„Vertrauen wir uns selbst! Tun wir, was getan werden muss!“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Matinee zum 9. November am 9. November 2025 in Schloss Bellevue.

(Redemanuskript: Es gilt das gesprochene Wort).

Wenn wir heute zusammenkommen, um an den 9. November zu erinnern, dann haben wir gemischte Gefühle. Wir müssen sie haben. Der 9. November – 1918, 1938, 1989 – er markiert fast ein ganzes Jahrhundert unserer Geschichte, und er ist ein zutiefst ambivalentes Datum. Eines, das uns mit seinen Widersprüchen herausfordert. Eines, das sich jeder Vereinfachung widersetzt. Der 9. November steht für Licht und Schatten, für die tiefsten Abgründe und die glücklichsten Stunden unserer Geschichte. Deshalb berührt dieser Tag unser Selbstverständnis als Deutsche. Ich meine: Es geht am 9. November um den Kern unserer Identität.

Dass wir dieses Tages auf besondere Weise erinnern, ist mir deshalb schon seit einigen Jahren ein großes Anliegen, und ich freue mich, Sie zu unserer diesjährigen Veranstaltung hier im Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen! Herzlich willkommen!

Wir haben gerade eindrückliche Zeugnisse gehört, literarische, Briefe, Tagebücher aus allen drei Epochen, die uns die jeweilige Zeit noch einmal nahebringen, und die zugleich heute von neuer Aktualität sind .

Wir haben gehört, wie Harry Graf Kessler als aufmerksamer Chronist in Berlin die sich überstürzenden Ereignisse in den Tagen um den 9. November 1918 erlebt hat – den Tagen, als der Erste Weltkrieg zu Ende ging, der Kaiser abdankte, eine Revolution begann und schließlich die Demokratie siegte, der Geist von 1848 sich den Weg gebahnt hatte.

Wir haben auch gehört, wie verzweifelt Nelly Sachs und Paul Celan waren angesichts der rohen, entfesselten Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in den Pogromen des 9. November 1938. Jener Nacht, in der die Katastrophe der Ermordung der europäischen Juden bereits ihre scharfen Schatten vorauswarf. „Im offenen Grab verwesen ohne Tod“, so beschrieb Nelly Sachs das Gefühl der Bedrohung als Jüdin in Deutschland.

Und wir haben Gedichte gehört von Elke Erb, Barbara Köhler, Nadja Küchenmeister. Gedichte aus der und über die Zeit des 9. November 1989: vom neuen Denken und vom Licht, von den Demonstrationen und vom Mut der Menschen; davon, welche Freude und welche Hoffnungen mit dem Fall der Mauer verbunden waren, aber auch welche Befürchtungen, und welche Enttäuschungen ihm folgten.

All diese Zeugnisse zeigen uns: Der 9. November macht es uns wahrlich nicht leicht. Aber gerade deshalb erzählt er uns viel über uns und unser Land. Hören wir hin!

Betrachten wir diesen Jahrestag des 9. November doch einmal als Seismographen. Was erzählt er uns darüber, was uns verbindet und was uns auseinandertreibt, wie wir zusammenleben und was uns wichtig ist? Welche Erschütterungen und Friktionen, welche Ausschläge und Risse in unserer Gesellschaft zeichnet er auf?

107 Jahre nach dem 9. November 1918, der Ausrufung der ersten deutschen Republik, steht unsere liberale Demokratie unter Druck. Populisten und Extremisten verhöhnen die demokratischen Institutionen, vergiften unsere Debatten und betreiben das Geschäft mit der Angst. Das Tabu, sich offen zu solcher Radikalität zu bekennen, gilt für viele Menschen nicht mehr. Das Drehbuch der Antidemokraten, so scheint es uns manchmal, geht mühelos auf. Und was haben wir dem entgegenzusetzen?

87 Jahre nach den Pogromen des 9. November 1938, dem Abgrund in der deutschen Geschichte, ist der Antisemitismus nicht zurück, denn er war immer da. Aber sprunghaft angestiegen ist er seit dem 7. Oktober 2023 auch bei uns in Deutschland. Er kommt von rechts, von links und aus der Mitte, es gibt ihn unter muslimischen Einwanderern. Juden haben Angst, sich offen zu zeigen; jüdische Eltern bringen ihre Kinder mit mulmigem Gefühl zur Schule; jüdische Studierende werden angefeindet; Männer mit Kippa werden am helllichten Tag gewaltsam angegriffen. Ausgerechnet wir, die Nachfahren derer, die am 9. November 1938 Täter waren oder Gaffer, unfähig zur Solidarität mit den jüdischen Nachbarn, oder die weggeschaut haben. Ausgerechnet wir schaffen es nicht, diesem Antisemitismus Einhalt zu gebieten.

Und 36 Jahre nach dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls? Da spüren wir, wie die Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen wieder wächst und die Erinnerung an die Kraft der Friedlichen Revolution verblasst. Es fällt uns nicht leicht, dauerhaft Stärke und Ermutigung aus diesen glücklichen Stunden zu ziehen. Dabei lehrt uns dieser 9. November doch vor allem das: Dass wir unser Schicksal in den eigenen Händen halten, wenn wir Angst in Zuversicht verwandeln, wenn sich genug Menschen zusammentun, und dass wir die Dinge gemeinsam zum Besseren wenden können.

Wenn wir auf unser Land blicken, reiben wir uns die Augen: Sind wir nicht ein starkes Land, eine gefestigte Demokratie, ein stabiler Rechtsstaat, ein wohlhabendes Land mit einer leistungsfähigen Wirtschaft? Natürlich sind wir das. Aber da ist zugleich eine große Unruhe in einer Gesellschaft, die tief verunsichert wirkt. Immer häufiger höre ich besorgte Gespräche: „Wie wird es hier für uns weitergehen“ – wenn extreme Parteien stärker werden, wenn Menschen mit Einwanderungsgeschichte, wenn Jüdinnen und Juden nicht mehr sicher sind? Ist es denn möglich, dass wir nicht aus der Geschichte gelernt haben?

Wer mich ein wenig kennt, der weiß, dass ich nichts von Alarmismus halte und auch nichts von schrillen Untergangsszenarien. Aber ich glaube doch, dass es an der Zeit ist, dass wir den Gefahren illusionslos ins Auge sehen. Wir dürfen nicht gleichsam hineinrutschen erst in eine neue Faszination des Autoritären und dann in neue Unfreiheit, und hinterher sagen alle: „Das haben wir nicht gewollt. Das haben wir nicht gewusst.“ Gerade heute, am 9. November, sage ich deshalb ganz klar: Wir können wissen. Und: Wir wissen doch!

Die übergroße Mehrheit der Menschen in unserem Land will in Demokratie und Freiheit leben. Wir können auf unsere jahrzehntelange demokratische Erfahrung bauen, auf den Erfolg unseres Landes und auf die vielen Menschen, die dafür einstehen. Aber wahr ist auch: Nie in der Geschichte unseres wiedervereinten Landes waren Demokratie und Freiheit so angegriffen. Bedroht durch einen russischen Aggressor, der unsere Friedensordnung zertrümmert hat, und gegen den wir uns schützen müssen. Und aktuell bedroht durch rechtsextreme Kräfte, die unsere Demokratie angreifen und an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen. Einfach abzuwarten, dass der Sturm vorbeizieht und solange in sichere Deckung zu gehen, das reicht nicht. Zeit zu verlieren haben wir nicht. Wir müssen handeln. Wir können handeln! Unsere Demokratie ist nicht dazu verurteilt, sich auszuliefern! Die Demokratie kann sich wehren!

Dass wir wehrhaft sind, dafür haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes vorgesorgt. Sie alle hatten erlebt, wie die Weimarer Demokratie von ihren inneren Feinden zerstört wurde – eine Demokratie zerstört mit den Mitteln der Demokratie. Sie hatten bitter die Wehrlosigkeit des Staates und seiner Institutionen erfahren. Das sollte nicht noch einmal möglich sein, und deshalb sind im Grundgesetz wie im Strafrecht Instrumente festgeschrieben, um unsere Freiheit zu schützen vor denen, die sie angreifen. Wir haben diese Instrumente in der Hand!

Volksverhetzung, die Verbreitung von Inhalten, die zum Hass gegen Minderheiten aufstacheln, die Verbreitung von NS-Parolen oder die öffentliche Verharmlosung der Shoah; Aufrufe zur Gewalt und Anwendung von Gewalt, gewaltsame Versuche, die verfassungsmäßige Ordnung zu zerstören – ob rechts, ob links, ob islamistisch: Wer immer solche Angriffe verübt, macht sich strafbar, und wo immer sie begangen werden, darf der Rechtsstaat nicht zurückweichen. Und dafür braucht es die nötigen Ressourcen und die nötige Wachsamkeit.

Der Rechtsstaat ist entscheidend für die Verteidigung der Demokratie. Es ist kein Zufall, dass Angriffe auf die Demokratie oft mit Angriffen auf die Justiz beginnen. Dafür reicht ein Blick in einige unserer Nachbarländer. Deshalb ist es wichtig, dass wir geeint und entschieden eingreifen, sobald die Unabhängigkeit, die Legitimität der Justiz in Frage gestellt wird. Ich bin dankbar, dass eine breite Mehrheit im Bundestag die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz gestärkt hat. Das zeigt: Wir können handeln, wenn wir wollen.

Wehrhaft zu sein, das heißt: Kommunalverwaltungen, die Polizei, die Bundeswehr, Lehrerinnen und Lehrer an Schulen, Hochschullehrer – sie alle müssen für unsere Werte einstehen, unmissverständlich, Tag für Tag. Natürlich müssen die Beamtinnen und Beamten in der Ausübung ihres Amtes neutral sein im parteipolitischen Sinn. Sie dürfen aber nicht neutral sein, wenn es um den Wertekanon unseres Grundgesetzes geht. Sie müssen sich zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und für sie eintreten.

1949 haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht vorstellen wollen, dass erneut erklärte Gegner der Demokratie in Schaltstellen der Politik und des öffentlichen Dienstes eindringen könnten. Das gilt es zu verhindern, insbesondere da, wo diejenigen Dienst leisten, die unsere demokratische Ordnung im Inneren und nach außen schützen – und die dafür Waffen tragen, also Polizei und Bundeswehr.

Wer sich gegen den freiheitlichen Kern unserer Verfassung stellt, der kann nicht Richterin, Lehrer oder Soldat sein. Verfassungsfeinde können auch von der Wahl zur Landrätin oder zum Bürgermeister ausgeschlossen werden. So ein Ausschluss ist nicht per se undemokratisch. Im Gegenteil: Er ist Ausdruck der wehrhaften Demokratie!

Genauso verhält es sich, im Prinzip, mit dem Instrument des Parteienverbots. Zu seinem eigenen Schutz enthält unser Grundgesetz die Möglichkeit, Vereine und Gruppen zu verbieten, Parteien von der staatlichen Finanzierung auszuschließen und sie sogar gänzlich zu verbieten, wenn sie sich aggressiv-kämpferisch gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Die rechtlichen Hürden für ein solches Verbot liegen hoch, die Verfahren sind lang. Die Entscheidung trifft das oberste Gericht.

Dieser Tage schreien Gruppen vom rechten Rand bei diesem Thema reflexhaft auf: „Das ist undemokratisch!“ Da kann ich nur sagen: Sie haben es doch selbst in der Hand!

Greifen sie unsere Verfassung an, stellen sie sich gegen sie, wollen sie ein anderes, nicht-freiheitliches System? Da ist die Antwort unserer Verfassung klar: Eine Partei, die den Weg in die aggressive Verfassungsfeindschaft beschreitet, muss immer mit der Möglichkeit des Verbots rechnen.

Entweder das – oder achten und respektieren sie, bei aller scharfen politischen Auseinandersetzung, die Institutionen der Demokratie, die Würde und die Rechte eines jeden Menschen; die politische Freiheit und die Integrität und Geltung demokratischer Wahlen; die Bindung und Geltung des Gesetzes und die richterliche Unabhängigkeit? Das sind die Regeln, die für alle gelten, die sich in Deutschland um politische Macht bewerben.

Ein Parteienverbot ist die Ultima Ratio der wehrhaften Demokratie. Doch ich warne davor zu glauben, es sei die alles entscheidende Frage. Wann – und ob – dieses Mittel angemessen ist, ob es irgendwann sogar unausweichlich ist, diese politische Debatte muss geführt werden, und sie wird geführt. Ob die Voraussetzungen vorliegen, das muss geprüft und abgewogen werden.

Auf keinen Fall dürfen wir tatenlos sein, bis diese Fragen geklärt sind. Entscheidend ist doch: Wie gehen die Kräfte der politischen Mitte jetzt mit Demokratieverächtern und Extremisten um? Wie überzeugend ist die eigene politische Erzählung der Mitte? Wie fest stehen die demokratischen Parteien?

Unsere historische Erfahrung lehrt uns: Der waghalsige Versuch, Antidemokraten zu zähmen, indem man ihnen Macht gewährt, ist nicht nur in Weimar gescheitert. „Extremismus triumphiert niemals von allein“, warnt der amerikanische Wissenschaftler Daniel Ziblatt. „Er hat Erfolg“, sagt er, „weil andere ihn ermöglichen.“ Das ist die bleibende Lehre aus der Weimarer Republik.

Und das können wir mitnehmen in die heutige Zeit. Mit Extremisten darf es keine politische Zusammenarbeit geben. Nicht in der Regierung, nicht in den Parlamenten. Wenn dadurch ein Teil des demokratisch gewählten Parlaments von der Gestaltung ausgeschlossen wird, so ist dieser Ausschluss doch selbst gewählt. Und jeder hat, wenn er die Regeln akzeptiert, die Möglichkeit, auf das demokratische Spielfeld zurückzukehren, dort aktiv zu werden und wirksam zu sein. Den Erfolg des Extremismus zu verhindern, statt ihn zu ermöglichen. Darum geht es jetzt.

Ja, und da sind Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Brandmauern ein Signal. Sie sind aber keine Versicherung. Auch Brandmauern sind porös, wenn nicht auch Distanz zur Sprache, zu den Ressentiments, zu den Feindbildern der Rechtsextremen gewahrt wird. Wir sehen vielerorts in Europa, wie rechtsextreme Parteien harte Systemgegnerschaft verbinden mit Selbstverharmlosung; wie sie sich in Deutschland der Mitte anbieten als Partner, der doch aus derselben bürgerlichen Wurzel stamme. Auf diese Behauptung sollte niemand hereinfallen.

Bürgerliche Politik ist etwas grundsätzlich anderes als Extremismus. Sie ist keinem Lager verhaftet, sondern beschreibt die gemeinsame Haltung aller Demokraten: Freiheit, Verantwortung, Gemeinschaftssinn, Vernunft und Augenmaß.

Extremisten tragen Feindschaft in das soziale Leben und zerstören das Vertrauen in der Gesellschaft und in die Institutionen – bürgerliche Politik baut Vertrauen auf und stiftet Zusammenhalt. Extremisten setzen auf Spaltung – bürgerliche Politik arbeitet an demokratischen Bündnissen. Extremisten weichen aus, wenn es um machbare Lösungen geht – bürgerliche Politik ist darauf gerichtet, das Leben der Menschen zu verbessern. Extremisten hetzen gegen Europa – bürgerliche Politik hält Europa zusammen. Rechtsextremisten hängen einer völkisch-autoritären, im Kern menschenfeindlichen Ideologie an – bürgerliche Politik achtet das Individuum, seine Würde und Freiheit. Extremistisch und bürgerlich: Das geht nicht zusammen, das sind elementare Gegensätze.

Diese innere Klarheit sollte alle demokratischen Parteien leiten. Ja, ich weiß, die Hauptlast dieser Abgrenzung, die tragen die politischen Kräfte Mitte-rechts. Und diese Last ist schwer. Aber Sie tragen die Verantwortung nicht allein. Explizit an die politischen Kräfte Mitte-links gewandt, füge ich deshalb hinzu: Auch Sie tragen Verantwortung. Ich nenne es die Verantwortung des richtigen Maßes. Es ist wenig hilfreich, jede unliebsame Äußerung pauschal als „rechtsextrem“ zu diskreditieren. Jeden Anlass zu nutzen, ihnen doch ein gemeinsames Lager mit Rechtsextremen zu unterstellen, ist nicht nur unklug; damit rütteln Sie auf andere Weise – auch selbst an der Brandmauer. Es ist gefährlich, wenn Themen wie Migration und Sicherheit nicht besprochen werden können, weil sofort der Rassismusvorwurf im Raum steht. Das hieße, dem rechten Rand die Hegemonie über Themen zu überlassen, die die Gesellschaft beschäftigen und verunsichern. Das darf nicht geschehen!

Setzen wir der Demokratieverachtung unser Selbstverständnis entgegen. Wir lassen nichts liegen. Wir verschweigen nicht, wo gehandelt werden muss. Tatsächliche Probleme gehen wir an! An der Sache orientiert, um gute Lösungen bemüht, mit Vernunft, Anstand und Empathie – und in der Zuversicht, dass wir die Dinge zum Besseren wenden können.

Damit das gelingt, braucht es Handlungsfähigkeit im Parlament! Das Parlament ist das Herz unserer Demokratie. Weimar ist gescheitert, als der Reichstag keine verlässlichen Mehrheiten mehr zustande brachte. Auch unser Parlament braucht stabile Mehrheiten, und es muss arbeitsfähig sein. Das ist die Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten, aber auch der Wählerinnen und Wähler.

Aber dafür braucht es auch einen freien, öffentlichen Raum, in dem Argumente ausgetauscht und Menschen gehört werden, der Kompromiss eine Chance hat. Gewalt und Einschüchterungen haben dort keinen Platz. Wahlkämpfer, die auf Marktplätzen Angst haben; Demokratie-Initiativen, die ihre Adressen verbergen müssen; Ehrenamtler, Flüchtlingshelfer, die bespuckt werden – all das ist Gift für unsere Demokratie. Politische Gewalt, egal in welcher Form, müssen wir nicht nur hart verfolgen, wir müssen sie alle gemeinsam ächten.

Der öffentliche Raum, das sind heute immer stärker auch das Internet und die sozialen Medien. Die Lügen, die Demagogie, die Hetze, der Hohn und der Hass, die dort millionenfach und in Bruchteilen von Sekunden verbreitet werden, sie sind zu einer Gefahr für die Demokratie geworden. Wir wissen doch längst, dass die Algorithmen Empörung, Polemik und Krawall befördern, dass sie Angst und Wut schüren. Sie beschädigen das Vertrauen in rationale Argumente und demokratische Politik, sie radikalisieren die Menschen, nähren den Extremismus und verführen zur Gewalt. Wir haben es immer wieder gesehen.

Worauf warten wir also noch? Es ist höchste Zeit, dieser Gefahr wirksam zu begegnen. Alle wissen das. Deshalb darf die Debatte zum Schutz Jugendlicher vor Social Media nicht zu lange dauern oder gar im Sande verlaufen. Und: Wir brauchen wirksame Regeln und intelligente Tools, die uns zusammenbringen, statt uns auseinanderzutreiben, die das Beste aus den Menschen herausholen und nicht das Schlechteste. Die Zukunft unserer Demokratie, da bin ich sicher, wird sich im Netz entscheiden. Behaupten wir unseren Anspruch, demokratische Regeln im Internet durchzusetzen, dann wird sich auch die Demokratie behaupten!

Liebe Gäste, die Selbstbehauptung der Demokratie: Das ist die Aufgabe unserer Zeit. Es ist eine große Aufgabe. Die kann uns nur gemeinsam gelingen.

Ja, es gibt viele, die schweigen und abwarten. Ihnen möchte ich sagen: Mischen Sie sich ein! Was wir jetzt brauchen, sind aktive Demokratinnen und Demokraten, die den Mund aufmachen, im Parlament, beim Fußball, am Stammtisch, in der Schule, an der Bushaltestelle und am Arbeitsplatz.

Ja, es gibt die, die sich ohnmächtig und hilflos fühlen. Ihnen möchte ich sagen: Wir haben schon so viele Krisen überwunden. Wir haben Mauern niedergerissen. Wir haben Dinge erreicht, die unerreichbar schienen. Und wir haben es auch diesmal in der Hand.

Es gibt die, die unzufrieden sind, die hadern mit der Politik. Ihnen möchte ich sagen: Kritik ist in der Demokratie nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Wir brauchen sie, um besser zu werden. Wer aber in den Extremismus flüchtet, verliert jede Möglichkeit zur Mitgestaltung. Verlieren Sie nicht die Geduld mit der Demokratie!

Und zum Glück gibt es auch ganz viele, die sich einsetzen. Menschen, die an mehr denken als nur an sich selbst, Menschen, die sich engagieren: in der Kommunalpolitik, in Sportverbänden, in Vereinen, in Initiativen. Sie sind Ältere und Junge, Frauen und Männer, sie kommen aus Familien, die  schon seit Generationen bei uns leben und aus solchen, die neu dazugekommen sind. Ihnen sage ich: Danke, denn Sie machen uns allen Hoffnung. Sie sind es, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Wir brauchen Sie gerade jetzt!

Meine Damen und Herren, der Seismograph des 9. November zeigt uns die Erschütterungen, die Risse in unserer Gesellschaft. Er zeigt uns die Gefährdung unserer Demokratie. Aber ich meine, wenn wir ihn richtig lesen, dann lässt er uns auch erkennen, was zu tun ist.

Wir wissen, wo es hinführt, wenn Menschen als vermeintlich Andere ausgegrenzt, verfolgt, gequält werden, wenn ihnen am Ende sogar jede Menschlichkeit abgesprochen wird. Das ist die Mahnung des 9. November 1938. Es ist die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte. Es ist die erschütternde, verstörende Einsicht, dass Deutsche des Menschheitsverbrechens der Shoah fähig waren, die Vernichtung der europäischen Juden erdacht, geplant und systematisch durchgeführt haben. Die Verantwortung, die uns daraus erwachsen ist, das ist die Verantwortung des „Nie wieder!“ Und die bedeutet: Wir müssen Antisemitismus bekämpfen, egal, aus welcher Richtung er kommt.

Der 9. November 1918 wird uns immer daran erinnern, wie kostbar Frieden und Demokratie sind und dass sie, einmal schwer errungen, nie für alle Zeit garantiert sind. Und schließlich der 9. November 1989. Wie stark können wir sein, wenn die Angst die Seiten wechselt, wenn wir gemeinsam für eine Sache kämpfen. Ich glaube, wir würden gut daran tun, gerade dies viel stärker in unserer gesamtdeutschen Erinnerung zu würdigen. Schreiben wir diese Geschichte in die Zukunft fort: die Geschichte von Mut, von Stärke, von Gemeinschaft.

Die Rechtsextremen locken mit dem süßen Gift der Wut, „die da oben“ sind der vermeintliche Gegner. Sie locken mit dem Versprechen autoritärer Führung und damit, dass endlich Schluss ist mit ewigem Streit. Sie locken mit einem Nationalismus, der auftrumpft: Endlich soll Deutschland wieder groß sein.

Wir haben dem so viel entgegenzusetzen. Wir haben das Recht. Die Freiheit. Die Menschlichkeit. Das Wissen, wohin der Hass führt. Den Stolz auf unser Land und all seine Menschen. Wir sind verschieden, leben auf dem Dorf oder in der Stadt, in Ost oder West, sind eingewandert oder hier geboren, aber gehören zusammen in dieses, in unser Land. Unser Patriotismus ist, ja, ein Patriotismus der leisen Töne. Er muss es sein, denn die Verantwortung für unsere Geschichte vergeht nicht.

All das verbindet uns und gibt uns Zuversicht. Selbstbewusstsein und Zuversicht: Nichts brauchen wir dringender als das! Denn aus dem Dauerwettbewerb der Untergangsszenarien erwächst keine Kraft. Mein Wunsch an diesem 9. November ist aus tiefstem Herzen: Stehen wir zusammen – für die Selbstbehauptung von Demokratie und Menschlichkeit! Geben wir nicht preis, was uns ausmacht.

Vertrauen wir uns selbst! Tun wir, was getan werden muss!

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