Von Dr. Thomas Galli, Augsburg.
Von den Alternativen zum geschlossenen Strafvollzug zu reden fällt leichter, als von den realistischen Alternativen zu sprechen. Wie sollte es sein, aber wie könnte es vor allem werden? Die Versuchung ist am einen Ende groß, sich von den realistischen Möglichkeiten ganz frei zu machen und sich die Welt argumentativ so zurecht zu legen, wie man sie gerne hätte. Am anderen Ende ist die Versuchung groß, aus den realistischen die wünschenswerten Alternativen zu machen. Das gilt umso mehr, als Alternativen zu etwas erarbeitet und durchgesetzt werden müssen, das nicht auf den besseren Argumenten, sondern primär auf der Macht des Faktischen, unreflektierten kollektiven Gefühlen von Wut und Angst sowie mangelnder Transparenz beruht.
Das werden alle kennen, die sich für Alternativen zum geschlossenen Strafvollzug stark machen: jede Alternative wird schnell zerredet, und dabei wird inzident behauptet, das gegenwärtige System würde besser funktionieren. Einige Beispiele: Man könnte statt kurzer Freiheitsstrafen die gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe einführen, wie es sie in anderen Ländern (z.B. Finnland) schon lange gibt. Da kommen sofort die Gegenargumente: was machen sie mit denen, die sich weigern, gemeinnützig zu arbeiten? Was machen sie, wenn einer dann wieder eine Straftat begeht? Erinnert solche Zwangsarbeit nicht an Unrechtregime? Auch AfD und Teile der CSU werden im Rahmen ihrer Möglichkeiten dagegen argumentieren, und von einer Verhöhnung der Opfer und einem Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung sprechen.
Zumindest bei bestimmten Straftätern, z.B. solchen, die nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt worden sind, könnte man außerdem darüber nachdenken, statt einer Unterbringung in geschlossenen Anstalten mit all den hinlänglich ausgeführten negativen gesamtgesellschaftlichen Folgen z.B. einen elektronisch überwachten Hausarrest auszusprechen. Hier wird entgegnet: Die Gefahr einer maßlosen Ausweitung technikbasierter Überwachungsmaßnahmen sei viel zu groß. Außerdem bringe das gar nichts, nur die persönliche Betreuung kann den Menschen verändern (was sicher stimmt, aber im geschlossenen Strafvollzug ist z.B. ein Sozialarbeiter oft für Hundert und mehr Inhaftierte zuständig). Usw., usw.
Das alles macht es den Argumenten, vor allem aber „Best-Practice-Modellen“ schwer, sich zu etablieren. Es gibt die Ansätze z.B. eines Jugendvollzuges in offenen Formen, bei dem, zunächst in Baden-Württemberg, dann in Sachsen, Jugendliche ihre Strafe nicht in geschlossenen Vollzugsanstalten, sondern in Einrichtungen mit Pflege-Familien verbüßen können. Das ist vom Ansatz und der Idee her sehr gut, wobei man sicher genau hinsehen muss, ob da nicht „der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird“ (zur Kritik an der Einrichtung in Sachsen, die ich mangels persönlicher Kenntnis dieser Einrichtung nicht beurteilen kann, vgl. https://www.sz-online.de/sachsen/haerter-als-im-jugendgefaengnis-3924048.html). Zur Fußfessel (wohlgemerkt als Alternative zur Inhaftierung, nicht als zusätzliches Instrument der Bestrafung und Überwachung) gab und gibt es verschiedene Modellprojekte (als Alternative zur U-Haft vgl. https://www.mpicc.de/shared/data/pdf/fa-mayer2.pdf; zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen und der Ermöglichung von Lockerungen des Vollzuges vgl. https://www.mpicc.de/de/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/elektronische_aufsicht_im_voll.html), die noch ausgebaut und längerfristig evaluiert werden sollten. Damit zusammen hängt aber die Pflicht, auch den derzeitigen Strafvollzug und seine Folgen noch viel breiter und genauer zu evaluieren, nur dann haben Alternativen, soweit sie zumindest „besser“ wirken als die jetzigen Maßnahmen, überhaupt eine Chance.
Ich bin überzeugt, dass man nichts erreicht, und nie etwas erreichen wird, wenn man die alternativlose Abschaffung von bestimmten strafenden Maßnahmen fordert, selbst wenn das bei näherem Hinsehen oft die bessere Alternative wäre. Gerade in dem so stark emotional besetzten Bereich des Strafens sind Veränderungen nur langsam und schrittweise möglich. Erwachsenen Menschen zur Strafe (im Sinne einer Vergeltung für begangenes Unrecht) die Freiheit zu entziehen, ist unvernünftig. Dies „von heute auf morgen“ ganz aufzugeben, ist allerdings unrealistisch. Daher würde ich als Weg vorschlagen, zunächst zumindest den Freiheitsentzug in geschlossenen, totalen Institutionen langsam zu reduzieren, und Gruppen von Inhaftierten, die wenig „Skandalpotential“ haben (z.B. Vermögensstraftäterinnen), im elektronisch überwachten und persönlich betreuten Hausarrest unterzubringen.
Wie lange das dauern wird, kann kein Mensch sagen, aber ich denke, dass sich irgendwann der Vergeltungsgedanke (einem anderen Gewalt antun zu wollen, dessen Angriff bereits beendet ist) aus der Menschheit „herauswachsen“ wird, da er insgesamt mehr Schaden als Nutzen bewirkt. Das ist ein Prozess zunehmender Erkenntnis, der vorangetrieben wird durch die Erfahrungen, die man mit weniger gewaltigen Vergeltungsmaßnahmen machen wird.
Fotoquelle (obere Reihe)/Collage: TP Presseagentur Berlin