Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Exzellenzen,
lieber Herr Heusgen,
meine Damen und Herren,
seit zwei Jahren tobt in der Ukraine nun schon der größte Landkrieg in Europa seit
dem Zweiten Weltkrieg. Täglich fordert Russlands Aggression unschuldige Opfer.
Täglich wird in der Ukraine geweint, getrauert und gestorben. Und darum will
ich mich in meiner Rede heute auf diesen Krieg in unserer Nähe konzentrieren.
Trotz enormer eigener Verluste sind wesentliche Teile der russischen
Streitkräfte intakt. Russland hat seine Armee seit vielen Jahren auf diesen
Krieg vorbereitet und auf allen Ebenen neue gefährliche Waffensysteme
entwickelt. Die russische Volkswirtschaft arbeitet längst im Kriegsmodus. Putin
hat Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kultur in Russland praktisch
gleichgeschaltet. Wer sich für Freiheit und Demokratie einsetzt, muss um sein
Leben fürchten. Was das bedeutet, zeigt uns die erschütternde, die empörende
Nachricht vom Tod Alexei Nawalnys in russischer Haft. Und nicht zuletzt schickt
Putin immer mehr Soldaten an die Front.
Zwei Jahre nach Kriegsbeginn müssen wir uns alle fragen: Tun wir genug, um
Putin zu signalisieren: „We are in for the long haul“? Tun wir genug, wo wir
alle doch genau wissen, was ein russischer Sieg in der Ukraine bedeuten würde?
Nämlich das Ende der Ukraine als freier, unabhängiger und demokratischer Staat,
die Zerstörung unserer europäischen Friedensordnung, die schwerste
Erschütterung der UN-Charta seit 1945 und nicht zuletzt die Ermutigung an alle
Autokraten weltweit, bei der Lösung von Konflikten auf Gewalt zu setzen. Der
politische und finanzielle Preis, den wir dann zu zahlen hätten, wäre um ein
Vielfaches höher als alle Kosten unserer Unterstützung der Ukraine heute und in
Zukunft.
Was folgt aus dieser Bestandsaufnahme für uns? Was muss daraus folgen für die
NATO und für Europa? Zwei Dinge sind aus meiner Sicht zentral.
Erstens. Die Bedrohung durch Russland ist real. Darum muss unsere Fähigkeit zur
Abschreckung und Verteidigung glaubwürdig sein und glaubwürdig bleiben. Dabei
gilt weiterhin: Wir wollen keinen Konflikt zwischen Russland und der NATO.
Deshalb sind sich alle Unterstützer der Ukraine seit Beginn des Krieges einig:
Wir schicken keine eigenen Soldaten in die Ukraine.
Zugleich müssen Putin und die Militärs in Moskau verstehen: Wir, das stärkste
Militärbündnis der Welt, sind in der Lage, jeden Quadratmeter unseres
Bündnisgebiets zu verteidigen. Dafür ist es wichtig, dass wir den europäischen
Pfeiler der NATO weiter stärken, auch im Bereich der Abschreckung.
Ich erzähle Ihnen vermutlich nichts Neues, wenn ich sage: Deutschland
investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den 20er-, den 30er
Jahren und darüber hinaus, zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die
Verteidigung. Wir müssen uns mehr denn je darum kümmern, dass unsere
Abschreckung modernen Anforderungen gerecht wird.
Deshalb haben wir in der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie der
Bundesregierung unter anderem festgelegt ‑ ich zitiere ‑, „die
Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige
Präzisionswaffen“ zu fördern. Darüber sprechen wir mit Frankreich und
Großbritannien. Das fügt sich ein in die Bemühungen von Emmanuel Macron und
mir, die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken.
Denn unabhängig davon, wie Russlands Krieg in der Ukraine endet, unabhängig
auch davon, wie anstehende Wahlen diesseits oder jenseits des Atlantiks
ausgehen, eins ist doch vollkommen klar: Wir Europäer müssen uns sehr viel
stärker um unsere eigene Sicherheit kümmern, jetzt und in Zukunft. Die
Bereitschaft dazu ist sehr groß.
Das habe ich auch Präsident Biden bei meinem Besuch vergangene Woche in
Washington gesagt. Unsere Anstrengungen in den zurückliegenden 24 Monaten
unterstreichen das. Und zugleich waren Joe Biden und ich uns in einem
vollkommen einig: Unser transatlantisches Bündnis bleibt auch in Zukunft
wertvoll und stark ‑ und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks ‑, weil
uns gemeinsame Werte und Überzeugungen verbinden: Freiheit, Demokratie, die
Stärke des Rechts und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Dafür bin
ich dem Präsidenten und all unseren nordamerikanischen Freunden hier im
Publikum zutiefst dankbar. Thank you for being such strong allies and friends!
Lassen Sie mich auch klar sagen: Jegliche Relativierung der Beistandsgarantie
der NATO nützt nur denen, die uns ‑ so wie Putin ‑ schwächen wollen.
Mein zweiter Punkt betrifft unsere Unterstützung der Ukraine. Die Europäische
Union und die Mitgliedstaaten haben dafür bisher knapp 90 Milliarden Euro
bereitgestellt. Die 50 Milliarden Euro allein an finanzieller Hilfe, die
wir gerade für die kommenden Jahre zusätzlich beschlossen haben, kommen da noch
oben drauf. Wir haben mehr als vier Millionen ukrainische Flüchtlinge hier bei
uns in der Europäischen Union aufgenommen, eine Million davon allein in
Deutschland. Das alles war und das bleibt richtig!
Erst gestern haben Präsident Selensky und ich eine Vereinbarung unterzeichnet,
mit der wir der Ukraine dauerhafte Sicherheitszusagen machen. Das zeigt: Unsere
Unterstützung ist breit und umfangreich, vor allem aber ist sie langfristig
angelegt. Schon jetzt beläuft sich die von Deutschland bereits geleistete und
geplante militärische Unterstützung auf gut 28 Milliarden Euro. Für das
laufende Jahr haben wir unsere Militärhilfe auf mehr als sieben Milliarden Euro
nahezu verdoppelt. Zusagen für die kommenden Jahre in Höhe von sechs Milliarden
kommen hinzu.
Ich wünsche mir sehr ‑ und ich werbe gemeinsam mit einigen anderen
europäischen Kolleginnen und Kollegen auch hier ganz eindringlich dafür ‑,
dass ähnliche Entscheidungen in allen europäischen Hauptstädten getroffen
werden. Ich weiß, das ist nicht leicht. Auch hier in Deutschland ist das nicht
leicht. Wie in anderen Ländern gibt es auch bei uns kritische Stimmen, die
fragen: Sollten wir das Geld nicht für andere Zwecke ausgeben? Moskau befeuert
solche Zweifel noch mit gezielten Desinformationskampagnen, mit Propaganda in
den sozialen Medien.
Wahr ist: Dieser Krieg mitten in Europa verlangt auch uns einiges ab. Ja, Geld,
das wir jetzt und in Zukunft für unsere Sicherheit ausgeben, fehlt uns an
anderer Stelle. Das spüren wir. Ich sage aber auch: Ohne Sicherheit ist alles
andere nichts. Nur wenn wir alle die dafür nötigen Mittel solidarisch und
langfristig bereitstellen, wird unsere Verteidigungsindustrie ihre Produktion
verlässlich steigern und damit auch zu unserer Sicherheit beitragen.
Die Vereinigten Staaten haben der Ukraine seit Kriegsbeginn etwas mehr als
20 Milliarden Dollar an militärischer Hilfe pro Jahr geleistet – bei einem
Bruttoinlandsprodukt von 28 Billionen Dollar. Eine vergleichbare
Anstrengung muss doch das Mindeste sein, was auch jedes europäische Land
unternimmt. Denn schließlich reden wir über die größte Sicherheitsbedrohung auf
unserem Kontinent, über einen Krieg hier, in Europa, auch wenn dieser Krieg
globale Folgen hat. Nur, wenn wir hier glaubwürdig sind, dann wird auch Putin
begreifen: Einen Diktatfrieden auf Geheiß Moskaus wird es nicht geben, weil wir
das nicht zulassen werden!
Damit bin ich bei dem Silberstreif am Horizont, lieber Christoph Heusgen, von
dem Sie gestern in Ihrer Eröffnungsrede gesprochen haben. Diesen Silberstreifen
gibt es, und er ist breiter, als man beim Blick in die Nachrichtensendungen
oder die Zeitungen manchmal glauben mag. Wir stehen geschlossener zusammen denn
je. Schweden und Finnland haben sich entschieden, der NATO beizutreten. Wir
haben in der NATO neue Verteidigungspläne beschlossen. Wir in Deutschland haben
ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in unserer
Verfassung verankert. Davon sind inzwischen rund 80 Prozent vertraglich
gebunden. Verteidigungsminister Pistorius und ich haben entschieden, eine deutsche
Kampfbrigade dauerhaft an der Ostflanke der NATO, in Litauen, zu stationieren.
Der NATO-Gipfel in Washington im Juli wird zeigen, wie sehr Europa inzwischen
zur Sicherheit des euroatlantischen Raums beiträgt. Das ist doch eine gute
Nachricht zum 75. Geburtstag der Allianz.
Russland dagegen hat kein einziges seiner Kriegsziele erreicht. In zwei Wochen
wollte Putin Kyiv einnehmen. Zwei Jahre später hat die Ukraine mehr als die
Hälfte der russisch besetzten Gebiete befreit. Die Kontrolle über das westliche
Schwarze Meer hat Russland verloren. All das ist zuallererst das Verdienst der
ukrainischen Streitkräfte. Vor ihrem Mut und ihrem hart erkämpften Erfolg habe
ich allergrößten Respekt! Aber auch unser aller Unterstützung hat dazu
beigetragen. Das sollte uns doch Ansporn sein, jetzt nicht nachzulassen,
sondern diesen Weg entschlossen weiterzugehen. Deutschland ist genau das,
entschlossen, und zugleich dankbar für unseren Zusammenhalt, heute und in
Zukunft. Schönen Dank!