigt, die Finanzkraft der Weltgesundheitsorganisation endlich auf eine
breitere und verlässlichere Grundlage zu stellen.
Davos war bei diesen Themen schon oft Impulsgeber. Nicht zuletzt wurde hier im
Jahr 2000 die globale Impfstoffallianz GAVI gegründet. In der Pandemie war sie
Gold wert.
Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich zum Schluss an diesen guten Geist
von Davos erinnern und appellieren. Ja, wir erleben eine Zeitenwende. „History
is at a turning point“. Aber wir sind dem Lauf der Geschichte nicht machtlos
ausgeliefert. Wenn einige uns zurück in die Vergangenheit von Nationalismus,
Imperialismus und Krieg führen wollen, dann lautet unsere Antwort: Nicht mit
uns! Wir stehen für die Zukunft!
Und wenn wir merken, dass unsere Welt multipolarer wird, dann muss uns das
anspornen: zu noch mehr Multilateralismus, zu noch mehr internationaler
Zusammenarbeit.
Schönen Dank.
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin