Die Doppel- und Dreifachdiskriminierung muss endlich aufhören.

TP-Interview mit Oliver Rast, Sprecher der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO).

TP: Die gesetzliche Rentenversicherung für Gefangene stand im Gegensatz zur Frühjahrstagung der diesjährigen Justizministerkonferenz nicht auf der Tagesordnung der Herbsttagung am 17. November (wir berichteten darüber). Ist das Thema damit für die GG/BO erledigt oder wird sie weiterhin bei der entsprechenden Forderung bleiben?

Rast: Wir müssen uns jetzt zunächst vergegenwärtigen, dass die komplette Umsetzung der Sozialversicherungspflicht für inhaftierte Menschen seit 40 Jahren in der Schleife hängt. Offenbar sind wir weiterhin damit konfrontiert, dass die Rentenfrage für Inhaftierte auf die lange Bank geschoben wird. Das ist ein sozialpolitischer Skandal. Wir sind natürlich realistisch genug zu wissen, dass inhaftierte Menschen nicht die breite gesellschaftliche Lobby haben. Deshalb ist es ein tagtäglicher Kampf eine Konstellation zu schaffen, um diese Rentenfrage immer wieder auf die Agenda setzen zu lassen. Wir haben allerdings schon die Hoffnung, da ja eine Arbeitsgruppe innerhalb der halbjährlich stattfindenden Justizministerkonferenz eingerichtet wurde, dass diese spätestens im Frühjahr kommenden Jahres ihr Ergebnis vorlegen wird.

TP: Welche Erwartungen werden damit verknüpft?

Rast: Wir setzen ganz schwer darauf, dass von einzelnen Justizministern aus den Ländern, primär aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch künftig aus Berlin…

TP: … jetzt wo Senator Heilmann weg ist…

Rast: … so viel Druck unter den Mitstreitern ausgelöst wird, dass endlich diese Lücke der Rentenversicherung für Gefangene geschlossen wird.

TP: Welche Hoffnung setzt die GG/BO da auf den neuen Berliner Justizsenator Dirk Behrendt?

Rast: Dirk Behrendt ist aus unserer Sicht eine richtig gute Wahl. Zum einen ist er als rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus sehr regelmäßig zu Strafvollzugsfragen positiv aufgetreten. Er ist im besten Sinne des Wortes ein Reformer des bundesrepublikanischen Strafvollzugs. Wir wissen natürlich auch, dass es einen Unterschied geben kann, wenn Leute von der Oppositionsrolle auf die Regierungsbank wechseln. Aber wir hoffen, dass Wort und Tat bei Dirk Behrendt deckungsgleich sind, dass er sich für die sozialpolitischen Forderungen der GG/BO einsetzt. Wir hoffen auch, dass er letztlich als Türöffner fungiert, damit die soziale Frage hinter Gittern nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet wird. Damit meinen wir, dass er die Mindestlohnfrage auf die Agenda setzt, die Sozialversicherungspflicht, und letztlich auch dafür sorgt, dass die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit auch für Gefangene greift. Wir erhoffen hier, dass Dirk Behrendt uns gegenüber Dialogbereitschaft zeigt. Wir werden diese entsprechend annehmen, und hoffen, dass wir dann im Sinne der Resozialisierung – die GG/BO spricht von Sozialisierung – in Berlin eine Vorreiterrolle finden werden.

TP: Nicht zu viele Erwartungen und Hoffnungen für den Anfang?

Rast: Die GG/BO wird gegenüber der Politik des neuen Berliner Justizsenats aber auch nicht blauäugig sein. Wir setzen in erster Linie auf außerparlamentarische Bündnispartner wie (Basis-)Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und fortschrittliche Anwaltsvereinigungen, um politischen Druck aufzubauen.

TP: Nun gab es in Berlin den Vorwurf der sog. Klau- und Schmuggelwirtschaft in der JVA Tegel, die von der GG/BO im Oktober auf einer Pressekonferenz im Haus der Demokratie in Berlin öffentlich angeprangert wurde. Besteht hier überhaupt Hoffnung auf eine Aufklärung?

Rast: Wir kennen verschiedene Presseveröffentlichungen und O-Töne von Dirk Behrendt im Zuge der Klau- und Schmuggelwirtschaft seitens Bediensteter in der JVA Tegel. Dirk Behrendt hat hier explizit formuliert, dass er auf eine komplette Aufklärung der Vorgänge setzt. Wir erwarten von ihm, dass er als Justizsenator entsprechenden Druck gegenüber der Anstaltsleitung in Tegel aufbaut, dass es weitere öffentliche Auseinandersetzungen darum gibt und dass Dirk Behrendt tatsächlich sein formuliertes Aufklärungsinteresse auch im Amte des Justizsenators weiter verfolgt; somit letztlich mit dafür sorgt, dass die Materialien und Produkte, die von Inhaftierten gefertigt werden, nicht – so wie es sich offenkundig darstellt – zum kompletten Nulltarif und gratis herausgeschafft werden können.

TP: Hat der bisherige Justizsenator Heilmann sich aus Sicht der GG/BO nicht nur nicht für die Aufklärung der „Klau- und Schmuggelwirtschaft“ eingesetzt, sondern sie gar noch behindert?

Rast: Dass der bisherige Senator für Justiz und Verbraucherschutz Thomas Heilmann sich nicht besonders in der Aufklärer-Rolle gesehen hat, verwundert uns nicht. Wir sind jetzt erst einmal froh, dass das „Kapitel Heilmann“ ein geschlossenes und Heilmann Geschichte ist. Deswegen setzen wir entsprechend auf Dirk Behrendt und dass es einen konkreten und für alle spürbaren Kurswechsel gibt. Wir sind da guter Hoffnung. Wir werden sicherlich auch die nächsten Wochen und Monate gespannt darauf hinwirken, dass es zwischen dem neuen Justizsenator und der GG/BO eine Gesprächssituation gibt, um dann tatsächlich mit dafür zu sorgen, dass es nicht nur eine Aufklärung der Vorgänge in Tegel gibt, sondern auch einen effektiven Schutz der beiden Whistleblower Benjamin L. und Timo F.. Diese wurden ja als erste Reaktion vonseiten der JVA Tegel mit gesonderten Schikanen und Repressalien konfrontiert. Das ist aus unserer Sicht völlig inakzeptabel. Die beiden Inhaftierten sind nicht zu drangsalieren, sondern dann auch letztlich zu schützen.

TP: Der bisherige Justizsenator Heilmann bezeichnete die Forderungen der GG/BO, insbesondere nach einem Mindestlohn für Gefangene, stets als „sozialpolitischen Nonsens“, sah dabei offensichtlich auch ein haushalterisches Problem. Wie steht die GG/BO dazu?

Rast: Wir müssen erst einmal festhalten, dass es nicht sein kann, dass es in der Bundesrepublik Deutschland noch einen sozialen Ort gibt, in dem noch vor-wilhelminische Zustände herrschen: kein Mindestlohn, keine Rente, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz. Es ist schon ein Armutszeugnis für einen ehemaligen Justizsenator unsere sozialpolitischen Kernforderungen als sozialpolitischen Nonsens abzutun. Das spricht letztlich auch gegen den bisherigen Justizsenator Heilmann. Sozialversicherungen sind in der Bundesrepublik Deutschland paritätisch gestaltet. Das ist letztlich nicht nur ein Kostenfaktor für den Staat, sondern auch einer für die einzahlenden Menschen. Das können wir erst einmal prinzipiell festhalten. Im Zuge des Gleichheitsgebotes ist die Rente, die komplette Sozialversicherung für Gefangene zu erfüllen. Und natürlich auch vor dem Hintergrund der Resozialisierung; denn was soll denn daran resozialisierend sein, wenn gerade Langzeitinhaftierte nach der Haft das direkte Ticket in die Altersarmut ziehen – wie es aktuell der Fall ist!? Der einzige Kostenfaktor ist jetzt gegeben, weil diese Ex-Inhaftierten dann in die Grundsicherung fallen. Unser emanzipatorischer Ansatz ist, dass es zwischen Drinnen und Draußen keinerlei  Differenz mehr gibt – außer das, was der Strafvollzug leider mit sich führt, nämlich den Freiheitsentzug von Menschen. Die Doppel- und Dreifachdiskriminierung muss endlich aufhören.

TP: Sofern die Gefangenen in die Rentenversicherung einbezogen würden, hätten sie dann überhaupt die Hoffnung auf eine höhere Altersversorgung als die Grundsicherung? Sie haben ja schließlich keine 45 Jahre in die Rentenversicherung einbezahlt.

Rast: Die Erwerbsbiographien von Gefangenen sehen sehr unterschiedlich aus. Wie bei Menschen außerhalb der Haft auch. Das mal vorweg. Deshalb verknüpft die GG/BO ja auch die Rentenfrage ganz explizit mit der Mindestlohnfrage. Nur in dieser Kombination gibt es auf Sicht die Aussicht für Ex-Inhaftierte sich oberhalb der Mindestsicherung zu sehen. Letztlich müssen wir neben der Mindestlohnforderung auch noch stärker debattieren, dass wir da eine Angleichung zwischen den Arbeitsverhältnissen inner- und außerhalb der Haft schaffen, indem wir beispielsweise auch den Tariflohn einfordern. Dann sieht die Situation sozial- und rentenpolitisch sicherlich auch nochmal günstiger für inhaftierte Beschäftigte aus. Wir haben jetzt erst einmal – auch gerade vor dem Hintergrund des Beginns der GG/BO – ein minimalistisches Konzept aufgestellt, aber auf Sicht ist die komplette Sozialversicherungspflicht mit der Forderung von Tariflöhnen zu koppeln, um über diese zwei Hebel dann tatsächlich die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern umgesetzt zu bekommen.

TP: Wie gewährleistet die GG/BO ihre alltägliche Arbeit, zumal ja die wenigsten Mitglieder Mitgliedsbeiträge – die ja ohnehin freiwillig sind – zahlen? Die gewerkschaftliche Arbeit dürfte ja auch einigen finanziellen Aufwand mit sich bringen.

Rast: Es ist erst einmal ein zentrales Kriterium, dass die Mitgliedsbeiträge auf freiwilliger Basis erfolgen. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass wir uns in einer permanenten prekären ökonomischen Situation befinden. Die GG/BO ist für erwerbstätige Menschen, die die GG/BO-Arbeit quasi als ausufernde  Freizeitbeschäftigung betreiben, ein Zuschussgeschäft. Wir hoffen, dass wir im Zuge einer positiven Form einer Etablierung unserer Gewerkschaftsarbeit mehr und mehr Fürsprecherinnen und Fürsprecher finden über Stiftungen, entsprechende Sozialverbände, die nach Möglichkeit die GG/BO-Arbeit mittelfristig auch in einer finanziellen Form unterstützen.

TP: Die in Frage kommenden Verbände nagen selbst schon massiv am Hungertuch.

Rast: Das ist tatsächlich auch ein Problem aller sozialpolitischen Verbände, dass die Finanztöpfe, aus denen sie ihre festbezahlten Aktivistinnen und Aktivisten bezahlen, schmaler werden. Es ist das Los von selbstorganisierten, basisdemokratischen Initiativen, dass die finanziellen Grundlagen nie besonders üppig sind. Damit haben wir jetzt seit zweieinhalb Jahren gelebt, wir werden auch weiterhin damit leben. Wir rufen das mal wieder ins Bewusstsein, wenn die GG/BO sich weiterhin ausdehnen, weiterhin in dem Diskurs um die soziale Frage hinter Gittern ein zentraler Faktor sein soll, dass sich dann auch interessierte Bündnispartnerinnen und Bündnispartner damit auseinandersetzen müssen, wie wir die GG/BO auch vor dem finanziellen Bankrott bewahren wollen. Die Gefahr besteht latent, aber die Hauptaktivistinnen und Aktivisten innerhalb der GG/BO, gerade die außerhalb der Gefängnistore, kennen die Situation, so dass jetzt nicht die Gefahr besteht, dass die GG/BO in zwei oder drei Jahren nicht mehr bestehen wird.

TP: Zumindest nicht in der veröffentlichten Meinung.
Rast: Das ist ja auch das, was uns in den letzten zweieinhalb Jahren trägt. Es ist tatsächlich faszinierend zu beobachten, dass es faktisch kaum eine Woche gibt, in der die GG/BO nicht in irgendeiner Form eine öffentliche Resonanz oder Präsenz hat. Das dokumentiert auf jeden Fall, dass wir einen Nervenstrang getroffen haben, und dieser Nervenstrang ist die sozial- und arbeitsrechtliche Diskriminierung von inhaftierten Menschen in diesem Lande. Aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass die GG/BO auf Jahrzehnte hin gesichert ist. Da werden wir uns sicherlich auch organisationsintern stabiler aufstellen müssen. Dazu brauchen wir sicherlich auch eine stabilere finanzielle Basis.

TP: Die Gewerkschaften warben früher mit dem Slogan: Jede Mark macht und stark. Was könnte die GG/BO, die wohl zurzeit mehr oder weniger aus Karteileichen besteht, stark machen?

Rast: Die Leitmotive eines gewerkschaftlichen Engagements sind Solidarität und Kollegialität. Diese sind unteilbar. Unser zentraler Ansatz ist, dass inhaftierte und nichtinhaftierte Beschäftigte genau dieses solidarische Band eingehen. Das ist die Existenzfrage schlechthin, die Basisgewerkschaften praktisch umsetzen müssen. Der finanzielle Background spielt sicherlich auch eine Rolle für die interne Stabilisierung, das ist allerdings nicht das Leitmotiv. Und von daher kennen wir uns aus, wie man in prekären finanziellen Verhältnissen organisatorisch überlebt, und wir wissen um die zentralen gewerkschaftspolitischen Leitlinien. Und an denen orientieren wir uns. Wir können sicher sein, wenn wir in einem Jahr nochmals ein Folgeinterview führen sollten…

TP: .. aber gerne…

Rast: … wird es noch eine GG/BO geben. Die GG/BO wird noch stärker werden, die GG/BO wird sich dann auch durchgesetzt haben in einigen Haftanstalten, Mitgliederversammlungen durchführen zu können. Und die einzelnen Länderministerien im Justizbereich werden sich daran gewöhnen müssen, dass die GG/BO nicht nur eine abstrakte Realität ist, sondern eine ganz konkrete in den bundesrepublikanischen Vollzugsanstalten. Wenn Herr Behrendt auch in dieser Hinsicht eine Protagonisten-Rolle einnehmen will, indem er die Koalitionsfreiheit hinter Gittern auch ganz offiziell anerkennt, dann sind wir sicherlich die Allerersten, die das mit ihm umsetzen werden.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur Berlin

Foto: Oliver Rast

Bildquelle: TP Presseagentur Berlin

Eine Antwort

  1. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Für mich ist das „Thema Heilmann“ noch nicht abgeschlossen, ich prüfe zur Zeit inwieweit gegen den ehemaligen Justizsenator Strafanträge wegen Verletzung der Aufsichtspflicht gestellt werden können. Solchen Möchtegernpolitikern wie Heilmann muss einmal klar gemacht werden, dass auch sie gewissen Regeln unterstehen, die das Grundgesetz vorschreibt; leider hat sie vor Konsequenzen die Politische Immunität geschützt, nur die endet irgendwann und dann müssen sie sich für ihr Handeln oder halt nicht-Handeln verantworten, schließlich hatte er die Aufsichtspflicht z.B. den Justizvollzugsanstalten gegenüber.

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