Bericht zum Stand der Deutschen Einheit – Vertrauensverlust in Staat und Parteiendemokratie ist das größte Problem.

„Im Osten ist der Vertrauensverlust gegenüber Staat und  Parteien mit Händen zu greifen. 28 Jahre lang haben die Ostdeutschen versucht, über ihre Erfahrungen und ihre Enttäuschungen zu sprechen. Die Bundesregierung hat nicht zugehört. Das merkt man auch dem aktuellen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit an: Nicht nur die Wirtschaft im Osten hinkt dem Westen hinterher – auch der Bericht hinkt der Wirklichkeit hinterher. Längst geht es nicht mehr allein darum, wie groß die Abstände bei Renten, Löhnen oder Wirtschaftskraft sind. Es geht um den Abstand an sich, es geht um die Zurücksetzung der Ostdeutschen, die sich seit 28 Jahren verfestigt, anstatt zu schwinden. Die Geduld vieler Ostdeutscher ist aufgebraucht“, sagte heute Matthias Höhn, Ostbeauftragter der Linksfraktion im Bundestag.

Höhn weiter:

„Es geht weniger als oft behauptet wird um Prägungen aus der DDR. Es geht vielmehr um die Nachwende-Zeit: um die Erfahrungen mit Treuhand, Arbeitslosigkeit und Rentenüberleitungsgesetzen, die bis heute Auswirkungen haben. Die meisten Ostdeutschen bewerten die Bundesrepublik an ihren eigenen Maßstäben: gleichwertige Lebensverhältnisse, Diskriminierungsverbote und eine Markwirtschaft, die eine soziale sein sollte. Diese Maßstäbe gelten aber nicht für Ostdeutsche, denn sie besetzen nicht die Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Medien oder Wirtschaft. Nicht mal im Osten. Zudem verdienen sie weniger, besitzen weniger und werden folglich weniger vererben als der Durchschnitt der Westdeutschen.

Diese Enttäuschung bricht sich in einer Stimmung Bahn, die die liberale Demokratie infrage stellt – mit besonderer Brisanz in Ostdeutschland. Deshalb: Wer Zugehörigkeit will, muss Zusammenhalt auch ermöglichen. Ostdeutsche Frauen und Männer sind ebenso Teil dieses Landes wie Bayern oder Niedersachsen. Deshalb müssen auch sie in Spitzenpositionen aufrücken können.

Wir brauchen beides: eine andere Kultur, die konkrete Anerkennung für ostdeutsche Lebensleistung, eine gezielte Förderung ostdeutscher Karrierewege und die Stärkung der Demokratie durch soziale Teilhabe. Die Versäumnisse der Bundesregierung, der Abbau des Sozialstaats, die Privatisierung von Rente und Gesundheitsvorsorge, haben negative Folgen in Ost und West. Deshalb muss die Kommission zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die sich heute konstituiert, einen klaren Kurs setzen für Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge und sozialstaatliche Sicherungen.“

Ostbeauftragter Hirte: „Viel erreicht – viel zu tun!“
Die Bundesregierung hat heute den vom Bundesminister für Wirtschaft und Energie vorgelegten Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2018 beschlossen.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, der Parlamentarische Staatssekretär Christian Hirte, würdigt darin die große Aufbauleistung der Ostdeutschen und die solidarische Gesamtleistung des vereinten Deutschlands. Sein Bericht zeichnet das Zusammenwachsen von Ost und West nach und stellt die noch bestehenden Herausforderungen dar. „Bei allem, was auch noch vor uns liegt, haben wir allen Grund stolz zu sein. Die wirtschaftliche Lage ist besser als je zuvor.“ Zugleich betont Hirte, dass wirtschaftliche Daten allein nicht ausreichten, um das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse zu umschreiben: „Es geht darum, in der Summe aller Alltagsfragen überall gut leben zu können. Dabei muss sich der Osten nicht verstecken.“

Trotz wirtschaftlicher Erfolge und steigender Einkommen bedürfe es Antworten auf Unsicherheiten und Protestformen: „Es darf uns nicht egal sein, wenn so viele Menschen scheinbar das Zutrauen in Staat und Politik verloren haben. Das müssen wir ohne erhobenen Zeigefinger ernst nehmen.“

Die wirtschaftlichen Fortschritte in den neuen Ländern würden derzeit überlagert von gesellschaftlichen Debatten. „Dabei entsteht mitunter ein Zerrbild. Den rechtsextremen Ausschreitungen wie in Köthen müssen wir klar entgegentreten – genau wie wir dies in Kandel oder Dortmund auch tun müssen. Dies ist völlig inakzeptabel. Die Stigmatisierung ganzer Regionen hilft dabei aber kein Stück weiter. Ich bin der festen Überzeugung, dass die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen mit rechtsradikalen Spinnern, die den Hitlergruß zeigen oder ein jüdisches Geschäft angreifen genauso wenig zu tun haben will, wie mit linksradikalen Spinnern, die marodierend durch Hamburg ziehen.“

Christian Hirte sieht als eine der Ursachen für diesen Widerspruch die Umbrucherfahrungen der Menschen in Ostdeutschland nach dem Mauerfall, der für nahezu jeden eine vollständige Veränderung der Lebenswirklichkeit bedeutete, mit teils schmerzlichen Erfahrungen. Das habe Spuren hinterlassen.

Christian Hirte: „Nicht alles, was heute im Osten geschieht, können wir auf Fehler in der DDR zurückführen. Die Transformation der 1990er Jahre gehört deshalb genauso in unseren Blick. Ich kann verstehen, dass viele Menschen in Ostdeutschland das Gefühl haben, mit ihren persönlichen Erfahrungen nicht genügend respektiert und wahrgenommen zu werden. Sie sehen nicht, wo sich diese Erfahrung des Zusammenbruchs und Neuanfangs in unserer Gesellschaft widerspiegelt. Ich verstehe mein Amt deshalb als Auftrag, denen eine Stimme zu geben, die das Gefühl haben, dass der Osten nicht gehört wird.“

Der Ostbeauftragte betont, dass die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands heute mit großem Selbstbewusstsein auf das Erreichte und die eigene Geschichte, Kultur und Tradition blicken könnten.

Dabei seien die Erfolge auf dem Weg zu gleichwertigen Lebensverhältnissen eindrucksvoll. Die Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands hat sich seit der Wiedervereinigung mehr als verdoppelt. Im Jahr 2017 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) real um 1,9 Prozent. Im Vergleich der europäischen Regionen verfügen die ostdeutschen Länder heute über eine Wirtschaftskraft, die mit der in vielen französischen oder britischen Regionen vergleichbar ist. „Wir haben viel mehr Grund zum Stolz als zum Verdruss.“

Zwölf Jahre in Folge sind die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland gesunken: Während die Arbeitslosenquote im Jahr 2005 dort noch bei 18,7 Prozent lag, betrug sie im Jahr 2017 nur noch 7,6 Prozent. Im August 2018 lag der Wert bei 6,8 Prozent (West: 4,8 Prozent). „Unsere Herausforderung heute heißt Fachkräftebedarf. Diese Aufgabe wird genauso viel Kraft erfordern, wie zuvor die Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit.“

Ein weiteres Anliegen des Ostbeauftragten ist die Unterstützung ostdeutscher Regionen bei der Ansiedlung von Bundesbehörden oder zukunftsgerichteten Modellprojekten des Bundes. Die Ansiedlung des neuen Bundesfernstraßenamtes in Leipzig und die Vergabe des Kompetenzzentrums Wald des Bundes nach Mecklenburg-Vorpommern sind erste praktische Erfolge dieses Ansatzes. „Wenn wir Vertrauen in den Staat wollen, brauchen wir auch eine Sichtbarkeit des Staates.“

Foto: Matthias Höhn

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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