Salzgitter wirkte „schießhemmend“.

TP-Interview mit Friedrich Schorlemmer.

TP: Herr Schorlemmer, was tun mit denen, die verdächtigt werden, in der DDR gegen das Recht verstoßen haben?

Schorlemmer: Sie haben „die Internationale“ gesungen und gegen das Menschenrecht verstoßen… sie vor eine westdeutsche Justiz stellen….
Zunächst einmal müßten die Herren, die vor Gericht stehen – es sind ja im wesentlichen Herren -, sich selber fragen, was sie mit einer Idee gemacht haben, die zu den großen Ideen der Menschheitsgeschichte gehört, nämlich: Die Gleichheit aller Menschen in eine soziale Gerechtigkeit umzugießen und gleichzeitig durch Bildung die Menschen zu befähigen, mündige Staatsbürger bei der Gestaltung ihres Gemeinwesens zu sein, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, und nicht mehr ein Wolf oder Konkurrent. Das ist kaputtgegangen, weil die hehren Ziele mit verwerflichen Mitteln – nicht nur, aber auch – mit verbrecherischen Mitteln – verwirklicht werden sollten.
Das zweite ist, daß dieser Staat bzw. die sozialistischen Staaten, und darunter auch die DDR, sich um ihres Machterhaltes willen Gesetze gegeben haben, die sich im Effekt gegen die eigenen Bürger gerichtet haben, so daß Menschen, die befreit werden sollten, einfach eingesperrt wurden, und zwar sowohl in ihrem Denken als auch in einem mauer- und minenumgrenzten Territorium. Dazu kam Zwang zu normgerechtem Verhalten, zu „sozialistischem Bewußtsein“. Linientreue gesellschaftliche Mitarbeit wurde honoriert und – wo man abwich – bestraft. Das sind Vorgänge, die politisch und moralisch so ehrlich wie möglich zu analysieren und zu bewerten sind.
Was strafrechtliche Prozesse betrifft, so meine ich nicht, daß es die „westdeutsche“ Justiz ist, sondern die Justiz des Vereinten Deutschland, die jetzt das untersucht, was man Regierungskriminalität nennt, also zu klären hat, wer in welcher Weise persönlich für Straftaten verantwortlich ist, wo elementare Menschenrechte verletzt wurden. Und wir sind in einem schwierigen Problem: Läßt sich strukturelle oder politische Verantwortung anklagen oder läßt sich nur die konkrete Schuld anklagen? Darf man Gesetze anwenden, die in der Zeit, in der sie gehandelt haben, in ihrem Staatswesen nicht galten? Hier gilt das Rückwirkungsverbot.

Dieses Prinzip ist, und mit guten Gründen, 1945 durchbrochen worden. Das hat übrigens tiefe philosophische und theologische Hintergründe, daß es nämlich ein natürliches Recht des Menschen auf Leben gibt und daß es so etwas gibt wie Menschenrechte, die universal, also immer, überall und für alle gelten. Nach diesen universellen Gesetzen sind dann – das ist ein Durchbruch in der Rechtsgeschichte – die Nazigrößen bei den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt und verurteilt worden.
Heute muß man prüfen, ob und in welcher Weise ähnliches für die gilt, die verantwortlich sind für die Flüchtlinge, die an der Staatsgrenze der DDR ums Leben gekommen sind. Sie sind nach meiner Ansicht nach für viel mehr verantwortlich, für etwas, was sich strafrechtlich jedenfalls kaum erreichen läßt, wenn der Rechtsstaat weiterhin seine eigenen Prinzipien aufrechterhält. Sie sind verantwortlich zu machen für ein System, das sich als Ausdruck des Fortschritts der Menschheit verstand und nun ökonomisch, politisch und moralisch gescheitert ist. Das sagt noch nichts über das verbliebene Gesellschaftssystem aus; es sagt erst einmal etwas über das Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs aus, der in sich nicht verwerflich ist, aber sich ein falsches Ziel setzte, nämlich ein unerreichbares.

TP: Die Angeklagten im Politbüro gehen für sich davon aus, daß alle Gesetze in der DDR durch die Volkskammer beschlossen wurden, nach denen sich alle zu richten hatten. Auch sie selbst hätten stets nur nach diesen Gesetzen gehandelt.

Schorlemmer: Das geht von der irrigen Vorstellung aus, als wenn die DDR in dem Sinne ein Rechtsstaat gewesen wäre, daß es eine gegenseitig begrenzte und kontrollierte Gewaltenteilung gegeben hätte. Das Politbüro war das höchste Machtorgan, das durch die Partei legitimiert war. Die Partei ließ in sich keine Opposition zu – noch nicht einmal im Politbüro, also lief alles auf den 1. Sekretär zu. Nirgendwann hat sich eine kollektive Führung, z.B. eine Troika längere Zeit gehalten.
Das Sowjetsystem war ganz und gar autoritär, alles konzentrierte sich auf eine Person. Von dieser Person ging dann die jeweilige Parteilinie aus, bis hin zu Gorbatschow. Das Politbüro entschied darüber, wann welches Gesetz gegen wen wie erlassen wurde. Vieles lief gänzlich gesetz-los. Bisweilen hat „der Staat“ seine eigenen Gesetze aus politischen Gründen nicht angewandt. Auch Gutwilligkeit ist in diesem Sinne Willkür! Das Strafgesetzbuch war ein einziger Horrorkatalog. Als ich das las, mußte ich mir sagen, daß man mich jeden Tag hätte für 3 mal 12 Jahre verknacken können Das haben sie nicht gemacht. Sie hätten es tun müssen, wenn die DDR ein Rechtsstaat gewesen wäre. Ich habe ständig, täglich gegen § 106 verstoßen…

TP: Was besagt § 106?

Schorlemmer: Es ging um die Diskriminierung des Staates…, ich hatte gegen 9 Paragraphen verstoßen, die so auf mich zutrafen…

TP: In Tateinheit?

Schorlemmer: Ja, in Tateinheit (lacht); und diese Paragraphen waren so allgemein abgefaßt, so formuliert, daß sie politisch weit auslegbar waren, wie der Volksmund sagt: Gummiparagraphen.
Die DDR war deshalb insgesamt kein Unrechtsstaat, aber so wie bei ihr das Recht zustande kam und wie mit Recht umgegangen wurde, entsprach es nicht den Kriterien eines Rechtsstaates. Dennoch gab es in einzelnen Lebensbereichen Entfaltungsmöglichkeiten, die es für Menschen in anderen Diktaturen nicht gab und gibt. Die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ ist für die DDR keine falsche, aber eine nicht zureichende Bezeichnung.
Auch das „Eigentum“ wurde als Politikum behandelt, aber im zivilrechtlichen Bereich, etwa im Arbeitsrecht, gab es rechtsstaatliche Verfahren.

TP: Unterstellen wir jetzt einmal, daß die westdeutsche oder, vielleicht treffender, die gesamtdeutsche Justiz befugt ist, über die genannten Herren zu Gericht zu sitzen. Macht es auf der anderen Seite nicht aber ein beklemmendes Gefühl, daß eine Justiz mit am Tische sitzt, deren Staat für Honecker ein Straffreiheitsgesetz erließ, so daß er 1987 sozusagen mit „weißer Fahne“ auf rotem Teppich einlaufen konnte?

Schorlemmer: Man hatte damals berechtigte Sorge, daß irgendein Staatsanwalt sich nicht an die politischen Gepflogenheiten oder „höheren“ Erfordernisse der Politik halten würde, sondern den Mauerarchitekten und Vorsitzenden des Verteidigungsrates der DDR dingfest machen würde: „Der ist verantwortlich für Mauer und Schießbefehl und muß vor Gericht.“ Die Bundesrepublik machte letztlich -trotz der staatlichen Anerkennung der DDR- einen Vorbehalt, daß die BRD zwar faktisch nicht mehr über das Territorium und die Staatsbürger der DDR verfügen kann, aber die Bürger der DDR ständig, sowie sie es wollten, ohne besondere Formalitäten, Deutsche sein konnten im vollen Sinne. Alleinvertretung wurde von der Bundesrepublik faktisch doch noch wahrgenommen als bundesdeutsches Staatsbürgerschaftsrecht für alle DDR-Bürger. Insofern hat der westdeutsche Staat seinen Anspruch auf die DDR ausgeweitet. Von da aus mag man ableiten, daß man rückblickend urteilt: Die DDR war zwar ein eigenes völkerrechtliches Subjekt, aber die Rechtshoheit galt nur eingeschränkt und Menschenrechtsverstöße müssen jetzt geahndet werden. Es ist wohl historisch einmalig, daß ein anderer Staat nach dem Zusammenbruch des Nachbarstaates mit juristischen Mitteln gegen die Verantwortlichen dieses Staates vorgeht. Im übrigen ist auch die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter einmalig. Wo gibt es das, daß ein Land eine Sammelstelle über die Unrechtstaten eines Nachbarlandes einrichtet.
Es kann indes sein, daß Salzgitter „schießhemmend“ gewirkt hat.

TP: Wenn die westdeutsche Justiz heute diese Prozesse führt in Anbetracht dessen, daß es ein Straffreiheitsgesetz 1987 für Honecker gegeben hat, er also seinerzeit ohne Befürchtung, von der westdeutschen Justiz verfolgt zu werden, in die Bundesrepublik einreisen durfte, und nun heute Prozesse gegen ehemalige DDR-Hoheitsträger geführt werden, ist es da verwunderlich, wenn Egon Krenz von „Siegerjustiz“ spricht?

Schorlemmer: Ich halte den Begriff „Siegerjustiz“ für völlig übertrieben, weil alle sich in einem rechtsstaatlichen Verfahren verteidigen können. Krenz kann sogar seine Verteidigungsrede veröffentlichen, kann eben das Recht jenes Gerichts in Zweifel ziehen und das öffentlich machen.
Sehr geehrter Herr Krenz, jeder politische Prozeß in der DDR wurde wie eine geheime Staatsaktion behandelt, da durften noch nicht einmal die Eltern dabei sein, geschweige denn andere Angehörige oder Freunde – außer zur Urteilsverkündung, also zur Strafmaßverkündung, nicht aber zur Urteilsbegründung. So durfte keiner etwas erfahren.
Ich wünschte mir von Herrn Krenz und den anderen Herren, daß sie öffentlich eingestehen, daß es elementare Verletzungen der Grundprinzipien der Zivilisation waren, wie man in politischen Prozessen mit Menschen umgegangen ist und welche Praktiken im Strafvollzug herrschten. Was war mit Matthias Domaschk… Wenn man darüber schweigt und jetzt über Siegerjustiz klagt, halte ich das für infam (Punkt 1).

Punkt 2: Wenn sich bestimmte Richter der Bundesrepublik nun damit hervortun, vor allen Dingen einige Staatsanwälte, sich über „unsere“ entmachteten Repräsentanten herzumachen und das aus der Position derer tun, die „historisch“ Recht hatten und nun Recht sprechen können, dann wirkt das in der Tat wie Umgang von Siegern mit Besiegten. Ich kann psychologisch verstehen, was da passiert. Politisch und moralisch halte ich den Begriff „Siegerjustiz“ jedoch für falsch, denn hier wird im Rechtsstaat um den Rechtsstaat gerungen und sie – die Angeklagten – haben das Recht, alle Mittel, die der Rechtsstaat ihnen bietet, einzusetzen. Lesen Sie bitte, meine Herren Obergenossen noch einmal das Strafgesetzbuch, für das Sie, die da im Politbüro saßen oder im Zentralkomitee waren, alle mit haften – also eine strukturelle Verantwortung für das haben, was da drin stand. Und dann kucken Sie sich das Strafmaß an, das schließlich für Sie gefunden wird. Also, Sie können schon ganz froh sein, daß sie nicht ein umgepoltes StGB der DDR trifft!!
Was ich persönlich denke, ist eine ganz andere Frage. Ich halte die ganze Art, nachträglich mit den Herren zu verfahren, für nicht angemessen, vieles, was da passiert, läuft als Posse ab. Es befriedigt nicht die Opfer, und es verbittert die Täter. Es ist nirgendwo erreichbar, daß man nach dem Gleichheitsgrundsatz verfährt, z.B. bei den Wahlfälschungen. Da müßte man noch Jahre und Jahrzehnte zurückgehen… Ist es politisch nicht durchsichtig, wenn Herr Modrow mehrmals angeklagt wird? Warum nicht Herr Böhme – das war „unser“ Parteichef hier im Bezirk Halle. Achim Böhme war ein Wort für Angst und Beton, Hans Modrow ein Wort für Reform und Öffnung. Strafrechtliche Zugänge allein verengen, verschieben und trüben den wahrhaftigen Rück-Blick.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1996

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