TP-Interview mit Friedrich Schorlemmer.
TP: Herr Schorlemmer, wie beurteilen Sie das Urteil gegen Egon Krenz u.a.?
Schorlemmer: Wenn Herr Krenz das als Siegerjustiz bezeichnet, dann weiß er nicht, was politisches Strafrecht in der DDR war. DDR-Justiz war „Siegerjustiz“, also Justiz von „Siegern der Geschichte“ über Menschen, die nicht anerkennen wollten, daß auch sie als Bürger der DDR zu den „Siegern der Geschichte“ gehören, die sich also in irgendeiner Weise von der Politik der Partei der Arbeiterklasse absetzten oder entgegenstellten. Wenn man aber im Urteil gegen Egon Krenz nicht mitberücksichtigt, daß er Repräsentant eines Staates war, der im Gefolge der Entspannungspolitik auch international anerkannt worden ist, dabei auch in Zwängen lebte, die mit der Spaltung der Welt in zwei Lager zu tun haben, dann wird man Herrn Krenz nicht gerecht. Wenn allerdings Herr Krenz nur auf diese Umstände abhebt und nicht auch von seiner persönlichen Verantwortung spricht, dann hat er sich selber ein Bein gestellt. Man muß über die Umstände reden, unter denen Handeln möglich oder unmöglich war, jedenfalls Eigenständiges sehr eingeschränkt war, neben Zwängen auch Irrtümer, falsche Überzeugungen, Dinge, die man nicht ändern konnte, über die man nicht mal etwas sagen durfte – Das ist das eine. Das zweite wäre, daß Egon Krenz dann hätte einwenden müssen: Könnt Ihr Euch eigentlich vorstellen, was für ein gerontogratisches Gebilde das Politbüro war? Wieviel Diskussionsraum oder gar offene Meinungsbildung mit Einspruch denn unter diesem starren Pyramidensystem überhaupt möglich war, wo das Ganze auf den Ersten hin orientiert war? Krenz hätte eigentlich einmal sagen können: Es war nicht nur jeder Tote zuviel, wie er gesagt hat, sondern es tut mir auch leid und ich weiß, daß ich dafür als Mitglied des Politbüros, speziell als Zuständiger für Sicherheit mitverantwortlich war. Also diese menschliche Note fehlt mir völlig, und dadurch desavouiert er die anderen Argumente, die ich verstehen kann. Denn wie kommt es denn, daß man mit einem ganz früher sehr scharfen russischen Gebietssekretär, wie Jelzin, in der Sauna sitzt und sich duzt, und sich andererseits nicht mehr traut, zum 3. Oktober 1997 Michail S. Gorbatschow nach Stuttgart einzuladen, bloß weil ein so hochgefährlicher wie alkoholkranker russischer Bär „njet“ signalisiert. In welche Zwänge begibt sich die Bundesrepublik, die vereinigte deutsche Republik, die es der Politik Gorbatschows und nicht Jelzins verdankt, daß wir in Einheit und Demokratie angekommen sind. Und wenn ich die zivilisatorische Grundeinstellung zwischen Herrn Jelzin und Herrn Gorbatschow vergleiche, dann kann ich nur sagen, Jelzin kommt eher aus den Urgründen der russischen Seele, Gorbatschow ist als Typ eher ein Westler. Es ist irgendwie tragisch, daß es ihm nicht mehr gelang – weil er zu spät kam – die Sowjetunion politisch und ökonomisch umzugestalten. Ich hätte von Herrn Krenz nun erwartet, daß er eingesehen hätte, daß dieses russisch dominierte „sozialistische“ Weltsystem, so wie es aufgebaut worden war, nicht lebensfähig war. D a n n darf man auch sagen, daß das, was man wollte, in sich selbst nichts Böses war, das eben Böses einschloß, um dem „ganz Guten“ zu dienen.
TP: Urteil gegen Krenz hin und her, war seine Verhaftung im Gerichtssaal unbedingt notwendig?
Schorlemmer: Also so etwas Affiges, ihn im Gerichtssaal zu verhaften! Wo wollte der hin, wo s o l l t e der hinfliehen? Also ich fand das affig, na das war eine Szene, die der Bild-Zeitung gut tut. Aber andererseits: Ein Loblied dem Rechtsstaat, daß der Verurteilte nun erstmal an die Ostsee fahren kann um seine Datsche zu reparieren. (Welcher politisch Verfolgte in der DDR hätte das gekonnt?!) Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Er ist auf freiem Fuß und darf das machen. Aber jene Show-Verhaftung fand ich beschämend für den Rechtsstaat. Das war völlig unnötig, aber gut für manche „kochende Volksseele“. Ich kann glücklicherweise in diesem Land offen meine Meinung sagen: Ich halte das für lächerlich, für kindisch. Aber der Rechtsstaat ist eben auch zu manchen Kapriolen fähig. Aber im Prinzip ist er ein so hohes und schützenswertes Gut, daß ich sage: Ich bin froh, daß Egon Krenz nicht einer Siegerjustiz, auch nicht der politischen Justiz unterworfen wurde, sondern einer Justiz, die sorgsam versucht hat, dem Phänomen eines totalitären Systems und der Verantwortlichkeit einzelner zugleich gerecht zu werden. Wenn man die Mauerschützen anklagt und verurteilt hat, dann mußte man auch die Befehlsgeber anklagen. Ich selber wäre nach 1999 viel lieber, wie einige führende Politiker der Bundesrepublik auch, für eine Generalamnestie gewesen, was ja eben keine Entschuldigung gewesen wäre, sondern ein Verzicht auf Anklage. Es wurden ganz unterschiedliche Rechtskonstruktionen und Straftatbestände angezogen, um den rechtsstaatlichen Kriterien Genüge zu tun und gleichzeitig durch Strafe ein Unrechtsbewußtsein zu erzeugen bzw. eine gewisse Genugtuung für Opfer zu schaffen.
TP: Sie haben kritisiert, daß Krenz keine Worte des Bedauerns für die Opfer gefunden hat, Sie fordern trotzdem eine Generalamnestie, also auch für Krenz?
Schorlemmer: Nein, ich wünsche mir, daß alle Prozesse, die nun noch anliegen, mit großer Intensität und ebenso großer Sorgfalt in den nächsten 2 Jahren anlaufen, damit wir zum 09. Oktober 1999, 10 Jahre nach dem großen Aufbruch der 70.000 in Leipzig, wo die Demokratie erstritten wurde und der 17. Juni eben nicht wiederholt wurde, Schluß machen, denen, die auf die Straße gingen, ein Loblied singen. Zu erinnern ist daher auch an die, die keine Befehle gaben, so daß nicht geschossen wurde und uns erlaubt wurde, ohne Blutvergießen in die Demokratie zu kommen. Diesen Akt der Großmut, diese Amnestie wünschte ich mir. Das heißt nicht, daß wir das, was Einzelne da zu verantworten haben, nicht weiterhin bewerten, aber nicht mehr strafrechtlich verfolgen.
TP: Das heißt also, ab 9. Oktober 1999 alles frei, egal welchen „Dreck am Stecken“ sie haben?
Schorlemmer: Ja.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin
Fotoquelle: TP Presseagentur/dj
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