Teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerde afghanischer Staatsangehöriger.

BVerfG-Beschluss vom 4. Dezember 2025 – 2 BvR 1511/25.

Mit Beschluss vom heutigen Tage hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines afghanischen Richters und seiner Familie teilweise stattgegeben und der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben, die Visaanträge der Beschwerdeführenden umgehend zu bescheiden.

Die Beschwerdeführenden haben durch eine einstweilige Anordnung zu sichernde Bescheidungsansprüche, denen im Hinblick auf die individuelle Dringlichkeit keine zureichenden Gründe für die Verzögerung der Visaverfahren entgegenstehen.

Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hatte im Jahr 2022 die Aufnahme der Beschwerdeführenden – wenn auch derzeit ausgesetzt – nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in das Programm „Überbrückungsliste“ erklärt. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren teilte das Auswärtige Amt im Juli 2025 mit, dass keine Sicherheitsbedenken bestünden und eine Aufhebung der Aufnahmeerklärung nicht beabsichtigt sei. Das Oberverwaltungsgericht hätte deshalb prüfen müssen, ob die Beschwerdeführenden einen Anordnungsanspruch auf Bescheidung ihrer Visaanträge glaubhaft gemacht haben. Indem es darüber nicht entschieden hat, hat es das Grundrecht der Beschwerdeführenden aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (effektiver Rechtsschutz) verletzt.

Die Kammer hat die Sache nicht an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen, sondern die Bundesrepublik Deutschland zur Bescheidung verpflichtet. Angesichts der besonderen Dringlichkeit für die Beschwerdeführenden würde es der Besonderheit des Falles nicht entsprechen, das einstweilige Rechtsschutzverfahren zu erneuter Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beschluss wird gesondert auf der Website des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht werden.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführenden sind afghanische Staatsangehörige, ein vor der Machtübernahme durch die Taliban am Supreme Court tätiger Richter sowie seine Ehefrau und die vier gemeinsamen Kinder.

Im Dezember 2022 nahm das BMI die Beschwerdeführenden in das Programm „Überbrückungsliste“ auf, welches die Erklärung von Aufnahmen nach § 22 Satz 2 AufenthG aus politischen Gründen umfasste. Das Programm diente der Überbrückung des Zeitraums bis zum Beginn des Bundesaufnahmeprogramms, das die damals neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag im Dezember 2021 beschlossen hatte. Die Beschwerdeführenden beantragten bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Islamabad (Pakistan) die Erteilung von Visa. Über diese Visaanträge ist bislang nicht entschieden worden. Im Mai 2025 setzte die Bundesrepublik Deutschland die Aufnahmeprogramme betreffend Afghanistan bis zu einer politischen Entscheidung der Bundesregierung über deren weitere Umsetzung aus.

Nachdem das Verwaltungsgericht dem Eilantrag der Beschwerdeführenden auf Visaerteilung stattgegeben hatte, lehnte das Oberverwaltungsgericht mit hier angefochtenem Beschluss den Antrag auf Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Erteilung der Visa ab. Aus der nach § 22 Satz 2 AufenthG erklärten Aufnahmebereitschaft folge kein Visumanspruch. Es sei noch nicht absehbar, ob die Aufnahmeerklärung aufrechterhalten bleibe.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführenden unter anderem eine Verletzung ihres Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz geltend.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit das Oberverwaltungsgericht nicht über die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Bescheidung der Visaanträge entschieden hat. Die Beschwerdeführenden haben durch eine einstweilige Anordnung zu sichernde Bescheidungsansprüche.

1. Die Beschwerdeführenden haben Visaanträge gestellt, über die durch die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zu entscheiden ist. An die Stelle der grundsätzlich benötigten Zustimmung der Ausländerbehörde tritt bei Visa nach § 22 Satz 2 AufenthG funktional die Aufnahmeerklärung des BMI: Hiernach ist eine Aufenthaltserlaubnis bzw. das Visum zu erteilen, wenn das BMI oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat. Die im vorliegenden Fall „ausgesetzte“ und damit offene Entscheidung über den Fortbestand des politischen Interesses gemäß § 22 Satz 2 AufenthG hat zwar für sich genommen nach der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts keinen subjektiv-rechtlichen Gehalt. Die Aufnahmeerklärung ist aber vom Visumverfahren zu unterscheiden. Hinsichtlich des Visumverfahrens haben die Beschwerdeführenden schon einfachrechtlich einen Anspruch auf Bescheidung ihrer Visaanträge.

2. Einem Bescheidungsanspruch der Beschwerdeführenden stehen keine zureichenden Gründe für die Verzögerung des Visumverfahrens entgegen.

Mit Blick auf den zeitlichen Ablauf der Visaverfahren ist zu gewärtigen, dass nur offen ist, ob das politische Interesse an der Aufnahme der Beschwerdeführenden weiterhin bejaht oder verneint wird. Die Ausübung der exekutiven Entscheidungsbefugnis gemäß § 22 Satz 2 AufenthG mag nach einem Regierungswechsel eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Eine allgemeine „Aussetzung“ eines Aufnahmeprogramms verliert als hinreichender Grund für die Verzögerung individueller Verfahren aber mit zunehmender Dringlichkeit der Bescheidung für die betroffenen Rechtsschutzsuchenden an Gewicht.

Hinsichtlich der individuellen Dringlichkeit einer Bescheidung für die Beschwerdeführenden ist insbesondere die zunehmende Gefahr der Abschiebung aus Pakistan mit der etwaigen Folge erhöhter Zugriffsmöglichkeiten der Taliban zu berücksichtigen. Nach der „Gemeinsamen Absichtserklärung“ vom September 2025 haben die pakistanische und die deutsche Seite festgehalten, dass alle Vorgänge der im Ausreiseverfahren befindlichen Personen bis 31. Dezember 2025 abgeschlossen sein müssen. Es bestehen daher Anhaltspunkte für eine ab dem Ablauf dieser Frist gesteigerte Gefahr der Abschiebung der Beschwerdeführenden von Pakistan nach Afghanistan. Die Beschwerdeführenden haben vor diesem Hintergrund ein dringendes Interesse, Gewissheit über den Ausgang der Visaverfahren zu erlangen.

II. Im Übrigen – das heißt soweit das Oberverwaltungsgericht einen Anordnungsanspruch auf Erteilung der Visa verneint hat – wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Insoweit genügt sie nicht den Darlegungsanforderungen und ist unzulässig.

Quelle: BVerfG-Pressemitteilung Nr. 110/2025 vom 4. Dezember 2025

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