Die Prozesse tragen zur Erhellung bei.

TP-Interview mit Dr. *Rainer Hildebrandt, Checkpoint Charlie, Berlin.

Frage:
Herr Dr. Hildebrandt, glauben Sie, dass die Prozesse, die jetzt gegen Grenzsoldaten und ehemalige Funktionsträger der DDR geführt werden, dazu beitragen, die DDR-Vergangenheit zu bewältigen und aufzuarbeiten?

Dr. Hildebrandt:
Zunächst will ich einfach sagen: Jede Form, die die Wahrheit ans Licht bringt, ist hilfreich. Die Argumente sind natürlich auch sehr stark in den Prozessen, und Sie sehen ja auch wie die Presse darauf reagiert.
Was kann man da anders machen?
Wir sehen auf jeden Fall jede Form der Aufklärung, jetzt also Zeugen sprechen zu lassen, die Opfer, als so wichtig an, und ich kann nur sagen, wir in Deutschland, mit unserer Gauck-Behörde, sind da an erster Stelle. Was meinen Sie, wenn die Europäer aus Polen oder aus Ungarn – und so weiter – zu uns kommen, was die sagen: Donnerwetter, wie weit seid Ihr!

Frage:
Besteht nicht die Gefahr, dass es im Nachhinein – geschichtlich betrachtet – heißt, diese Prozesse haben vor einem unzuständigen Gericht stattgefunden?

Dr. Hildebrandt:
Sie tragen auf jeden Fall zur Erhellung der Dinge bei. Auch wenn sie scheitern – oder durch die Form wie sie scheitern -, tragen sie zur Erhellung bei, weil man danach wieder fragt, wie geht man richtig an die Dinge heran. Mein Problem ist, dass es nur wenige Menschen gibt, die wirklich aufarbeiten wollen, wie z.B. Schabowski, mit dem ich befreundet bin, oder einen Stasi-Mann, der zu seinen Leuten hingegangen ist, die er beobachtet hat, auch einen IM …

Frage:
… also einen sogenannten informellen Mitarbeiter …

Dr. Hildebrandt:
… der auf seine Opfer, die er beobachten sollte, zugegangen ist, sich gestellt hat. Das ist so wichtig, und es kommt nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern wer es sagt.

Frage:
Auch egal wo er es sagt?

Dr. Hildebrandt:
Das ist hier die Tragik unserer Vergangenheitsaufarbeitung, dass es nur von den Opfern und von den Juristen eben ausgeht. Und dann eben nur im Gerichtssaal ausgebreitet wird. Aber es müsste – und dazu könnte man noch Vieles tun – von solchen Menschen wie zum Beispiel von Schabowski ausgehen, der dann dafür auch andere Foren als den Gerichtssaal nutzen könnte. Sie sehen ja, wie hervorragend der argumentiert hat. Ich kämpfe darum, dass er in Berlin bleibt. Was meinen Sie, was das für ein Argument wäre für die, die nicht verarbeiten wollen und die sagen: Wir lassen uns doch nicht schabowskisieren.

Frage:
Nochmals zu meiner Ausgangsfrage zurück: Sind Sie der Meinung, dass die westdeutsche Justiz befugt ist, Prozesse dieser Art zu führen? Besteht nicht die Gefahr, dass es irgendwann im Nachhinein von der Geschichte so betrachtet wird, es waren unzuständige Gerichte damit befasst, es haben sich unzuständige Gerichte, die nur mit westdeutschen Richtern und Richterinnen besetzt waren, angemaßt, über diese DDR zu befinden?

Dr. Hildebrandt:
Oh, das ist so schwer, dass ich mir keine unmittelbare Antwort erlauben kann. Zunächst aber sage ich jetzt einfach: Wenn es keine andere Form der Wahrheitserhellung gegenüber den Verantwortlichen gibt als mit der Justiz, dann müssen wir’s mit ihr machen – wenn’s keine andere gibt! Sehen Sie, wenn andere Kräfte sagen würden, jetzt wollen wir uns an einen Tisch setzen und sagen: „Ihr, kommt mal alle her, Krenz und alle“, dann kämen sie nicht, dann sagten sie eben, sie seien doch historische Verlierer. Wenn es also keine andere Form der Aufhellung gibt, dann muss man bei aller Unvollkommenheit die akzeptieren, die vorhanden ist; denn wir brauchen die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und die kann uns nur weiterführen. Wir haben erlebt, wie lange man das Nazi-Regime verarbeiten musste und bis heute noch nicht hat.

Frage:
Glauben Sie, dass die Wahrheit bei diesen Gerichten, die jetzt darüber urteilen und darüber befinden, gefunden wird?

Dr. Hildebrandt:
Ja, das glaube ich, wenn sie auch heute noch nicht als solche erkannt wird. Aber Sie sehen es an den Dokumenten, die jetzt zunächst einmal hervorgeholt werden, und die werden irgendwann auch sprechen. Auch wenn sie das jetzt noch nicht so tun. Aber wissen Sie, man muss doch auch gleichzeitig sehen, wie die Politik jetzt weitergeht. Ich spreche ja auch mit denen, die als belastet gelten, also mit denen vom Insider-Komitee; was meinen Sie, wie es bei denen zugeht, wie die sich bestätigt fühlen, dass es jetzt in Polen und in Russland noch so viele Kommunisten gibt. Jetzt meinen sie eben, dass sie zwar manche Fehler gemacht haben, aber keine tiefgreifenden, grundlegenden; in seiner strukturellen Nichtreformierbarkeit haben sie das System bis heute nicht erkannt. Und dahin müssen wir kommen.

Frage:
Wie?

Dr. Hildebrandt:
Wir müssen alle Möglichkeiten, die geeignet sind, ausschöpfen, um da weiterzukommen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 27.02.1996

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

*Dr. Rainer Hildebrandt ist Gründer und Direktor des Mauermuseums am Checkpoint Charlie in Berlin

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