Wer weitergeht, wird erschossen!

TP-Interview mit Wolfgang Ullmann.

TP: Herr Ullmann, Sie gehörten einmal zu denjenigen, die dafür eingetreten sind, die DDR-Vergangenheit mittels „Tribunalen“ zu bewältigen. Welche Formen haben Ihnen da vorgeschwebt, um so etwas zu erreichen wie Wahrheitsfindung?

Ullmann: Das kann man heute am besten erläutern an dem, was in Südafrika wirklich geschieht. Es ist genau das, was mir vorgeschwebt hat, daß man öffentliche Anhörungen und Verhandlungen durchführt unter der Überschrift „Wahrheit und Versöhnung“. Das heißt doch wohl, daß Versöhnung nicht angestrebt wird durch Verschleierung der Wahrheit, durch sogenannte Schlußstriche, sondern durch Aufdeckung und Aufklärung der Wahrheit, damit man weiß, was man zu tun hat, sei es, daß strafrechtliche Vergehen entsprechend vor Gericht kommen oder daß man irgendwelche anderen Wege findet – Aussprechen und sich Begegnen von Tätern und Opfern -, die dann eine ehrliche Versöhnung möglich machen.

TP: Glauben Sie wirklich, daß sich Täter öffentlich hinstellen und das sagen, was zu einer Vergangenheitsbewältigung beiträgt? Besteht da nicht die Gefahr einer Brandmarkung für sie?

Ullmann: Die Gefahr besteht sicherlich, aber das, was wir mit dem Tribunal vorhatten, war so gedacht, daß dort gegenseitiges ein moralisches sich-Niedermachen nicht stattfinden kann – da lassen sich schon Vorkehrungen treffen, das geschieht ja auch in Südafrika.
Und ich darf nur an das Gespräch in der Berliner Stadtbibliothek vor einigen Wochen erinnern, in dem Hans Modrow ausdrücklich erklärt hat, daß er einen solchen Umgang mit der SED-Vergangenheit durchaus befürwortet hätte.

TP: Es sieht ja nun so aus, daß gerichtliche Prozesse en masse durchgeführt werden. Warum treten Sie für diese Prozesse nicht offen ein? Es ist der Eindruck entstanden, daß Sie das SED-Unrecht bzw. die Täter, die dafür in Frage kommen, mit Glacé-Handschuhen angefaßt wissen wollen.

Ullmann: Wenn Sie „Sie“ jetzt großgeschrieben haben wollen, dann bin ich also persönlich gemeint, und da bin ich über die Frage ein wenig verwundert. Ich weiß nicht, aufgrund welcher Äußerungen Sie die Frage stellen, das ist mir unklar. Vielleicht können Sie das noch mal präzisieren.

TP: Es gibt Leute, die aufgrund Ihrer Vorstellungen von „Tribunalen“ meinen, daß Sie zu mitmenschlich, zu nachgiebig sind, Gerichtsurteile und eventuell damit verbundene Haftstrafen für zu hart halten, daher der – zugegeben etwas krasse – Vergleich mit den Glacé-Handschuhen.

Ullmann: Nun muß das auf irgendwelchen Irrtümern beruhen; andere werfen mir vor, daß ich mit dem Tribunalgedanken den Beichtstuhl auf den Marktplatz hätte stellen wollen und ihn dadurch in einen Pranger verwandele. Die Frage kommt wohl dadurch zustande, daß man dem Mißverständnis aufsitzt, als sei das Tribunal gemeint als ein Ersatz für die ordentliche Strafverfolgung. Aber das habe ich ja vorhin gerade gesagt: Das ist überhaupt nicht die Meinung, weder von mir noch von denen, mit denen ich im Forum zur Aufklärung und Erneuerung zusammenarbeite.
Wir waren und sind immer der Meinung gewesen, daß ein solches Tribunal vielmehr eine Hilfe ist zu unterscheiden zwischen dem, was strafrechtlich verfolgt werden muß, wie die Vergehen, derentwegen jetzt die Mitglieder des Politbüros oder die des Nationalen Verteidigungsrates angeklagt sind. Und dann gibt es jenen anderen Bereich von Verstößen gegen die Menschenrechte, die auf diese Weise überhaupt nicht behandelt werden können, weil sie im Strafrecht nicht vorkommen. Und deswegen halten wir nach wie vor daran fest, daß dann ein solches Tribunal der gegebene Ort ist, auf dem eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht stattfinden kann.
Es ist eben der Punkt, an den man auch stößt, wenn man sich ansieht, was im ersten Paragraphen des Stasiunterlagengesetzes steht, in dem von historischer, juristischer und politischer Aufarbeitung die Rede ist; diese drei Formen der Aufarbeitung sind sicherlich alle nötig; aber es fehlt eben die gesellschaftliche, und um die ging es mir immer.

TP: Sie haben in dem vorhin erwähnten Gespräch in der Berliner Stadtbibliothek gesagt, im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages war eine Menge Vorarbeit nötig, um diese Prozesse, wie sie derzeit geführt werden, möglich zu machen. Was war das für eine Vorarbeit?

Ullmann: Diese Vorarbeit hat sich nicht auf die Prozesse, also auf die gerichtliche Praxis bezogen, sondern auf deren Voraussetzung, nämlich auf die personelle. Und da gab es immer Schwierigkeiten, weil nach unserem Rechtssystem und nach der Strafprozeßordnung das Tatortprinzip gilt, das heißt, die Prozesse müssen dort geführt werden, wo die Vergehen vorgefallen sind. Und deswegen mußte Berlin der Ort der Prozesse werden.

TP: Es sind ja nicht alle Taten in Berlin geschehen.

Ullmann: Aber wenn es um das Zentrum, also das, was man Regierungskriminalität nennt, geht – ich spreche lieber von Staatskriminalität -, dann war es unausbleiblich, daß das Landgericht Berlin zuständig wurde; und damit war es natürlich personell überfordert. Und nun stand der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages vor der Frage: Was tut man? Und da gab es von seiten der SPD den Vorschlag, hier eine Bundeszuständigkeit zu erklären. Das aber wäre zumindest verfassungsrechtlich bedenklich gewesen und hat sich darum nicht durchsetzen können. Ich habe auch nicht dafür gestimmt. Wir haben vielmehr gemeint – und darin hat sich der Rechtsausschuß geeinigt -, daß genau so wie im Umgang mit Nazi-Unrecht hier die Länderjustiz sich gegenseitig unterstützen muß, indem sie Staatsanwälte und Richter für das Land Berlin zur Verfügung stellen. Das ist aber, wie man weiß, immer schwierig, wenn man Länder überreden soll und muß, etwas für andere zu tun. Und das war die eigentliche Schwierigkeit.
Damals war es Frau Limbach als Justizsenatorin, die immer wieder vorstellig wurde mit dem Argument, daß sie nicht genug Personal für diese Aufgaben habe; dann war es Frau Peschel-Gutzeit (jetzige Justizsenatorin in Berlin, Anm. d. Interviewers).
Ich glaube, das Problem ist im Grunde genommen immer noch nicht richtig gelöst. Von Herrn Kittlaus (Leiter der Zentralen Erfassungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, Anm. d. Interviewers) weiß ich, daß die Prozeßunterlagen sozusagen fertig da liegen, aber das Personal für die Prozesse selbst fehlt.

TP: Waren für die Vereinbarungen, die im Rechtsausschuß getroffen wurden, irgendwelche Änderungen von Vorschriften, Gesetzen erforderlich?

Ullmann: Nein, das war überhaupt nicht nötig, weil es ja nur darum ging, daß die Länder ihre Beamten für die Arbeit in Berlin freistellten. Das ist eben auch geschehen, aber eben leider sehr unterschiedlich, auch zeitlich begrenzt, so daß immer wieder neue Lücken aufgetreten sind.

TP: Nochmals zurück zu den Tribunalen: Könnten Sie etwas konkreter sagen, was Sie sich davon erhoffen, wenn sie denn stattfänden bzw. was Sie erhofften, wenn sie denn stattgefunden hätten?

Ullmann: Was dabei herausgefunden werden sollte, waren Antworten auf die Fragen, die jetzt in den Prozessen eine Rolle spielen, aber dort eben nur beantwortet werden, soweit sie im Zusammenhang mit den Tatbestandsmerkmalen des Strafgesetzbuches erfaßbar sind. Es gibt aber eine ganze Reihe von Fragen, die dabei überhaupt nicht behandelt werden können, z.B. der Bau der Berliner Mauer.

TP: Sie meinen also die historischen Fragen?

Ullmann: Ja; aber es geht nicht nur um die Historie, sondern in dem Tribunal wäre zu erörtern gewesen, daß es doch, wenn man nun die üblichen Antworten, die es da immer gegeben hat, beiseite läßt – ich denke jetzt also nicht an die propagandistischen aus DDR-Zeiten, wo es immer hieß, daß da jemand mit klingendem Spiel durch’s Brandenburger Tor habe einziehen wollen; das haben wir glücklicherweise hinter uns -, auch eine Frage nach der Verantwortlichkeit gibt, die nicht dadurch geklärt werden kann, daß man entweder alles dem sowjetischen Machtapparat in die Schuhe schiebt oder daß man sagt: Ja, Ulbricht und seine Leute wußten nicht mehr ein noch aus; sondern man muß dann die Frage stellen können: Was hat denn wirklich den Ausschlag gegeben, daß ihr die Mauer gebaut habt im Wissen darum, daß damit eine ganz neue Art von Freiheitsberaubung stattfindet, daß man eine ganze Bevölkerung sozusagen hinter Gefängnismauern bringt? Das war doch bekannt, und das war unvermeidlich mit dieser Maßnahme verbunden, warum hat man sie dann trotzdem ergriffen?
Ich könnte mir denken, daß die Antworten darauf eben doch wichtig und unterschiedlich gewesen wären. Die Schwierigkeit dabei ist, daß die Verantwortlichen aus dem Jahre 1961 und der Hauptverantwortliche, Walter Ulbricht, gar nicht mehr leben. Aber ich glaube, die jetzt noch lebenden Politbüromitglieder hätten dazu schon etwas zu sagen. Niemand, sowohl in der alten DDR als auch in der neuen Bundesrepublik, wie in der ganzen Welt, wäre dann zufrieden mit irgendwelchen Standardantworten: Ja, es war eine Situation des Kalten Krieges und so weiter; sondern da hätte man da eben nachfragen können und müssen: Ja, jetzt sagen Sie mal Ihre persönliche Meinung, warum haben Sie damals zugestimmt und was haben Sie sich davon versprochen und so weiter…
Das könnte und müßte man meines Erachtens besprechen; noch viel wichtiger halte ich aber die andere Frage nach dem Verhältnis der beiden Diktaturen in Deutschland. Das ist ja ein ganz großes Rätsel. Niemand in der ganzen Welt kann bestreiten, daß Leute wie Honecker, der ja im Gefängnis Hitlers gesessen hat, ein Antifaschist war. Das ist eine geschichtliche Tatsache; und daß dem Antifaschismus anständige und moralisch akzeptable Motive zugrunde gelegen haben. Und dann fragt man sich doch: Wie hat es denn passieren können, daß die Leute, die gegen diese Barbarei der Nazis gekämpft haben, in eine Lage gekommen sind, daß sie heute vor einer Öffentlichkeit stehen, vor der sie erklären müssen, warum auch sie Menschenrechtsverletzungen begangen haben?
Das ist doch eine Frage, auf die es meines Erachtens noch keine klare Antwort gibt. Und der berüchtigte Historikerstreit aus der Mitte der achtziger Jahre, den Nolte ausgelöst hat, hat doch in ganzem Umfange klargemacht, wie dunkel dieses Kapitel eigentlich ist.

TP: Angenommen, es fänden Tribunale statt, dann unterstellte ich mal, daß keine Antworten zu erwarten sind bzw. nur solche, wie sie die Angeklagten heute in Prozessen ohnehin geben.

Ullmann: Dann müßte man eben sagen, daß die Sache gescheitert ist. Das ist bei allen solchen Unternehmungen natürlich ein Risiko, das man eingehen muß. Aber ich denke, umsonst wäre es dann doch nicht gewesen, weil man hinterher hätte sagen können: Die Verantwortlichen haben sich einer wirklichen Auseinandersetzung entzogen; und die Gesellschaft kann sich darauf ihren Vers machen. Das würde natürlich weitere Erörterungen zur Folge haben, aber es wäre eine Ausgangsbasis gewonnen, von der aus man sagen könnte: Sie sind nicht willens gewesen, sich dieser Frage zu stellen; und dann muß man wohl sagen, daß auch keine Bereitschaft vorliegt, hier die eigene Verantwortung im Lichte der neuen Situation zu sehen. Das wäre auch ein Ergebnis, freilich ein in keiner Weise befriedigendes. Aber ich denke, unsere Gesellschaft wäre doch einen Schritt weiter als sie jetzt ist, wo es immer noch die quälende Auseinandersetzung gibt, in der die einen sagen: Ja also, es waren eben zwei totalitäre Systeme und insofern kann man sie auch vergleichen!, und die anderen unentwegt darauf hinweisen und sagen: Ja aber, es gab doch Unterschiede und die SED-Herrschaft hat nicht solche Leichenberge hinterlassen wie die NS-Herrschaft; was freilich wahr ist, aber in einer schrecklichen Weise trivial, weil doch das große Rätsel vor uns steht, daß die leidenschaftlichsten Kämpfer gegen die Nazibarberei nun so schuldbeladen dastehen. Und das ist, so denke ich, schon eine Frage, die Beantwortung heischt, und da bin ich bei meinem letzten Thema, um das es bei diesen Tribunalen gegangen wäre, und das ist die Frage der Prävention: Wie muß eine Demokratie aussehen, damit so etwas nicht wieder passieren kann?

TP: Ja, wie muß sie aussehen?

Ullmann: Sie muß offenkundig so aussehen, daß die Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht ein ideales Prinzip bleibt, sondern eine inhaltlich gefüllte Norm und Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, daß ihre persönliche und bürgerliche und menschliche Würde tatsächlich von der öffentlichen Machtausübung geschützt wird.

TP: Da würde ich sagen: Ein unerreichbares Ziel in den gegenwärtigen realen Verhältnissen.

Ullmann: Wir haben doch immerhin so viel erreicht, daß es einen globalen Konsens gibt. So muß es sein, das sagt die Uno-Charta der Menschenrechte. Dasselbe sagt auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Mängel, auf die Sie hinweisen, bestehen eben darin, daß immer wieder irgendwelche Interessen es verhindern, daß diese Prinzipien, die im Falle der Europäischen Menschenrechtskonvention sogar justitiable Normen sind, sich durchsetzen können. Und ich glaube, das Problem, das wir heute haben, ist ein demokratietheoretisches. Die ältere Auffassung der Grundrechte besagt, daß es sich hier um subjektive Rechte des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerinnen handelt, die geschützt werden müssen gegen eine überschießende und die Rechte der Bürger verletzende staatliche Machtausübung. Das gibt es natürlich auch heute noch. Aber das Grundproblem ist ein ganz anderes: Die Menschenwürde und die Grundrechte werden heute weniger von einem im Kerne äußerst schwachen Staate angegriffen als vielmehr von mächtigen privaten Verbänden, die sich nun gerade auf die Freiheitsrechte berufen und aus der Privatsphäre heraus operieren und damit die Grundrechte von Mitbürgern und Mitbürgerinnen gefährden. Und hier ist die Frage nach dem Schutz eine weitgehend verfassungsrechtlich noch unbeantwortete.

TP: Und hoffentlich bald beantwortete Frage.

Ullmann: Zustimmung!

TP: Hans Modrow sagt, Prozesse der Art, wie sie derzeit gegen politische Funktionsträger der ehemaligen DDR geführt werden, spalten eher das deutsche Volk, als daß sie es vereinen. Sind Sie auch der Meinung, daß durch die derzeitigen Prozesse Keile zwischen Ost und West getrieben werden?

Ullmann: Das ist eine Theorie, die unentwegt von alten Funktionsträgern verfochten wird, auch auf dem illusionären Hintergrund, daß es hier irgendeine feindliche ausländische Justiz sei, die über sie richte. In Wirklichkeit ist es einfach die deutsche Justiz, die hier ihre Zuständigkeit wahrnimmt. Es gibt gar keine andere oder zwei Justizen in Deutschland, die man hier gegeneinander ausspielen könnte. Das ist das eine. Und das andere, was ich immer wieder sagen muß, ist, daß ich das Argument schon deswegen nicht verstehe, weil doch nur zu gut bekannt ist: Es war ein Ziel der friedlichen Revolution, daß der Zustand beendet werden möge, der in der DDR herrschte. Denn in diesem Falle war es die staatliche Macht, die es verhinderte, daß Vergehen, die nach ihrem eigenen Recht strafbar waren, bestraft wurden.
Warum hat man denn die Politbüromitglieder um Honecker mit Schande aus der SED ausgestoßen, wenn man nicht diese Meinung damals geteilt hätte? Das nennt man dann heute auf einmal vorauseilenden Gehorsam. Damals war es allgemeine Überzeugung. Es wurde freilich auf einem Wege gemacht, von dem ich nun sage, daß er jenseits aller Rechtsstaatlichkeit lag und auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde der Betroffenen war. Der „Spiegel“ hat Protokolle veröffentlicht, wie mit diesen Leuten umgegangen worden ist mit ihren eigenen Genossen. Da kann ich nur sagen, daß sich die Prozesse, um die es jetzt geht, in höchst zivilen Formen vollziehen und sorgfältigst darauf geachtet wird, daß die Rechte und die Würde der Angeklagten in keiner Weise verletzt werden.

TP: Es gibt aber eine unterschiedliche Rechtsauffassung, ob die bundesdeutsche Justiz dafür zuständig ist; es wird ja darauf Bezug genommen, daß es ein sogenanntes Rückwirkungsverbot gibt und daß dieses Rückwirkungsverbot eben auf die Taten, die da angeklagt sind, Anwendung zu finden hat. Und diese Auffassung wird ja auch von Hans Modrow und anderen vertreten.

Ullmann: Auch da würde ich sagen – irrigerweise; denn dabei wird außer acht gelassen, daß der Einigungsvertrag hier bestimmte Regelungen vorgeschrieben hat zur Novellierung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch. Ich kann immer wieder nur daran erinnern, daß in diesem Punkt die DDR-Verfassung und das DDR-Strafrecht strenger waren als das der Bundesrepublik Deutschland, was meines Erachtens irgendwie mit dieser antifaschistischen Vorgeschichte zusammenhängt. Die DDR-Verfassung und auch das DDR-Strafgesetzbuch haben das Kontrollratsgesetz Nr. 10 ausdrücklich einbezogen, also Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschenrechte.

TP: Was meines Erachtens nichts daran ändert, daß das Rückwirkungsverbot Verfassungsrang hat und durch keinerlei Einführungsgesetze zum Strafgesetzbuch geändert werden kann.

Ullmann: Das ist sicherlich richtig, aber die Frage ist eben, ob hier nicht geurteilt wird über Sachen, die eben nach DDR-Recht strafbar gewesen sind, und davon gehe ich aus.
Ich möchte auch in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die DDR-Verfassung ausdrücklich vorsah, daß jemand, der sich menschenrechtswidrigen Befehlen oder Gesetzen widersetzt, straflos ist in der DDR. Insofern weiß ich gar nicht, warum man hier auf das Rückwirkungsverbot zurückgreift. Außerdem bin ich der Meinung, daß das berühmte Urteil des Bundesgerichtshofes recht hat, nach dem jemand, der etwas schlimmeres tut als was im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, doch dann nicht straflos bleiben kann. Denn er tut etwas, was zwar formal nicht im Strafgesetzbuch enthalten ist, aber was zu dessen Voraussetzungen gehört. Es gibt bestimmte überpositive Rechte, auf denen das Strafgesetzbuch aufbaut.

TP: Es wird ja nun auch argumentiert, die DDR habe ein Recht gehabt, ihre Grenze zu errichten und demzufolge auch ein Recht, sie zu schützen. Es wird Bezug genommen auf das Schußwaffengebrauchsbestimmungsgesetz…

Ullmann: Das war ja sogar nur eine Bestimmung…, es hieß Schußwaffengebrauchsbestimmung, und das ist das, was in der westlichen Terminologie „Schießbefehl“ genannt wurde. Die DDR hatte eine Grenze, die von seiten der Bundesrepublik durch den Grundlagenvertrag von 1972 auch anerkannt worden ist. Das heißt aber doch mitnichten, daß damit auch die Anerkennung der unmenschlichen Schutzsysteme an der Grenze verbunden gewesen wären: Die Selbstschußanlagen, die Kampfhunde, die man lange Zeit gehabt hat; und vor allem ist es ein völlig unstrittiger Punkt, daß der Mauerbau zwar hier von den Westalliierten geduldet worden ist, aber natürlich dem Vier-Mächte-Status eindeutig widersprach, so daß also die Errichtung einer Grenze und eines Schutzes an der Grenze keineswegs herangezogen werden dürfen zur Rechtfertigung der Erschießung von Bürgern an dieser Grenze. Das ist genauso unverhältnismäßig gewesen wie das, was mir – es war offenkundig 1988 – passierte, als ich gerade vor einer großen Parade an der Museumsinsel, von der Universitätsbibliothek kommend, plötzlich vor einem Schild stand: Wer weitergeht, wird erschossen. Und den wachhabenden NVA-Soldaten fragte ich: Sagen Sie, was ist denn hier los, ist hier Kriegszustand oder wo befinden wir uns eigentlich?
Der junge Mann stand etwas verdattert da und wußte nicht so richtig, was er sagen sollte. Schließlich antwortete er mir: Es laufen nicht nur Leute mit guten Absichten herum. Darauf antwortete ich: Meinen Sie, daß ich irgendwelche schlechten Absichten habe?

TP: Weswegen stand dieses Schild da? War das ernst gemeint?

Ullmann: Da war offenkundig für Raketen- und alles mögliche Militärgerät aufgebaut.

TP: War das Schild nun ernstgemeint?

Ullmann: Ich weiß nicht, wie ernst es gemeint war, aber an der Grenze wußte man eben, daß es ernst gemeint war, und darum wurden dort ja auch die Menschen erschossen. Und das ist in keiner Weise gerechtfertigt.

TP: Haben die Leute, die über die Mauer flüchteten, aus Verzweiflung möglicherweise leichtsinnig gehandelt?

Ullmann: Ja, sie mußten wissen, daß sie ihr Leben auf’s Spiel setzen. Und deswegen muß man auch fragen, wie muß es in diesen Leuten ausgesehen haben, daß sie das gemacht haben.

TP: Wäre der Umstand, daß sie ihr Leben auf’s Spiel gesetzt haben, für die Angeklagten, z.B. im Politbüroprozeß, mildernd zu würdigen?

Ullmann: Nein, im Gegenteil, ich würde als Richter sagen: Sogar strafverschärfend!, weil man daran sehen kann, daß sie offenkundig im Kern ihrer Persönlichkeitsrechte betroffen waren. Es sind ja nicht ohne Grund meist jüngere Leute gewesen, die das getan haben, die aus Verzweiflung zu der Überzeugung gekommen wären: Also ich habe überhaupt keine Lebensperspektive mehr…

TP: Und trotzdem oder gerade dann wird noch auf einen draufgeknallt…

Ullmann: Ja, ja, ja, ja, ja! Das, finde ich, zeigt eben die ganze Perversität des Systems, das freilich keinen anderen Rat mehr wußte, weil es seit dem 17. Juni 1953, aber auch seit dem 13. August 1961 wußte, daß die Bevölkerung eben nur mit Gewalt zusammenzuhalten war.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur Berlin

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

Wolfgang Ullmann, Bündnis 90/Grüne ist Mitglied des Europäischen Parlaments.

Buchsprechung von Wolfgang Ullmann >

https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwi-3OfErbDjAhUJ_KQKHZp5BMkQFjAAegQIAhAB&url=https%3A%2F%2Ftaz.de%2F!1402037%2F&usg=AOvVaw2MMAFwSVnlMuE4XonlT4-E

Streitgespräch mit Wolfgang Ullmann und dem letzten DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel im Kulturhaus Berlin-Mitte 1997 >

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*