In die Hölle der Diktatur geführt.

Interview mit DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin.

TP: Herr Templin, es gibt seit kurzem ein Bürgerbüro, habe ich in der Presse gelesen. Was ist dieses Bürgerbüro genau, was soll es bezwecken?

Templin: Man müßte es genau so sagen: Die Idee eines solchen Bürgerbüros gibt es seit mehreren Monaten. Die Gründungsveranstaltung war am 17. Juni, und die wirklich praktische Arbeit ist, bedingt auch durch die Sommerpause im August, erst jetzt angelaufen. Hinter der Idee steckt folgende gemeinsame Erfahrung eines Teils der Leute, die heute noch als Bürgerrechtler gelten.

TP: Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR, wenn ich Sie richtig verstehe?

Templin: Ich präzisiere: Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR…, die die gemeinsame Erfahrung gemacht haben: Es gibt zwar eine ganze Menge von Initiativen und kleinen Einrichtungen, die sich um die Interessen von DDR-Haftopfern kümmern, die sich Vergangenheitsaufarbeitung zum Ziel gesetzt haben, aber diesen kleinen Initiativen und Einrichtungen fehlt fast durchgängig die Möglichkeit zu wirklichem Öffentlichkeitsdruck und die Möglichkeit auf die politische Ebene hin wirksam zu intervenieren.
Wir wollen uns mit der Arbeit im Bürgerbüro nicht konkurrierend zu ähnlichen Einrichtungen verstehen, sondern wir sehen jetzt sieben Jahre nach dem Herbst 89, sechs Jahre nach der Vereinigung, folgende Chance, daß sich mindestens in einem Teil der politischen Klasse, also auch bei Leuten, die aus ganz verschiedenen Parteien kommen und die bisher eher zögerlich reagiert haben, jetzt doch die Einsicht durchbricht, daß entscheidende Blockaden und Schwierigkeiten auf dem weiteren Weg der Deutschen Vereinigung mit der unaufgearbeiteten Vergangenheit – auch mit den Altlasten aus DDR-Zeiten – zu tun haben. Und wir hoffen darauf, daß unser Impuls, also der der Bürgerbewegten, und die Einsicht einzelner Politiker und von Leuten, die uns nahe stehen, zusammengenommen jetzt noch mal die Möglichkeit gibt, wirksamer als bisher an bestimmten Schwerpunkten dieses schwierigen Feldes – Umgang mit der DDR-Vergangenheit, Verantwortung der Schuldigen, bessere Behandlung der Benachteiligten und Opfer – vorzugehen. Es ist eine kleine Initiative, die wir haben, aber unsere Chance besteht darin, durch den Personenkreis – Bürgerbewegte plus bekannte Politiker aus allen Parteien – mehr Öffentlichkeitsaufmerksamkeit zu haben. Und ich hoffe an Schwerpunktthemen – Stichworte: Seilschaften, unaufgearbeitete, schwerwiegende Probleme dieser DDR-Vergangenheit- noch ein Stück bewegen zu können. Das ist keine ideale Lösung, die werden wir auch nicht schaffen können, aber das ist auf diesem ganzen mühsamen Weg, den ich jetzt verfolgt habe, eine. Und ich hoffe doch, für unsere Bedingungen einigermaßen auch neue Initiative.

TP: Wie wollen Sie Ihre Ziele konkret umsetzen – das wird ja auch Geld kosten?

Templin: Wir haben von vornherein gesagt, wir wollen als private Initiative, als private öffentliche Initiative keinen offiziellen Status erreichen. Wir haben uns als Verein konstituiert mit gemeinnützigen Zielen und hoffen, daß wir auf dieser Grundlage durch private Unterstützung – Spenden, Sponsoren – mindestens soviel bekommen, daß wir eine kleine Bürostruktur – eine bis zwei Stellen – und entsprechende technische Voraussetzungen und Recherchemöglichkeiten davon finanzieren können. Das ist der Ausgangspunkt. Was bei möglichem Arbeitserfolg weiter passiert, kann ich schwer vorab sagen. Ich hoffe, daß wir auf einer schmalen, aber vorhandenen finanziellen Grundlage eine eigene Arbeitsmöglichkeit haben werden.

TP: Nun haben Sie ja ziemlich bekannte Unterstützer – ich nenne hier nur Helmut Kohl; Sie sind damit auch in die Schußlinie geraten. Ist von dieser Seite auch Geld zu erwarten?

Templin: Sicher nicht direkt; ich hoffe aber, daß diese Namen, die ja auch als Gründungsmitglieder für die Ziele der Initiative und des Bürgerbüros stehen, andere dazu motivieren können – also Leute, die die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten haben -, uns zu unterstützen. Es wird also diese indirekte Unterstützung sein, auf die ich setze. Die Frage, woher genau dieses Geld kommt, ist für mich in dem Moment nicht das Problem, solange das keine kriminellen Quellen sind. Der Umgang mit diesem Geld, mit dieser Unterstützung ist auch strikt an die Ziele des Vereins gebunden. Jeder, der weiß, wer wir sind, hat die Möglichkeit, die Arbeit, die wir machen wollen, zu unterstützen oder nicht.

TP: Ist Helmut Kohl Gründungsmitglied?

Templin: Helmut Kohl ist Mitinitiator und Gründungsmitglied. Wir sind natürlich oft gefragt worden, wie wir uns in dieser Nachbarschaft fühlen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß Kohl als CDU-Vorsitzender ja für die Politik einer Partei steht, die gerade in Sachen „Vergangenheitsaufarbeitung“ ziemlich inkonsequent ist. Dieses Argument ist richtig, es wiegt für mich auch. Wir haben Kohl vor allem in seiner Verantwortung als Kanzler angesprochen bei den Gesprächen. Wir haben mit unserer Kritik an Defiziten und auch Problemen, die wir bei seiner Politik sehen, nicht hinter’m Berg gehalten. Ich habe aber das Gefühl, daß er gerade in Fragen „Umgang mit der DDR-Vergangenheit“ durchaus selbstkritisch und bereit ist, an einigen Punkten auch Veränderungen mitzubefördern. Und darauf kommt es uns vor allem an.

TP: Wie sähe Ihre Arbeit konkret aus. Nehmen wir ein Beispiel: Ein ehemaliges DDR-Haftopfer kommt zu Ihnen, wie würde einem solchen geholfen werden können?

Templin: Dieses Beispiel wäre jetzt nicht das beste, wenn ich unsere Arbeit charakterisieren will, weil es z.B. bei DDR-Haftopfern gesetzliche Regelungen gibt. Die sind nicht die allerbesten. Hier treten wir dafür ein, daß diese gesetzlichen Regelungen, sprich dieses Wortungeheuer „Unrechtsbereinigungsgesetz“, verbessert, d.h. novelliert werden.

TP: Also politische Arbeit, wenn ich Sie richtig verstehe?

Templin: Hier wäre es politische Arbeit; wenn es aber um die angefragte Hilfe geht, dann würde ich vor allem Personen sehen, die bisher von gesetzlichen Regelungen überhaupt noch nicht oder gewissermaßen nur am Rande erfaßt werden. Mir geht es um die große Zahl von Benachteiligungen und schwerwiegenden existentiellen Eingriffen in DDR-Biographien, die entstanden sind, ohne daß es bis an die Grenze oder über die Grenze zu Verhaftung und Haft kam. Das heißt berufliche Benachteiligung, Zurücksetzung im normalen Leben; genau hier wird immer wieder achselzuckend erklärt, solche Benachteiligungen und Defizite könne man überhaupt nicht aufholen. So generell gesagt, kann man sich hinter eine solche Formulierung zurückziehen, aber es stimmt einfach nicht. Wenn ich es auseinandernehme: Es ist in vielen Fällen möglich. Ich nenne konkrete Beispiele: Ich kann es mir vorstellen – und genau das streben wir an -, daß Leute, die in ihrer beruflichen Entwicklung in der DDR – weil sie sich nicht angepaßt haben, weil sie einigermaßen integer geblieben sind – stark benachteiligt waren und die jetzt noch in einem Alter sind, in dem eine berufliche Entwicklung und Integration noch möglich ist, gezielt unterstützt und gefördert werden, daß man auch Sondermaßnahmen und einen Sonderfond schafft. Daß eine solche Personengruppe bisher überhaupt nicht wahrgenommen wurde, daß man immer nur achselzuckend erklärt hat, die bürokratischen Regelungen sind für alle gleich – gewissermaßen Gleichbehandlung für sehr unterschiedliche Fälle -, macht ein großes Defizit deutlich. Wenn jemand nachweisen kann, daß ihm aufgrund seiner Integrität und seiner Anpassungsverweigerung langfristige Nachteile erwachsen sind, muß die Möglichkeit bestehen – ob das jetzt im öffentlichen Dienst ist, ob das, nehmen wir mal an, in seiner Arbeit als Lehrer ist, da haben wir zahlreiche Beispiele dafür -, daß er in seinem Beruf wieder tätig sein kann.

TP: Sie verstehen sich sozusagen als eine Art Wiedereingliederungsstelle für Leute, die in der DDR benachteiligt wurden in ihrer Entwicklung und heute noch Existenzschwierigkeiten haben?

Templin: Ich würde sagen, eher noch stärker direkt als eine intensive Lobby dafür.

TP: Also auch politische Intentionen?

Templin: Auch politisch im Sinne von Interessenvertretung, im Sinne von Artikulation und Bündelung dieser Interessen. Die Leute, um die es hier geht, sind gerade nicht diejenigen, die 89 im Schnellantritt in die westliche Gesellschaft hineingesprungen sind. Wir haben ja das Phänomen, daß die wütendsten Verächter der westlichen Ordnung bis 89 zum übergroßen Teil ab 89 mit Riesensätzen genau in dieses Gesellschaftssystem hineingesprungen sind und sich in Anpassung und Überanpassung übten und sich als erste eilfertig angeboten haben. Während diejenigen, die sich vorher zurückgestellt und gesagt haben: Also, ich paß mich nicht an! auf einmal dastanden und dachten, in dieser Demokratie muß es ja wohl für uns eine Chance geben. Und sie merkten auf einmal, auf’s Neue wird Anpassung belohnt und ihre eigene Haltung eigentlich gar nicht wahrgenommen. Das hat wiederum mit eigenen Problemen des Westens zu tun. Und wir wären absolut illusorisch, wenn wir meinten, wir könnten diese westliche Gesellschaftsordnung so einfach ändern. Die fördert andere Arten von Opportunismus und Anpassung. Das sehen wir auch ganz realistisch. Aber wir wollen, wenn es um die konkreten Schäden aus DDR-Zeiten geht, die Möglichkeiten, die wir sehen, zur Sprache bringen und unser Gewicht nutzen, daß hier wenigstens minimal etwas passiert.

TP: Nun haben Sie auch gesagt, daß es ein Ziel von Ihnen ist, daß die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Wo sehen Sie die Schuldigen – im Politbüro beispielsweise?

Templin: Das Politbüro gehört als Machtzentrum der DDR für mich zweifellos dazu. Und jede Erklärung, man sei „oben“ über konkrete Verbrechen oder Mißstände nicht informiert gewesen, stimmt mich mehr als skeptisch. Hier ist auf jeden Fall für mich ein Verantwortungszentrum, aber ich würde die Verantwortungs- und Befehlskette schon weiter unten sehen wollen; gerade auf der mittleren Nomenklaturaebene sehe ich derart viel Verantwortung präsent, daß die alleinige Fixierung auf die Staatssicherheitsseite für mich bedenklich ist. Wir wollten die Ausleuchtung dieses Bereiches „MfS“, das ist uns auch weitgehend gelungen. Es sollte aber nicht dazu führen, daß bei der Konzentration auf diesen Bereich, sprich Arbeit der Gauck-Behörde, auf einmal die zentrale Frage „SED-Verantwortung und Verantwortung der Parteikader“ außen vorbleibt. Dieser Bereich ist für mich nach wie vor zentral. Und hier sehe ich auch individuelle Verantwortung.

TP: Können Sie da konkret Namen nennen?

Templin: Ich würde immer wieder den Namen Hans Modrow nennen; es ist für mich eines der größten Phänomene, wie es diesem Mann gelingen konnte, sich als lupenreiner Reformer, und wenn man so will, als Menschenfreund zu präsentieren. Das ist ihm ja nicht nur bei naiven Westlern gelungen; eine Anzahl von Leuten, die mir eigentlich auch nahe steht, ist auch auf Modrow hereingefallen. Gerade Modrows Biographie, sein Vorleben als Bezirkssekretär, also 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden, zeigt, wie Legendenbildungen in der DDR funktionierten. Modrow galt als Reformer vor 89, gleichzeitig sind alle Nachrichten, die uns aus dem Bezirk Dresden aus dieser Zeit erreicht haben, so gewesen, daß nichts aber auch nichts darauf hindeutete, daß in Dresden unbequeme Leute oder gar Oppositionelle einigermaßen fairer behandelt wurden als anderswo. Die Repression war mindestens genauso hart. Die Verantwortung für diese Durchführung repressiver Maßnahmen lag politisch eindeutig auf der Ebene der Partei, sprich hier des SED-Bezirksfürsten. Modrow wußte von den Repressionsmaßnahmen im groben mindestens, wenn auch nicht jedes Detail. Er wußte um die Einrichtung von Internierungslagern, die geplanten Zwecke, er hat diese Maßnahmen eindeutig unterstützt. Wenn er sich hinterher hinstellt und dieses Wissen leugnet, dann ist es für mich grotesk. Ich könnte jetzt die Beispiele fortführen, er ist für mich aber Flagrant dafür, wie nahezu perfekt der Prozeß von Vertuschung und Verdrängung funktionieren kann. Modrow saß am Runden Tisch, hat uns den besorgten Landesvater und fast schon Demokraten vorgespielt. In der gleichen Zeit hat er mit höchster Intensität daran gearbeitet, die alten Strukturen zu retten, zu transformieren, die Kader horizontal in neue Stellungen zu verschieben, die MfS-Strukturen zu kaschieren, die Gelder zu verschieben. Modrow, der alte Reformertyp und Gysi, der neue Reformertyp sind für mich ein perfektes Zusammenspiel in dieser Art von Vertuschen, Verbergen und, wie gesagt, historischer Legendenbildung.

TP: Mal unterstellt, daß das alles stimmt, ich weiß es nicht, könnte es nicht sein, daß Modrow nur Entscheidungen treffen konnte und mußte, die im Gesamtkontext zu den Zielen standen, die in der DDR eben zu verwirklichen waren?

Templin: Das ist durchaus möglich, und ich würde von Modrow auch keine Wunder erwarten in der Zeit vorher. Was mich nur stört und wütend macht, ist die nachträgliche Stilisierung. Wenn er das offen anerkennen und zugeben würde, also aus seiner Rolle keinen Hehl machte, dann würde das seine Gestalt nicht bessern, aber dann könnte ich wenigstens sagen, er bleibt einigermaßen realistisch dabei. Mindestens leistet er der Illusion, er war anders und in seinem Bereich ging es menschlicher zu, sehr großen Vorschub. Ich kann das, was ich von Leuten, die ihm nahestanden, positiv höre, wahrnehmen, aber mir fehlt hier wirklich die Deckung durch Taten.

TP: Nun stehen ja hier in Berlin eine Reihe von Politbüroverantwortlicher vor Gericht wegen der Toten und Verletzten an Mauer und Grenze. Sind Sie der Meinung, daß hier 1. die Richtigen vor Gericht stehen und 2. die juristische Art der DDR-Vergangenheitsbewältigung die richtige ist? Das ist eine Doppelfrage, ich weiß.

Templin: Das ist eine Doppelfrage, und es ist sicher auch eine der schwersten. Für mich hat diese gesamte, notwendige Auseinandersetzung von vornherein verschiedene Ebenen und Teile. Die Frage der justitiellen Auseinandersetzung ist für mich unumgänglich, aber sie ergibt nur dann einen Sinn – und ich würde sie nur dann vertreten und verteidigen können -, wenn die anderen Ebenen von Aufarbeitung, also die historische und politische Aufarbeitung dazugehören und intensiv genug betrieben werden. Wenn das fehlt, ist die Verteidigung und Erklärung, hier werden nur Sündenböcke gesucht und gewissermaßen für alle anderen hingestellt, ja zutreffend. Ich denke, wenn es um einen konkreten Personenkreis geht, der dann auch strafrechtlich belangt wird, dann ist die Gefahr von Irrtümern oder auch Disproportionen immer vorhanden. Gerade weil das DDR-System in seiner Verschachtelung und internen Abstufung ja nicht einzelne Personen in voller Verantwortung herausgestellt hat und andere in voller Abhängigkeit. Natürlich war gewissermaßen jeder ins System eingebunden, auch auf den höheren Stufen. Und jeder könnte sagen – bis hin zum Politbüro -, es gab ja noch die sowjetische Ebene. Immer wenn ich das Argument gehört habe oder höre: Sie konnten ja mit ihrer eigenen Überzeugung und als Teil des Systems gar nicht anders handeln, es entspräche doch ihrer eigenen Logik, daß sie so vorgegangen sind; dann ist dieses Argument keines der Entlastung oder guten Verteidigung, sondern eines, das im Grunde immer meine Gegenantwort mobilisiert und die heißt dann: Um so schlimmer für die Betreffenden. Wer sich einem solchen System, das im Kern verbrecherisch ist, als Person der Art anheimgibt, daß er sich selber die eigene Möglichkeit, anders zu handeln, nimmt, also auch noch voll in diese Verantwortung sich hineinsteigert und nur noch aus der Identifikation sein eigene Beruhigung für die Taten, die er mitzuverantworten hat, schöpft, der kann nicht vor der Möglichkeit garantiert geschützt sein, für diese Art begangener Verbrechen nicht doch noch zur Verantwortung gezogen zu werden.

TP: Nun war ja 1989 die Sache so – lassen wir es mal dahingestellt sein, ob auf Druck des Volkes oder nicht -, daß das Politbüro die Mauer geöffnet hat. Hätte es andere Möglichkeiten gehabt, z.B. Armee, oder war die Öffnung der Mauer die einzige Möglichkeit?

Templin: Die Möglichkeit einer chinesischen Lösung oder eines Vorgehens in dieser Richtung war den ganzen Herbst nicht auszuschließen. Ich würde den Umstand, daß entscheidende politische Verantwortliche in der DDR vor einer solchen Lösung selbst zurückgeschreckt sind, durchaus als strafrelevant sehen, also wenn Sie so wollen, als strafmildernd; aber eines muß, denke ich, ganz deutlich gesagt werden: Die Entscheidung zum friedlichen Aufgeben ist nicht aus dem DDR-Führungskreis selbst gekommen. Wenn nicht Gorbatschows aus anderen Voraussetzungen und Gründen gegebenes unzweideutiges „Nein, wir werden eine militärische Lösung nicht mittragen und mitverantworten“ gekommen wäre Anfang Oktober 89, wäre ich mir überhaupt nicht sicher, ob sich nicht dann doch noch eine Mehrheit dafür gefunden hätte, militärisch durchzugreifen.

TP: Beweist denn Gorbatschows Machtwort nicht auch die Behauptung der Angeklagten, daß die Sowjetunion der Letztverantwortliche für die Errichtung und Durchführung von Maßnahmen an Grenze und Mauer gewesen ist?

Templin: Der Letztverantwortliche durchaus, aber nicht der Alleinverantwortliche. Wenn ich diese ganze Frage „Verantwortung“ diskutiere in Bezug auf DDR-Entwicklung und auf DDR-Geschichte, dann wird mir natürlich immer wieder klar, ich kann DDR-Geschichte nicht einfach nur als Teil von deutscher Geschichte verstehen, die sie ist und n u r in d i e s e m Zusammenhang sehen; für mich ergibt das, was DDR-Geschichte bedeutet, nur dann einen Sinn, wenn ich sie als Geschichte der kommunistischen Bewegung insgesamt betrachte. Der Impuls dafür, was diese DDR, wer oder was dieser Teil Deutschlands werden könnte und sollte, der ist nicht durch die Logik des Kalten Krieges zustanden gekommen. Der stand 45 in den Grundzügen fest. Es ging nicht darum, zunächst die Demokratie zu wollen und dann zu merken, wir kommen damit nicht durch, wir sind die Verlierer und wir igeln uns verzweifelt ein. So heranzugehen, ist für mich der Kern, Geschichtslegenden zu bilden. Es ging, als die Moskauemigranten um Ulbricht nach Berlin kamen, ganz klar darum: Die kommunistische Machtübernahme mit dem perspektivischen Ziel kommunistischer Weltherrschaft vorzubereiten. Der sowjetisch besetzte Teil und später ganz Deutschland sollten als Brückenkopf und Zentrum kommunistischer Ordnung in Mitteleuropa dienen. Das war das strategische Ziel, welche Manöver Stalin auch immer zwischendurch vollführte. Dieser Grundanspruch, den man uns in der Schule, im Pionier- und im Jugendverband mehr oder weniger unverhüllt eintrichterte, war die Doktrin: Wir halten nur solange still, bis die Bedingungen für eine Revolution herangereift sind. Der friedliche Umgang miteinander wird durch mancherlei möglich gemacht oder ist sinnvoll, weil keiner nun den atomaren Weltkrieg riskieren will, aber dieser friedliche Übergang hieß doch nicht, sich etwa mit dem einmal gewonnenen Boden zu bescheiden. Der hieß immer: Letztlich ist unser Ziel die revolutionäre Umgestaltung aller Länder, die noch nicht diese heilsbringende Ordnung haben.

TP: Also konsequent nach marxistisch-leninistischer Theorie?

Templin: Konsequent, und das hieß immer offensiv; also die Vorstellung, daß das nur aus Gründen der Verteidigung und des notwendigen Schutzes der eigenen Territorien geschehe, ist absurd. Jeder Blick in militärische Dokumente und in politische Planspiele zeigt, daß es umgekehrt funktionieren sollte.

TP: Friedrich Schorlemmer nannte die Ziele der Kommunisten einmal „hehre Ziele“. Können Sie sich dem anschließen?

Templin: Ich denke, Schorlemmer ist an diesen Punkten ähnlich wie Thierse und andere in eine selbst gestellte Falle getappt. Ich habe kürzlich mal ein Gespräch zwischen Thierse und Gysi verfolgt. Gysi schleift Thierse wie einen Bären am Nasenring durch die Manege, weil Thierse sich auf die Debatte „Wo sind die eigentlichen Werte des demokratischen Sozialismus“ ausgerechnet mit Gysi einläßt, und damit diesem Vollblutdemagogen und Populisten aufsitzt. Für mich ist durch die Praxis des internationalen Kommunismus und des Realsozialismus dieser Begriff so hundertprozentig diskreditiert worden, daß ich jedem, der sich auf soziale Gerechtigkeit und auf diese Werte bezieht, immer nur raten würde, er solle sich endlich vom Sozialismusbegriff verabschieden. Die frühen utopistischen Sozialisten, die Schorlemmer wahrscheinlich meint, sind spätestens durch die Entwicklung des Marxismus-Leninismus und der darauf bezogenen internationalen Arbeiterbewegung als Anknüpfungspunkte höchstens noch in ganz anderer Weise zu nehmen, nämlich dann durch die Werte, die sie vertreten haben. Aber diese Werte kann und muß ich in anderer Form vertreten und verteidigen. Von der realen Ausgestaltung also auch in den nun nicht gerade schlimmsten Formen der Diktatur ist überall dort, wo man von realem Sozialismus sprechen kann, die Überwindung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gemeint worden. Die Errichtung einer Ordnung, die der verordnete planwirtschaftliche Weg zum Glück und zur Gerechtigkeit sein sollte, hat regelmäßig in die Hölle der Diktatur geführt.

TP: Es gab ja auch mal realexistierende Christen, wenn man 500 oder wieviel Jahre zurückgeht, als noch sog. Hexen etc. verbrannt wurden. Was damals an Verbrechen geschehen ist, schmälert heute nicht das Evangelium. Könnte man hier nicht eine Parallele ziehen zum Kommunismus mit seinen ursprünglichen Zielen; wenn man Marx und Engels liest, findet man nichts von Mord oder Totschlag an Mauern und Grenzen oder von Revolutionen mit Waffengewalt oder von Unterdrückung des Volkes etc..

Templin: Dann muß ich aber einen Schritt zurückgehen und sehen, wann sich in dieser frühen sozialistischen Bewegung eine Geschichtsphilosophie abzeichnet und durchsetzt, die den realpraktischen, also diesseitigen Überwindungsanspruch anderer Gesellschaften zum Ziel hat, die sich nicht nur auf Werte bezieht und auf die Verteidigung von Werten, sondern die klipp und klar sagt: Im Mittelpunkt steht der Klassenkampf, die Überwindung der bürgerlichen Ordnung und die Errichtung eines anderen Gesellschaftssystems. Ich würde die politische Akzeptanz eines Entwurfes, der mir vorgehalten wird, daran messen, ob die angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen grundlegende politische Freiheitsrechte, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit mindestens garantieren. Für mich ist die Demokratie überhaupt nichts perfektes und ideales, aber jeder, der meint, die Unvollkommenheiten einer solchen Demokratie in Richtung idealer Gesellschaftskonstruktion überschreiten zu können und dann den Begriff Sozialismus einfügt, weil er sagt: In dieser Demokratie ist nicht genug Gerechtigkeit und wir wollen es grundsätzlich gerechter und deswegen streben wir ganz andere institutionelle Lösungen an!, der winkt mit dem Zaunpfahl, den ich aus der Geschichte zu gut kenne. Das macht eben mein Mißbehagen an diesen Gesamtkonzeptionen aus.

TP: Könnten Sie sich vorstellen, welche Gesellschaftsform in den nächsten hundert Jahren den Vorrang haben wird – Kapitalismus oder Sozialismus?

Templin: Ich bin in dieser gesamten Diskussion, ich sage es jetzt mal vereinfacht, durch meine ganze Entwicklung pragmatisch universalistisch geworden. Was meinen diese beiden Teile? Also pragmatisch würde ich sagen: Jede Verbesserungsidee – und ich selber vertrete einige, ich bin also nicht status-quo-fixiert – muß sich tatsächlich an Realisierungschancen messen lassen. Sie hat ihre Qualifikation nicht durch ihre Perfektion, sondern durch die Möglichkeit, den mühseligen Prozeß verändernder Reformen und des Unterstützens von Leuten selber zu durchlaufen und sich diesem Prozeß zu stellen. Daran würde ich solche Veränderungsideen messen. Und zum anderen würde ich schon denken, daß es bestimmte Erfahrungen und Maßstäbe gibt – Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie -, die sich nicht einfach nur in ihrer Gültigkeit für bestimmte Länder oder Ländergruppen verteidigen lassen, sondern universellen Anspruch haben, auch zunehmend universell durchgesetzt werden müssen. Dazu gehört für mich auch der Wert „soziale Gerechtigkeit“.
Wenn ich diese Werte immer nur exklusiv für bestimmte Teile verteidigen will und ihre Durchsetzung in einem Teil der Welt vielleicht noch auf Kosten anderer mache, dann, denke ich, ist ihre eigene Schwäche und Brüchigkeit vorprogrammiert. Wenn ich diese Voraussetzung zugrunde lege, dann ist für mich die entscheidende Frage, ob es in den nächsten Jahrzehnten gelingt, diese ganz schwierige Balance von Freiheits- und Gleichheitsrechten – also der Anspruch auf private Initiative, auf Individualität und der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und auf kollektiven Schutz von Minderheiten, die sich ja nicht einfach decken, sondern in vielen Punkten als Spannung begegnen – möglichst universell durchzusetzen. Und hier sehe ich einen bestimmten Typ von Wirtschaft, ich würde sagen, das ist die nicht aus der sozialen Verantwortung entlassene Marktwirtschaft. Ich sehe momentan keinen anderen Wirtschaftstyp, der eigentlich in der Lage ist, diese komplizierte Balance mitzutragen.

TP: Als wer?

Templin: Der klassische Kapitalismus also in seinen wirklich auch egoistisch-selbstzerstörerischen Auswüchsen wird es auf keinen Fall sein. Der braucht seine Bändigung und braucht seine Bremse. Und der klassische Sozialismus, also im Sinne von rigider Planwirtschaft und verweigerter Demokratie, der ist es noch viel weniger. Und ich denke, alle Erfahrung in Ländern, die sich diesem demokratischen Weg verweigern oder ihn nur unvollkommen gehen, zeigen auf Dauer, es wird um diese Entwicklung überhaupt keinen Bogen geben können. Und je mehr wir dazu beitragen, diese Entwicklung in anderen Ländern oder Territorien zu befördern, umso besser wird es für unsere eigene Ordnung sein.

TP: Welche Alternative könnten Sie sich da vorstellen? Soziokapitalismus vielleicht – einer bändigt den anderen?

Templin: Darauf wird es hinauslaufen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1996

Foto/Bildquelle: Boell.de

Wolfgang Templin, Bündnis 90/Grüne, Bürgerrechtler in der ehemaligen DDR, gründete u.a. mit Helmut Kohl das Bürgerbüro e.V., lebt in Berlin.

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