BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES 5 StR 632/98 URTEIL

BUNDESGERICHTSHOF gegen Schabowski u.a

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
5 StR 632/98
URTEIL

vom 8. November 1999
in der Strafsache
gegen

1. Günter S c h a b o w s k i aus Berlin,
geboren am 4. Januar 1929 in Anklam,

2. Günther K l e i b e r aus Berlin,
geboren am 16. September 1931 in Eula,

3. Egon Rudi Ernst K r e n z aus Berlin,
geboren am 19. März 1937 in Kolberg,

wegen Totschlags

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 27. Oktober und 8. November 1999, an der teilgenommen haben:

Vorsitzende Richterin Harms,

Richter Häger,
Richter Nack,
Richterin Dr. Tepperwien,
Richter Dr. Raum

als beisitzende Richter,

Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof Dr. Schmidt,
Staatsanwalt Dr. Bauer

als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt Dr. Lammer,
Rechtsanwalt von Schirach

als Verteidiger des Angeklagten Schabowski,

Rechtsanwalt Dr. Studier

als Verteidiger des Angeklagten Kleiber,

Rechtsanwalt Unger,
Rechtsanwalt Dr. Wissgott

als Verteidiger des Angeklagten Krenz,

Rechtsanwalt Plöger

als Vertreter der Nebenkläger,

Justizobersekretärin Naumann

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

am 8. November 1999 für Recht erkannt:

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. August 1997 werden verworfen.

Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dadurch den Nebenklägern Irmgard Bittner, Karin Schmidt und Karin Gueffroy entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen, der Angeklagte Krenz zudem die durch seine Revision dem Nebenkläger Horst Schmidt erwachsenen notwendigen Auslagen. Die Staatskasse trägt die Kosten der Revisionen der Staatsanwaltschaft und die hierdurch den Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

– Von Rechts wegen –

G r ü n d e

Das Landgericht hat die drei Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen dreifachen Totschlags, den Angeklagten Krenz zudem wegen eines weiteren Totschlags verurteilt, die Angeklagten Schabowski und Kleiber zu einer Freiheitsstrafe von jeweils drei Jahren und den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Jahren. Hiergegen richten sich die Revisionen der Angeklagten mit Verfahrensrügen und sachrechtlichen Beanstandungen und die Revisionen der Staatsanwaltschaft, die mit der ausgeführten Sachrüge allein die Strafaussprüche angreift. Die Revisionen haben keinen Erfolg.

A.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Tötung von vier Menschen, die zwischen 1984 und 1989 unbewaffnet und ohne Gefährdung anderer aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) über die innerdeutsche Grenze fliehen wollten. Das Landgericht hält die Angeklagten Schabowski und Kleiber aufgrund ihrer Mitwirkung an zwei Beschlüssen des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) der DDR für (mit-) verantwortlich für den Tod der drei Flüchtlinge Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy. Es erachtet den Angeklagten Krenz aufgrund seiner Mitwirkung an einem Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zum einen für (mit-) verantwortlich am Tod des Flüchtlings Michael-Horst Schmidt; es hält diesen Angeklagten zum anderen wegen seiner Mitwirkung an einem weiteren Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates sowie wegen seiner Mitwirkung an den genannten Beschlüssen des Politbüros für (mit-) verantwortlich am Tod der drei zuvor genannten Flüchtlinge.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

I. Der Angeklagte Schabowski war seit April 1981 Mitglied des Zentralkomitees der SED und Kandidat des Politbüros, seit Mai 1984 war er bis zu seinem Rücktritt am 8. November 1989 Mitglied des Politbüros; seit November 1985 war er zudem Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED und aufgrund dieser Stellung seit April 1986 Sekretär des Zentralkomitees der SED. Der Angeklagte Kleiber war seit 1967 Mitglied des Zentralkomitees der SED und Kandidat des Politbüros; von 1973 bis 1986 war er Minister für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau, anschließend bis 1989 ständiger Vertreter der DDR im rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW); am 25. November 1988 wurde der Angeklagte Kleiber zum Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates berufen. Der Angeklagte Krenz wurde im Mai 1976 Kandidat und im November 1983 Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees; zu seinem Verantwortungsbereich gehörte unter anderem die Abteilung des Zentralkomitees für Sicherheitsfragen; im Jahr 1981 wurde er Mitglied des Staatsrats und im Jahr 1984 Stellvertreter des Vorsitzenden Staatsrats; seit Ende 1983 war er Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates; im Oktober 1989 wurde er durch das Zentralkomitee der SED auf Vorschlag des Politbüros zum Nachfolger Erich Honeckers als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und durch die Volkskammer zum Vorsitzenden des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats gewählt. Sein Amt als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED endete am 3. Dezember 1989, Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats blieb er bis zum 6. Dezember 1989.

II. Die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten war eine Grenze zwischen den beiden militärischen Machtblöcken der Staaten des Warschauer Paktes auf der einen und der NATO-Staaten auf der anderen Seite.

1. Zur Grenze hat das Landgericht festgestellt:

a) Bereits 1952 wurden in Abstimmung zwischen den Machthabern in der DDR und der UdSSR die Grenzanlagen zwischen den beiden deutschen Staaten ausgebaut, um der anwachsenden Fluchtbewegung und Umsiedlung von Ost nach West entgegenzutreten. Das Grenzgebiet bekam den Charakter eines Sperrgebiets. Der Kontrollstreifen durfte bei Strafandrohung nur an speziellen Kontrollpunkten mit einem Interzonenpaß passiert werden. Als Folge einer Verschärfung des Ost-West-Konfliktes Ende der fünfziger Jahre, einer die DDR stark belastenden Fluchtbewegung von DDR-Bürgern in den wirtschaftlich erfolgreicheren Westen und eines militärstrategischen Interesses der UdSSR daran, die Lage in der DDR zu stabilisieren, sie als dem eigenen Staat vorgelagerten Puffer zur Grenze zwischen den Machtblöcken zu erhalten und die massive Tätigkeit westlicher Geheimdienste, die vom Westteil Berlins gegen die DDR und den Ostblock insgesamt ausging, einzuschränken, kamen die politisch Verantwortlichen in der DDR und der UdSSR im Sommer 1961 in beiderseitigem Interesse und in Absprache mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages überein, die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik so zu sichern, daß sie nur noch über Kontrollpunkte passierbar sein würde. Am 13. August 1961 wurde die Berliner Sektorengrenze mit Stacheldraht und Barrikaden, später durch eine mauer abgeriegelt. An der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland wurden die bereits vorhandenen Sicherungsanlagen verstärkt. In dem Grenzgebiet wurden – mit Ausnahme der Berliner Grenzen – Minen verlegt und Selbstschußanlagen eingerichtet. Zahlreiche Fluchtversuche über diese Grenze endeten für die Flüchtlinge tödlich, weil sie auf Minen traten, in Selbstschußanlagen gerieten oder weil sie von Angehörigen der Grenztruppen zur Fluchtverhinderung erschossen wurden.

In den siebziger Jahren begann sich die weltpolitische Lage zu entspannen; es kam zu bilateralen und multilateralen Verträgen der DDR. Die DDR trat dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte bei, der 1976 in Kraft trat. Eine weitere Entspannung erfolgte ab 1985 nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow, der den Parteien der Ostblockstaaten das Recht einräumte, über die Probleme ihres Landes weitgehend selbst zu entscheiden. Ab Mitte der achtziger Jahre ließ die DDR ohne vorherige Abstimmung mit der UdSSR Erdminen und Selbstschußanlagen (bis zum 31. Juli 1985) abbauen.

b) An den Grenzen der DDR zur Bundesrepublik Deutschland befand sich im Hinterland der DDR eine rund fünf Kilometer tiefe Sperrzone, deren Betreten nur mit besonderer Genehmigung gestattet war. Alle Bewegungen von Personen in der Sperrzone wurden von der Volkspolizei und den aus der Grenzbevölkerung rekrutierten „Freiwilligen Helfern der Grenztruppen“ intensiv überwacht, so daß es Fluchtwilligen kaum gelingen konnte, sich der Grenze zu nähern. In einer Entfernung von 500 Metern vor der eigentlichen Grenze begann mit dem bei Berührung optisch und akustisch Signal gebenden Grenzsignalzaun der Schutzstreifen mit den „pioniertechnischen Anlagen“. In dem von Pflanzenbewuchs weitgehend befreiten Schutzstreifen befanden sich die Beobachtungstürme der Grenztruppen. Parallel zur Grenzlinie verlief der befahrbare Kolonnenweg, neben diesem ein geharkter, unterschiedlich breiter Kontrollstreifen. Hierauf folgte der Kraftfahrzeugsperrgraben. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten befanden sich im Schutzstreifen noch Panzersperren und Hundelaufanlagen mit frei laufenden Wachhunden. Die pioniertechnischen Anlagen endeten mit dem Grenzzaun, der so hoch war, daß er ohne Hilfsmittel kaum überwunden werden konnte.
Die Grenze zum Westteil Berlins war anders ausgestaltet. Die Grenzsperranlagen begannen auf Seiten der DDR mit der Hinterlandmauer bzw. einem „Sperr- und Warnzaun“. Diese erste Sperre sollte verhindern, daß der Flüchtende in die Sperrzone eindrang. Hierauf folgten Grenzsignalzaun, Schutzstreifen mit Beobachtungstürmen und Kolonnenweg, der bei Dunkelheit hell ausgeleuchtet war, Kontrollstreifen und Kraftfahrzeugsperrgraben. Letztes Sperrelement war im innerstädtischen Bereich eine rund 3,40 Meter hohe Grenzmauer. Im nicht bebauten Gebiet des Außenrings um Berlin im DDR-Bezirk Potsdam bestand das vordere Sperrelement aus einem drei Meter hohen Streckmetallzaun. In diesen Außenbereichen kamen frei laufende Wachhunde zum Einsatz. Das Grenzgebiet um den Westteil Berlins hatte überwiegend eine Tiefe bis zu 50 m; nur an einigen Stellen war es bis zu 200 m tief.
Die technische Einrichtung der Grenzanlagen war so ausgelegt, daß sie in erster Linie eine Flucht aus der DDR verhindern sollten. Kraftfahrzeugsperrgräben, (bis Sommer 1985) Minen und Selbstschußanlagen boten gegen einen Durchbruch aus Richtung der Bundesrepublik Deutschland mit gepanzerten Fahrzeugen keinen Schutz, eine militärische Bedeutung hatten die Anlagen nicht.

c) Seit den siebziger Jahren wurden die Grenzen der DDR von den „Grenztruppen der DDR“ bewacht.

aa) Die Grenztruppen hatten u. a. die Aufgabe, die „Unantastbarkeit der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und Westberlin“ zu wahren (Führungsgrundsätze der Grenztruppen der DDR im Frieden und im Krieg vom 14. August 1974). Der Befehlsweg der Grenztruppen verlief so, daß der Minister für Verteidigung in der Regel jährlich an den Chef der Grenztruppen den Befehl 101 gab; der Chef der Grenztruppen setzte diesen Befehl um durch den Befehl mit der Nr. 80 an die Chefs der drei Grenzkommandos; diese erließen auf dieser Grundlage Befehle mit der Nr. 40 an die Kommandeure der einzelnen Grenzregimenter, die diese durch Befehle mit der Nr. 20 umsetzten. In Umsetzung dieser Befehle wurden die Grenzsoldaten vor jedem Wacheinsatz vergattert, d. h. sie wurden verpflichtet, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu gewährleisten und ihren Dienst wachsam und auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und Bestimmungen zu erfüllen. Bis in die siebziger Jahre wurde angeordnet, „Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten“, später hieß es an Stelle von „Vernichten“ „Fluchtverhinderung“. Sämtliche Handlungen der Grenztruppen, also auch die Verminung des Grenzgebiets und die Anwendung der Schußwaffen gegen Flüchtlinge, beruhten auf dieser Befehlskette.

bb) Es bestand eine Divergenz zwischen offizieller und tatsächlicher Befehlslage. Die offizielle Befehlslage ging in den achtziger Jahren bis April 1989 dahin, daß „Grenzdurchbrüche“ – so wurde das Überwinden der Grenze durch Flüchtlinge aus der DDR bezeichnet, diese wurden „Grenzverletzer“ genannt – in jedem Fall und unter Einsatz jeden Mittels zu verhindern waren. Die Schußwaffe sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden, das Leben des „Grenzverletzers“ sollte nach Möglichkeit geschont werden. Im Falle eines Fluchtversuchs sollte eine abgestufte Reaktionsfolge eingehalten werden: Der Flüchtling war zunächst anzurufen und zum Stehenbleiben aufzufordern; blieb dies erfolglos, sollten Warnschüsse abgeben werden, um den Flüchtling zum Aufgeben seines Vorhabens zu veranlassen; setzte er seine Handlung fort, sollte die Schußwaffe als letztes Mittel gezielt eingesetzt werden, um Fluchtunfähigkeit zu erreichen.
Diese offizielle Befehlslage wurde überlagert: Durch die ständige und massive Einwirkung auf die Soldaten entstand bei diesen die von der politischen Führung und den militärischen Vorgesetzten erwünschte Vorstellung, daß bei Abwägung zwischen dem Leben des „Grenzverletzers“ und der Unverletzlichkeit der Grenze letztere höher einzuschätzen und deshalb der Verlust eines Menschenlebens notfalls hinzunehmen sei. Die Soldaten wußten, daß in vielen Fällen das Ziel, einen „Grenzdurchbruch“ zu verhindern, nicht anders als durch Schußwaffeneinsatz mit gegebenenfalls tödlichem Ausgang zu erreichen war. Den Soldaten war bekannt, daß auf größere Entfernungen mit ihrer Dienstwaffe, der Maschinenpistole „Kalaschnikow“, auch bei Einzelfeuer nicht so genau auf die Beine gezielt werden konnte, daß ein tödlicher Treffer ausgeschlossen werden konnte.
Nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR vom 25. März 1982 (Gbl I 197) am 1. Mai 1982 fand in der Ausbildung der Grenzsoldaten keine einschneidende Veränderung statt. In den mit der Grenzsicherung betrauten Organen herrschte ebenso wie bei den Mitgliedern des Politbüros die Auffassung, daß § 27 Grenzgesetz die bisherige Praxis des Schußwaffeneinsatzes gesetzlich festschreibe und rechtfertige. § 27 Grenzgesetz hatte folgenden Wortlaut:

„Anwendung von Schußwaffen

(1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffeneinwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird.

(2) Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.

(3) Die Anwendung der Schußwaffe ist grundsätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schußwaffe verhindert oder beseitigt werden kann.

(4) Die Schußwaffe ist nicht anzuwenden, wenn

a) das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden können,

b) die Personen dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter sind oder

c) das Hoheitsgebiet eines benachbarten Staates beschossen würde.

Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden.

(5) Bei der Anwendung der Schußwaffe ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu erweisen.“

Verbrechen, die nach § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz den Einsatz der Schußwaffe rechtfertigten, waren gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 StGB-DDR u. a. Straftaten, für die im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgesprochen wurde. Bei dem Straftatbestand des ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 StGB-DDR, der im Zusammenspiel mit dem Grenzgesetz den auch tödlichen Schußwaffeneinsatz an der innerdeutschen Grenze rechtfertigen sollte, konnte ein Verbrechen im Hinblick auf die Strafandrohung nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 213 Abs. 3 StGB-DDR vorliegen. Deshalb war die Verwendung der Schußwaffe gegen einen einzelnen unbewaffneten Flüchtling, der ohne Hilfsmittel und ohne Gefährdung anderer die Grenzanlagen zu überwinden trachtete, nach dem Wortlaut von § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz und § 213 StGB-DDR nicht gestattet. § 213 StGB-DDR hatte folgenden Wortlaut:

„Ungesetzlicher Grenzübertritt

(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert …, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) …

(3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn

1. die Tat oder Gesundheit von Menschen gefährdet;

2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt;

3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird;

4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Versteckes erfolgt;

5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird;

6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.

(4) …“

Den Grenzsoldaten wurde – ohne daß hier im einzelnen differenziert worden wäre – immer wieder vermittelt, daß jede Grenzverletzung ein Verbrechen und jeder Schußwaffeneinsatz gegen „Grenzverletzer“ mit gegebenenfalls tödlichen Folgen für den Flüchtling rechtmäßig und durch § 27 Abs. 2 Grenzgesetz gedeckt sei, wenn es kein anderes Mittel gebe, die Flucht zu verhindern. Dies galt auch dann, wenn die Flüchtlinge nur versuchten, die DDR ohne Ausreisegenehmigung an einer für den Grenzübergang nicht vorgesehenen Stelle zu verlassen. Für die Grenzsoldaten bestand darüber hinaus bis zum Jahre 1989 die verpflichtende Anordnung, auf einen Flüchtling zur Verhinderung des Grenzübertritts zu schießen, selbst wenn hierbei die Tötung des Flüchtlings in Kauf genommen werden mußte. Insgesamt wurde den Soldaten der Eindruck vermittelt, daß die Offiziere hinter ihnen stehen würden, wenn sie in einem vom Wortlaut der Vorschriften nicht erfaßten Fall schießen würden. Verbunden war dies mit der unterschwelligen Warnung, bei gelungener Flucht eines Flüchtlings mit Sanktionen rechnen zu müssen. Der hierdurch erzeugte Druck lastete nicht nur auf den Grenzsoldaten, sondern auch auf den Kompaniechefs und Regimentskommandeuren. Ein gelungener „Grenzdurchbruch“ hatte gegen letztere regelmäßig Disziplinarverfahren zur Folge; zudem wurden Parteiverfahren geführt.
Grenzsoldaten, die nicht bereit waren, auf „Grenzverletzer“ zu schießen, wurden zunächst befristet nicht mehr an der Grenze eingesetzt; blieben Zweifel an ihrer „ideologischen Standhaftigkeit“, wurden sie in den Innendienst oder in eine andere Einheit versetzt. Grenzsoldaten, die einen „Grenzdurchbruch“ verhindert hatten, wurden mit militärischen Auszeichnungen und Vergünstigungen wie Geldprämien, Sonderurlaub und Beförderung belohnt. Eine Belobigung wegen der Verhinderung eines „Grenzdurchbruchs“ erfolgte insbesondere, wenn die handelnden Grenzsoldaten eine Schußwaffe eingesetzt hatten, ohne daß es darauf ankam, ob der Schußwaffeneinsatz durch § 27 Grenzgesetz oder interne Dienstvorschriften gedeckt war. Es spielte auch keine Rolle, ob der „Grenzdurchbruch“ durch andere Mittel als den Einsatz der Schußwaffe hätte verhindert werden können und ob mit Einzel- oder Dauerfeuer geschossen wurde. Den betreffenden Soldaten wurde durch ihre Vorgesetzten bestätigt, korrekt und entsprechend dem „Klassenauftrag“ gehandelt zu haben. Sie wurden in der Regel aus der die Grenze sichernden Einheit versetzt, was nicht als Strafe gedacht war, sondern den Soldaten weitere psychische Belastungen ersparen sollte. Zugleich sollte hierdurch das Vorkommnis verschleiert werden; die betreffenden Soldaten wurden zum Stillschweigen über den Einsatz der Schußwaffe verpflichtet.

d) Das Grenzregime an der innerdeutschen Grenze war nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß das ungenehmigte Verlassen der DDR strafbar war und auf einen Flüchtling geschossen werden durfte. Darüber hinaus wurde politisch nicht privilegierten DDR-Bürgern außerhalb des Rentenalters die Ausreise in den westlichen Teil Deutschlands durch die zuständigen DDR-Behörden jedenfalls bis zum 1. Januar 1989 ohne Mitteilung von Gründen versagt. Ausreiseantragsteller mußten gar mit strafrechtlicher Verfolgung und Schikanen rechnen: Sie konnten allein aufgrund des Ausreiseantrags ihren Arbeitsplatz verlieren und in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit geraten, das sie unter Zuhilfenahme von Inoffiziellen Mitarbeitern „operativ bearbeitete“; Versuche abgelehnter Ausreiseantragsteller, ihren Ausreisewunsch publik zu machen, wurden strafrechtlich verfolgt. Diese Praxis hat sich bis Februar 1989, dem Zeitpunkt, als es durch die Erschießung von Chris Gueffroy zur letzten Tötung an der innerdeutschen Grenze kam, nicht in einer relativen Weise geändert.

2. Die DDR war während der gesamten Dauer ihres Bestehens – obwohl sie immer wieder gegenüber den westlichen Staaten, aber auch in innerstaatlichen Dokumenten auf die eigene Souveränität hinwies und sich die Einmischung in innere Angelegenheiten (durch die westlichen Staaten gerade im Hinblick auf die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR) verbat – nicht uneingeschränkt souverän in ihren Entscheidungen. Sie war in den Block des Warschauer Vertrages integriert, in dem die dominierende Rolle der UdSSR kaum politische Alleingänge duldete. Alle grundlegenden militärischen Fragen mußten mit der UdSSR abgestimmt werden. Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch war die DDR in hohem Maße von der UdSSR abhängig. Entscheidungen, die die Sicherheit des Bündnisses und militärstrategische Fragen betrafen, durfte sie im Alleingang nicht treffen. Der Mitte der achtziger Jahre von der DDR ohne vorherige Abstimmung mit der UdSSR vorgenommene Abbau der Erdminen und Selbstschußanlagen führte zu einer Krise der politischen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR.

Auch die technische Ausgestaltung der Grenze wurde mit den sowjetischen Militärs kontinuierlich abgestimmt, blieb jedoch weitgehend der Entscheidung der DDR überlassen. Sowjetische Truppeneinheiten waren an der Grenze nicht eingesetzt. Erdminen und Selbstschußanlagen wurden erst nach Rücksprache mit der UdSSR installiert.

Über „Wünsche und Vorschläge“ der UdSSR zu Fragen der Grenzsicherung durfte die DDR sich nicht hinwegsetzen. Die Sicherung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland lag indes stets im gemeinsamen Interesse der DDR und der UdSSR. Keine der Entscheidungen zum Grenzregime erfolgte gegen den Willen der DDR-Führung oder unter Einwirkung irgendeines Zwanges. Die DDR wurde niemals bei der UdSSR vorstellig, um auf eine Abschaffung des Schußwaffengebrauchs gegen Flüchtlinge an der Grenze zur Bundesrepublik hinzuwirken.

III. Fragen der Sicherung der Grenze wurden sowohl im Politbüro des Zentralkomitees der SED als auch im Nationalen Verteidigungsrat entschieden.

1. Die politische Macht in der DDR war nicht auf verschiedene Träger verteilt, sondern ging nur von einem Herrschaftszentrum aus. Dieses umfassend und unkontrolliert herrschende Führungszentrum war das Politbüro des Zentralkomitees der SED, die ihrerseits für alle Bereiche der DDR einen Alleinführungsanspruch erhob. Dieser Alleinführungsanspruch der SED war verfassungsrechtlich gesichert durch Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974 – Gbl I 432): „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-lenistischen Partei.“

a) Das Politbüro war das höchste Entscheidungsgremium der SED und damit das höchste Machtorgan der DDR. Jede grundsätzliche politische und jede wichtige personelle Entscheidung des Landes wurde im Politbüro gefällt. Das Politbüro befaßte sich mit der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie mit der Innen- und Wirtschaftspolitik. Es regelte grundlegende übergreifende Bereiche aber auch Detailfragen. Das Politbüro konnte jede Angelegenheit zur Entscheidung an sich ziehen. Es hatte die umfassende Kompetenz, über die eigene Zuständigkeit zu entscheiden. Seine Entscheidungen betrafen parteiinterne, staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen.

b) Die Entscheidungen des Politbüros hatten absolute Bindungswirkung für die Mitglieder der SED, deren Aufgabe es war, die Beschlüsse des Politbüros durch den vollständig instrumentalisierten Staatsapparat zu verwirklichen. Die Verpflichtung, entsprechend den Beschlüssen der Partei zu handeln und die Partei- und Staatsdisziplin zu wahren, wurde durch § 2 der Verordnung über die Pflichten, die Rechte und die Verantwortlichkeit der Mitarbeiter in den Staatsorganen vom 19. Februar 1969 (GBl II 163) auch auf die Staatsbediensteten erstreckt, die nicht Mitglied der SED waren. Parteibeschlüsse wurden so zur Grundlage für die Tätigkeit sämtlicher Mitarbeiter in den Staatsorganen, ihre konsequente Durchführung war Amtspflicht.

Ein weiterer wichtiger Faktor zur Durchsetzung der Parteibeschlüsse im Staatsapparat war die sogenannte Kaderpolitik. Die Parteiführung beanspruchte für sich die Personalkompetenz für den Einsatz der wichtigen Leitungskräfte in Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe des Nomenklaturasystems. Die SED hatte alle bedeutsamen staatlichen Ämter und Positionen in den Parteinomenklaturen aufgenommen und konnte so Staatsfunktionäre ungeachtet der rechtlichen Zuständigkeitsordnung nach eigenem Ermessen einsetzen und ablösen. Dieses System führte zu einer personellen Verschmelzung zwischen Partei- und Staatsführung. Alle wichtigen Positionen im Staatsapparat waren mit SED-Mitgliedern besetzt, die auch in ihrer Eigenschaft als Staatsfunktionäre der Parteidisziplin unterlagen. Die Tätigkeit der Staatsorgane wurde vom hauptamtlichen Parteiapparat angeleitet und von den in diesen bestehenden Grundorganisationen und Parteigruppen kontrolliert.

c) Auch im Ministerium für Nationale Verteidigung und in den Streitkräften beanspruchte das Politbüro eine führende Rolle, die es mit Hilfe der Kadernomenklatur und der sogenannten Politorgane verwirklichte. Maßgeblich für die Gewährleistung der zuverlässigen Umsetzung der politischen Vorgaben des Politbüros in den Streitkräften der DDR war das dort praktizierte Stellvertreterprinzip. Den Befehlsgebern jeder Ebene stand ein Leiter des der Ebene entsprechenden Politorgans zur Seite. Aufgabe dieses sogenannten Politstellvertreters war es, den jeweiligen Kommandeur zu kontrollieren.

d) Das Politbüro trat regelmäßig einmal in der Woche für mehrere Stunden zusammen, in denen es eine umfangreiche, zuvor vom Generalsekretär festgelegte Tagesordnung bewältigen mußte. Jedes Politbüromitglied hatte die Möglichkeit, sich mit eigenen Themenvorschlägen an den Generalsekretär zu wenden und um Aufnahme der Themen in die Tagesordnung zu bitten. Die Behandlung der einzelnen Tagesordnungspunkte verlief üblicherweise so, daß der Generalsekretär, ein fachlich zuständiges Mitglied oder ein Kandidat des Politbüros einen kurzen Bericht über die zur Entscheidung stehende Vorlage gab. Hin und wieder kam es zu Diskussionen, bis dann – zumeist ohne förmliche Abstimmung – festgestellt wurde, daß das Politbüro entweder im Sinne der Vorlage beschlossen habe oder die Vorlage vom Einreicher noch einmal zu überarbeiten sei. Nur die Politbüromitglieder waren stimmberechtigt.

Die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros waren entsprechend der weiteren von ihnen ausgeübten Funktionen für die Erarbeitung der Beschlußvorlagen bestimmter Bereiche zuständig. So bildete sich bei Mitgliedern und Kandidaten im Lauf der Jahre faktisch ein gewisses Ressortdenken und eine deutliche Konzentration auf den eigenen Tätigkeitsbereich heraus. Gleichwohl waren jedes Mitglied und jeder Kandidat des Politbüros berechtigt, sich zu jedem Thema und zu jeder Vorlage zu äußern. Es gab keine Beschränkung auf bestimmte Themen- oder Zuständigkeitsbereiche. Kritische Äußerungen waren möglich und wurden in Diskussionen auch vorgetragen. Der Betreffende mußte nicht befürchten, seinen Sitz im Politbüro zu verlieren, wenn er sich unbequem äußerte.

2. Der Nationale Verteidigungsrat war das zentrale staatliche Organ, dem die einheitliche Leitung der Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen der DDR oblag (§ 2 Verteidigungsgesetz-DDR vom 13. Oktober 1978, Gbl 337). Gemäß Art. 73 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974) organisierte der Staatsrat die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrats. Dieser war das uneingeschränkt staatliche Führungsorgan der DDR für den Verteidigungsfall mit legislativen und exekutiven Befugnissen.

Der Nationale Verteidigungsrat war auf das engste mit dem Politbüro verknüpft, das Einrichtung, Zusammensetzung und Kompetenzen des Nationalen Verteidigungsrats bestimmte. Die Führungsrolle des Politbüros in Sicherheitsfragen sollte mit der Bildung des Nationalen Verteidigungsrats nicht aufgehoben werden. Der Nationale Verteidigungsrat war stets ausschließlich mit SED-Mitgliedern besetzt. Ein Großteil seiner Mitglieder gehörte gleichzeitig dem Politbüro an; im Jahr 1989 war von seinen 17 Mitgliedern zwölf zugleich im Politbüro. Der Generalsekretär der SED war immer auch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats. Während der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrats von der Volkskammer gewählt wurde, wurden seine Mitglieder aus der Kadernomenklatur des Politbüros – formal – vom Staatsrat berufen.

Das Politbüro sorgte nicht nur für seine enge personelle Verschmelzung mit dem Nationalen Verteidigungsrat durch zahlreiche identische Mitglieder, sondern sicherte seine überragende Stellung auch inhaltlich dadurch ab, daß es sich alle grundsätzlichen Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats vorlegen ließ (Beschluß des Politbüros vom 8. Dezember 1959). In den Statuten des Nationalen Verteidigungsrates war festgeschrieben, daß Grundlage seiner Tätigkeit auch die Beschlüsse des Zentralkomitees der SED und seines Politbüros war; Sitzungen des Nationalen Verteidigungsrats durften nach den Statuten durch das Politbüro einberufen werden, nicht aber durch Ministerrat und Staatsrat. Die Unterordnung des Nationalen Verteidigungsrats unter das Politbüro blieb bis zuletzt beibehalten. Zu keiner Zeit traf der Nationale Verteidigungsrat eine Entscheidung, die der vom Politbüro vorgegebenen Orientierung entgegenstand.

IV. Politbüro und Nationaler Verteidigungsrat formten durch eine Vielzahl von Beschlüssen das Grenzregime an der innerdeutschen Grenze.

1. Das Politbüro gestaltete in einer Aufbauphase in den Jahren 1952 bis 1962 das Grenzregime an der innerdeutschen Grenze durch eine Vielzahl von ausführlichen, detaillierten Entscheidungen. Ziel dieser Entscheidungen war es, die DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Staaten möglichst umfassend abzuschotten. Im Politbüro wurden die Entscheidungen zur „Einrichtung eines besonderen Regimes an der Demarkationslinie zwischen der DDR und Westdeutschland und im Küstengebiet“, zum Bau der Berliner Mauer und zur Anwendung des Schußwaffengebrauchs getroffen. Das Politbüro befaßte sich noch bis in das Jahr 1962 hinein regelmäßig und konkret mit der Grenzsicherung und schuf die Rahmenbedingungen zur Abriegelung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland.

Zeitgleich baute das Politbüro den Nationalen Verteidigungsrat als sein staatlich legitimiertes Stellvertreterorgan auf, mit dem es über ein zuverlässiges und steuerbares Gremium verfügte, das für die Grenzsicherungsfragen zuständig war. Nachdem es sichergestellt hatte, daß der Nationale Verteidigungsrat die ihm gestellten Vorgaben erfüllte, überließ es ihm in den folgenden Jahren die Regelung eines Großteils der mit der Grenzsicherung zusammenhängenden Anordnungen in der Gewißheit, daß die Umsetzung in seinem Sinne erfolgen würde. Der Nationale Verteidigungsrat setzte das vom Politbüro begonnene Werk der militärischen Grenzsicherung durch Perfektionierung der Grenzsicherungsanlagen fort, während sich das Politbüro durch Meldungen, Informationen und Berichte über die Verwirklichung seiner Beschlüsse zum Grenzregime und die sich daraus ergebenden Vorfälle an der Grenze kontinuierlich berichten ließ.
Neue und grundlegende Entscheidungen des Politbüros waren zunächst nicht erforderlich, da das Grenzsicherungssystem aufgrund wohlorganisierter vom Politbüro geschaffener Mechanismen funktionierte. In einer Reihe von Entscheidungen in anderen, mit dem Grenzregime mittelbar zusammenhängenden Bereichen machte das Politbüro deutlich, daß weiterhin die Grenzübertritte streng reglementiert werden sollten. In umfangreichen und detaillierten Beschlüssen aus den Jahren 1971 und 1973 entschied das Politbüro, die Grenzanlagen durch Schützenminen zu verstärken. Danach faßte das Politbüro bis zu seiner Auflösung im Jahr 1989 keine so umfassenden und konkreten Beschlüsse zur Grenzsicherung mehr; dies war auch nicht erforderlich: Das Politbüro hatte seine Grundlinie vorgegeben, entschied, diese beizubehalten, und konnte im übrigen die konkrete Ausgestaltung in die Hände der damit befaßten Organe geben.

Jedenfalls aus Anlaß der Parteitage bestätigte das Politbüro jedoch immer wieder die Fortführung des praktizierten Grenzregimes, indem es den „Klassenauftrag“ definierte und in diesem Sinne die das Grenzsicherungssystem tragenden staatlichen Organe anwies. Die Formulierung enthielt hierbei für diese Organe stets den Auftrag, weiterhin die Souveränität der DDR, ihre territoriale Integrität, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und ihre staatliche Sicherheit zu gewährleisten. Unter den gegebenen Bedingungen hieß dies für die Grenztruppen – und wurde dort auch so verstanden -, weiter so zu handeln wie bisher, keinen unkontrollierten Grenzübertritt zuzulassen und die Schußwaffe auch unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen gezielt gegen „Grenzverletzer“ anzuwenden, wenn es keine andere Möglichkeit gab, einen „Grenzdurchbruch“ zu verhindern. Dieser „Klassenauftrag“ wurde in die militärische Befehlskette umgesetzt und bewirkte für den Zeitraum bis zum nächsten Parteitag das Aufrechterhalten der bis dahin praktizierten Grenzsicherung. Den Beschlüssen des Politbüros, die den „Klassenauftrag“ definierten und bestätigten, kam damit Bindungswirkung zu. Sie hatten Weisungscharakter.

2. Zu der Tötung von Michael-Horst Schmidt hat das Landgericht festgestellt:

a) Der Angeklagte Krenz nahm als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats an der Sitzung des Gremiums am 2. Februar 1984 teil. In dieser Sitzung faßte der Nationale Verteidigungsrat den Beschluß, daß bei der Durchführung von Baumaßnahmen im Grenzbereich und der Umstrukturierung der Grenze die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung zu treffen seien; eine Verminderung der Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet sei nicht zuzulassen. Im übrigen bestätigte der Nationale Verteidigungsrat seinen Beschluß vom 1. Juli 1983, in dem er den beabsichtigten Abbau der am vorderen, der Bundesrepublik Deutschland zugewandten Grenzzaun installierten Splitterminen und den Ausbau der Grenzsicherungsanlagen genehmigt und den Vorsitzenden des Ministerrats beauftragt hatte, die Forschung und Entwicklung zur beschleunigten Schaffung von modernen Grenzsicherungsanlagen mit physikalischen Wirkprinzipien ohne Minen und von Ergänzungseinrichtungen für die vorhandenen Sperr- und Signalelemente sowie die Bereitstellung der für die Errichtung von Grenzsicherungsanlagen in der Tiefe des Schutzstreifens erforderlichen land- und forstwirtschaftlichen Flächen durch die dafür zuständigen Organe zu gewährleisten.

b) Aufgrund dieses Beschlusses erließ der Minister für Nationale Verteidigung Hofmann – sowohl Mitglied des Politbüros wie des Nationalen Verteidigungsrats – den zum 1. Dezember 1984 in Kraft tretenden Jahresbefehl 101/84 vom 24. September 1984, der das Grenzregime im bereits dargestellten Umfang aufrecht erhielt. Umgesetzt wurde dieser Jahresbefehl durch die Befehle 80/84 vom 9. Oktober 1984, Nr. 40/84 vom 6. November 1984 und Nr. 20/84 jeweils mit Wirkung vom 1. Dezember 1984 und durch die Vergatterung der Grenzsoldaten. Infolge dieser Befehlskette wurde am 1. Dezember 1984 Michael-Horst Schmidt, der die innerdeutsche Grenze von Berlin-Pankow (Berlin-Ost) nach Berlin-Wedding (Berlin-West) überqueren wollte, durch Dauerfeuer der Grenzsoldaten getötet.

3. Zu der Tötung von Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:

a) Alle drei Angeklagte waren an zwei Beschlüssen des Politbüros, der Angeklagte Krenz des weiteren an einem Beschluß des Nationalen Verteidigungsrats beteiligt, die letztlich zu den tödlichen Schüssen führten.

aa) Unter Mitwirkung des Angeklagten Krenz befaßte sich der Nationale Verteidigungsrat erneut mit dem Grenzregime in seiner Sitzung am 25. Januar 1985. Der Nationale Verteidigungsrat beschloß, die innerdeutsche Grenze noch wirksamer als bisher zu schützen. Der Minister für Nationale Verteidigung wurde beauftragt, Forschung und Entwicklung von modernen Grenzsicherungsanlagen mit physikalischen Wirkprinzipien ohne Minen, aber gleichwohl hoher Sperrwirkung gemäß Beschluß des Nationalen Verteidigungsrats vom 1. Juli 1983 zu beschleunigen. In der Begründung der Beschlußvorlage war ausgeführt: „Die weitere Erhöhung der Wirksamkeit bei der Sicherung der Staatsgrenze der DDR und der Durchsetzung einer hohen Sicherheit und Ordnung in den Grenzgebieten und Seegewässern erfordert eine höhere Qualität des Zusammenwirkens der Grenztruppen mit den anderen Schutz- und Sicherungsorganen und der Zusammenarbeit mit den örtlichen Partei- und Staatsorganen sowie der Bevölkerung der Grenzgebiete.“

bb) Das Politbüro nahm unter Mitwirkung aller drei Angeklagten am 11. Juni 1985 in Vorbereitung des vom 17. bis zum 21. April 1986 stattfindenden XI. Parteitages zustimmend einen „Bericht der politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee über die politisch-ideologische Arbeit zur Verwirklichung des vom X. Parteitag der SED übertragenen Klassenauftrags“ zur Kenntnis und nahm zu diesem Bericht positiv Stellung. In dem Bericht wurde dargelegt, wie die Nationale Volksarmee den „Klassenauftrag“ des X. Parteitages erfüllt hatte: „Einen bestimmenden Einfluß auf die Wehrmotivation übt die von der überwiegenden Mehrheit vertretene Auffassung aus, daß jeder, der die DDR angreift, als Feind betrachtet und bedingungslos bekämpft werden muß. … Stets handeln die Kommunisten in den Streitkräften nach dem Grundsatz: Die Gewährleistung einer ständig hohen Gefechtsbereitschaft ist letztlich der entscheidende Maßstab wirksamer Parteiarbeit. Dafür sprechen die in der gesamten Periode nach dem X. Parteitag bei der Verwirklichung der Befehle 100 und 101 des Ministers für Nationale Verteidigung erreichten Ergebnisse.“ Das Politbüro schloß aus diesem Bericht, daß die Parteiorganisationen der SED in der Nationalen Volksarmee und in den Grenztruppen der DDR den vom X. Parteitag der SED gestellten „Klassenauftrag“ zuverlässig erfüllt hätten; das Politbüro empfahl, unter anderem die Aufgabe in den Mittelpunkt der politischen Arbeit zu stellen, daß die Nationale Volksarmee „jederzeit und unter allen Bedingungen gemäß ihrem Klassenauftrag entschlossen und erfolgreich“ handele. Besonders in der mündlichen Argumentation sei „das illusionslose Feindbild über den politischen Gegner zu festigen“. Der in Bericht und Stellungnahme in Bezug genommene „Klassenauftrag“ für die Grenztruppen war durch den X. Parteitag wie folgt festgelegt worden: Für Nationale Volksarmee und Grenztruppen der DDR sei es „Klassenauftrag, die sozialistische Ordnung und das friedliche Leben der Bürger der DDR und aller Staaten der sozialistischen Gemeinschaft gegen jegliche Angriffe der aggressiven Kräfte des Imperialismus und der Reaktion zu schützen, die Souveränität der DDR, ihre territoriale Integrität, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und ihre staatliche Sicherheit zu gewährleisten“. Bericht und Stellungnahme wurden den Grundorganisationen der SED in der Nationalen Volksarmee und den Grenztruppen der DDR zur Auswertung überlassen.

Am 1.. März 1986 bestätigte das Politbüro unter Mitwirkung aller drei Angeklagten den Entwurf des Berichts des Zentralkomitees an den XI. Parteitag der SED. In diesem Entwurf, der insoweit bis auf unwesentliche sprachliche Abweichungen mit dem später einstimmig auf dem XI. Parteitag beschlossenen Bericht des Zentralkomitees übereinstimmte, ist ausgeführt, die Grenztruppen der DDR „erfüllten standhaft ihren Klassenauftrag, die sozialistische Ordnung und das friedliche Leben der Bürger gegen jeden Feind zu schützen“; es bleibe ihr Auftrag, „die Souveränität, die territoriale Integrität, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Sicherheit der DDR zu gewährleisten“. Mit seinem Beschluß legte das Politbüro den „Klassenauftrag“ für die Grenztruppen vom XI. bis zum XII. Parteitag fest, der besagte, daß weiterhin die Schußwaffe gegen einen Flüchtling anzuwenden sei, wenn anders das Überwinden der Grenze nicht verhindert werden könne, und notfalls auch sein Tod in Kauf zu nehmen sei.

Die Beschlüsse des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986 bedeuteten die Bestätigung des Auftrags an die mit der Grenzsicherung befaßten Organe, in der bisher praktizierten Art und Weise die Unverletzlichkeit der Grenzen der DDR zu gewährleisten.

cc) Die Formulierung des „Klassenauftrags“ in der Sitzung des Politbüros vom 11. März 1986 war die letzte sich auf die Grenzsicherung unmittelbar beziehende Beschlußfassung der Angeklagten als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats bzw. des Politbüros. Der Nationale Verteidigungsrat befaßte sich danach nicht mehr mit diesem Themenkreis, das Politbüro war in den folgenden Jahren bis zu seiner Auflösung nur noch mittelbar mit diesem Themenkreis befaßt, etwa durch die Bestätigung einer Rede des Ministers für Nationale Verteidigung zum 40. Jahrestag der Grenztruppen, der Beschäftigung mit Fragen der Aus- und Übersiedlung und der Wahrung der Menschenrechte und der Kenntnisnahme von Gesprächen mit Politikern. Bis weit in das Jahr 1989 hinein verhielt sich das Politbüro diesbezüglich äußerst restriktiv und machte in einer Reihe von Entscheidungen unmißverständlich deutlich, daß es weiterhin keine Freizügigkeit und keinen unkontrollierten Grenzübertritt für Bürger der DDR geben dürfe.

b) Die dargestellten Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats und des Politbüros waren kausal für die Tötung von Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy.

aa) Der Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 nahm in den folgenden Jahren bestimmenden Einfluß auf die Aufrechterhaltung des Grenzregimes. So wurde in den Befehlen Nr. 101/85 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 27. September 1985, Nr. 80/85 des Stellvertreters des Ministers und Chef der Grenztruppen vom 18. Oktober 1985 und Nr. 40/85 des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte vom 6. November 1985 ausdrücklich auf diesen Beschluß Bezug genommen und angeordnet, „Grenzdurchbrüche“ zu verhindern. Diese Befehle wurden durch den Befehl Nr. 20/85 vom Kommandeur des zum Grenzkommando Mitte gehörenden Grenzregiments 38 in Henningsdorf und durch die daraus folgende Vergatterung der einzelnen Soldaten umgesetzt. Infolge dieser Befehlskette wurde am 24. November 1986 durch Dauerfeuer der Grenzsoldaten Michael Bittner getötet, als er die innerdeutsche Grenze im Kreis Oranienburg (DDR) nach Berlin-West überqueren wollte.

bb) Die Beschlüsse des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986 waren in der Folgezeit auch Grundlage der Befehle Nr. 101/86 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 6. Oktober 1986, Nr. 80/86 des Chefs der Grenztruppen, Nr. 40/86 des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte, Nr. 20/86 des des Kommandeurs des im Grenzkommando Mitte gelegenen Grenzregiments 33 und mündeten in die Vergatterung der Grenzsoldaten der ersten Grenzkompanie des Grenzregiments 33. Aufgrund dieser Befehlskette wurde am 12. Februar 1987 Lutz Schmidt durch Einzelfeuer getötet, als er die innerdeutsche Grenze von Berlin-Ost nach Berlin-West überqueren wollte.

cc) Neben dem vom Politbüro inhaltlich bestimmten „Klassenauftrag“ für die Grenztruppen waren auch der in den Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats vom 2. Februar 1984 und vom 25. Januar 1985 aufrechterhaltene Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 1. Juli 1983 ausdrücklich genannte Grundlage der im Jahr 1988 im Bereich der Grenztruppen erteilten Befehle. Aufgrund dieser Beschlüsse erließ der Minister für Nationale Verteidigung am 12. September 1988 den Befehl 101/88, in dem er unter anderem die Verhinderung von „Grenzdurchbrüchen“ und den pionier- und signaltechnischen Ausbau der Grenzanlagen anordnete. Auf Grundlage dieses Befehls ergingen die Befehle Nr. 80/88 des Chefs der Grenztruppen, Nr. 40/88 des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte, Nr. 20/88 des Kommandeurs des Grenzregiments 33 und erfolgte schließlich die Vergatterung der Grenzsoldaten im Spätdienst der ersten Grenzkompanie des Grenzregiments 33. Als Folge dieser Vorgaben wurde am 5. Februar 1989 Chris Gueffroy durch Einzelfeuer getötet, als er die innerdeutsche Grenze von Berlin-Ost nach Berlin-West überqueren wollte.

V. Zu den Vorstellungen der Angeklagten hat das Landgericht festgestellt:

1. Die Mitglieder des Politbüros wurden regelmäßig über Vorfälle mit gewaltsam verhinderten Fluchten und über unter aufsehenerregenden Umständen gelungene Fluchten informiert. Im übrigen standen ihnen die westlichen Medien zur Verfügung, die über Ereignisse an der Grenze berichteten. Ihnen war bekannt, daß die praktizierte Form der Grenzsicherung im westlichen Ausland als menschenrechtswidrig angesehen und scharf kritisiert wurde.

2. Der Angeklagte Krenz strebte stets die Unüberwindbarkeit der innerdeutschen Grenze an. Zwar war es ihm von Beginn seiner Tätigkeit als Sekretär des Zentralkomitees und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats und des Politbüros ein Anliegen, die Grenzsicherungsanlagen so zu gestalten, daß es möglichst nicht zum Schußwaffeneinsatz gegenüber Flüchtlingen zu kommen brauchte. Gleichwohl nahm er im Tatzeitraum den nicht erstrebten, stets als möglich erkannten tödlichen Erfolg der von ihm mitgestalteten Grenzsicherung billigend in Kauf und maß dem Leben der Flüchtenden geringere Bedeutung bei als dem Ziel der Fluchtverhinderung.

Bei seiner Mitwirkung an den genannten Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats war dem Angeklagten Krenz die Ausgestaltung der praktizierten Grenzsicherung detailliert bekannt. Er war insbesondere darüber informiert, daß die Grenzsoldaten gegenüber Flüchtlingen die Schußwaffe – mit möglicherweise tödlichen Folgen für den Flüchtling – anwendeten, wenn anders ein unerlaubtes Überwinden der Grenzsperranlagen nicht zu verhindern war. Ihm war bekannt, daß die Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats durch das Ministerium für Nationale Verteidigung umgesetzt wurden und daß aufgrund der von ihm mitgetragenen Beschlüsse es zu einem weiteren Ausbau der Grenzsperranlagen und einer Verfestigung des Grenzregimes mit möglicherweise tödlichen Folgen für die Flüchtlinge kommen würde.

3. Bei ihrer Mitwirkung an den Beschlüssen des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986 war allen drei Angeklagten bewußt, daß den Beschlüssen des Politbüros praktisch absolute Bindungswirkung gegenüber sämtlichen staatlichen Organen innerhalb der DDR zukam. Sie wußten und wollten, daß ihre in den Beschlüssen zum Ausdruck gebrachte Billigung der bisher praktizierten Grenzsicherung den Minister für Nationale Verteidigung veranlassen würde, mit seinen in der Folgezeit zu erlassenden Befehlen das bestehende Grenzregime aufrechtzuerhalten und zu festigen. Auch wenn nicht festgestellt werden konnte, daß die Angeklagten Kleiber und Schabowski in gleicher Weise wie der Angeklagte Krenz detailliert über die Ausgestaltung des Grenzsicherungssystems informiert waren, war ihnen doch bekannt, daß die Grenzsoldaten gegenüber Flüchtlingen die Schußwaffe anwendeten, wenn anders ein unerlaubtes Überwinden der Grenzsperranlagen nicht zu verhindern war. Ihnen war bekannt, daß sie mit den von ihnen getragenen Beschlüssen das Grenzregime aufrechterhalten und daß sich hierdurch weitere Todesfälle ereignen würden. Die Tötungen strebten sie nicht an. Ihr Ziel war es, die Grenzsicherungsanlagen in einem möglichst unüberwindbaren Zustand zu erhalten. Sollte dieses Ziel nur um den Preis des Lebens einzelner Flüchtlinge zu verwirklichen sein, fanden sie sich auch damit ab.

B.

Die Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg.

I. Sämtliche von den Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sind, soweit sie zulässig sind, unbegründet. Der Erörterung bedürfen nur folgende Rügen:

1. Die von den Angeklagten Schabowski und Krenz in ähnlicher Weise erhobene Rüge, das Landgericht habe sich im Urteil zu Wahrunterstellungen – betreffend die Befehlslage an der innerdeutschen Grenze – in Widerspruch gesetzt und damit gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO verstoßen, greift nicht durch.

a) Die Verteidigung des Angeklagten Krenz hat einen Antrag auf Anhörung der Zeugen Leonhardt und Behrend gestellt, dem sich der Angeklagte Schabowski angeschlossen hat: Der Zeuge Leonhardt, zuletzt im militärischen Rang eines Generalleutnants bei den Grenztruppen der DDR und langzeitiger Vertreter des Chefs der Grenztruppen und Chef des Stabes bzw. Chef der Ausbildung der Grenztruppen, und der Zeuge Behrend, zuletzt im Rang eines Oberst und Leiter der Abteilung Grenztruppen im Hauptstab der Nationalen Volksarmee, würden unter anderem bekunden, ihnen sei aufgrund ihrer militärischen Funktion und ihres Ranges die seit Erlaß des Grenzgesetzes bis zum November 1989 geltende Befehlslage zum Einsatz der Schußwaffe bei den Grenztruppen der DDR genau bekannt gewesen; die Grenzsoldaten seien anhand des Grenzgesetzes und der geltenden Befehlslage ausgebildet und geschult worden; den Zeugen sei ein Befehl dahingehend, daß „Grenzverletzer als letztes Mittel zur Verhinderung eines Grenzdurchbruchs auch zu erschießen seien“, nicht bekannt geworden, sie hätten einen solchen Befehl weder erteilt noch erhalten; es habe die klare Befehlslage bestanden, bei gezieltem Schießen (nur) mit Einzelfeuer gegen die unteren Extremitäten des/der „Grenzverletzer“ zu schießen. Diesen Antrag hat die Strafkammer abgelehnt und nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO die Beweisbehauptungen als wahr unterstellt.

b) Gegen die Wahrunterstellungen hat die Strafkammer im Urteil nicht verstoßen. Der Erörterung bedarf nur folgendes:

aa) Die Feststellung im angefochtenen Urteil, es „bestand in den Grenztruppen der DDR bis zum Jahre 1989 nicht ein Befehl des Inhalts, Fluchtwillige bewußt und absichtlich zu erschießen, wohl aber eine verpflichtende Anordnung für die Grenzsoldaten, auf einen Flüchtling zur Verhinderung des Grenzübertrittes zu schießen, selbst wenn hierbei die Tötung des Flüchtlings nicht ausgeschlossen werden konnte“ (UA S. 68 f.), verstößt nicht gegen die Wahrunterstellung, die benannten Zeugen hätten einen Befehl, „daß Grenzverletzer als letztes Mittel zur Verhinderung eines Grenzdurchbruchs auch zu erschießen seien“, weder gekannt noch erhalten oder erteilt. Das Landgericht hat einen Schießbefehl in diesem Sinn, der einen direkten Tötungsvorsatz der Beteiligten implizieren würde, nicht festgestellt, sondern ist davon ausgegangen, daß beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen auf einen Flüchtling geschossen werden mußte, auch wenn hierbei die Tötung des Flüchtlings nichts ausgeschlossen werden konnte.

bb) Ebenso wenig widerspricht die Feststellung, „ohne ausdrücklich das Schießen zu benennen, implizierte der Klassenauftrag für die Grenzsoldaten, im Namen der Arbeiterklasse nicht nur gerechtfertigt, sondern aus politischen Gründen sogar verpflichtet zu sein, auf Flüchtende zu schießen …“ (UA S. 179), dem als wahr unterstellten Befehl, die Schußwaffe dürfe als allerletztes Mittel eingesetzt werden, „um eine Fluchtunfähigkeit des/der Grenzverletzer zu erreichen“. Diese Wahrunterstellung ist mit einer verpflichtenden Anordnung für die Grenzsoldaten, auf einen Flüchtling zur Verhinderung eines Grenzübertrittes zu schießen, „selbst wenn hierbei die Tötung des Flüchtlings nicht ausgeschlossen werden konnte“ (UA S. 68 f.), durchaus vereinbar. Bloße Körperverletzungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz können nebeneinander vorliegen.

cc) Danach bleibt als mögliche Divergenz zwischen dem Wortlaut der Wahrunterstellung und dem angefochtenen Urteil allein folgendes: Die Strafkammer hat als wahr unterstellt, „die Schußwaffe habe mit Einzelfeuer (gemeint sein dürfte: nur mit Einzelfeuer) gegen die unteren Extremitäten des/der Grenzverletzer … eingesetzt werden dürfen“. Gleichwohl ist die Strafkammer im Urteil davon ausgegangen, „daß diese offizielle Befehlslage letztlich keine Bedeutung hatte … Die Grenzsoldaten hätten natürlich auch mit Dauerfeuer schießen dürfen … Ein Grenzsoldat, der mit Dauerfeuer auf einen „Grenzverletzer“ geschossen habe, habe nicht gegen die Befehlslage verstoßen, wenn er zunächst einen Warnruf, dann einen Warnschuß in die Luft und dann einen oder mehrere auf das Ziel gerichtete Schüsse abgegeben habe“ (UA S. 204 f.).

Dieser Divergenz im Wortlaut entspricht jedoch – nach dem zugrunde zu legenden gemeinsamen Verständnis seitens des Gerichts und der Antragsteller – keine Divergenz in der Sache. Die Strafkammer hat bei der Bescheidung des Beweisantrages – wie für alle Beteiligten erkennbar – allein die „offizielle Befehlslage“ behandelt, im Urteil hingegen auf die „tatsächliche Befehlslage“ an der innerdeutschen Grenze abgestellt. Ein Rechtsfehler liegt hierin nicht.

Allerdings gilt für die Behandlung einer Wahrunterstellung folgendes: Die Beweisbehauptung ist in ihrer aus Sinn und Zweck des Beweisantrages sich ergebenden Bedeutung, ohne Einengung, Umdeutung oder sonstige dem Antragsteller nachteilige inhaltliche Änderung als wahr zu behandeln (Herdegen in KK 4. Auflage § 244 Rdn. 94 m. N. der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Indes kann dabei nicht außer acht gelassen werden, daß die Bescheidung von Beweisanträgen eine in besonderer Weise formalisierte Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten, ein Dialog zwischen Antragsteller und Gericht ist (vgl. hierzu Basdorf StV 1995, 310, 318 f.). Deshalb ist die Bescheidung eines jeden Beweisantrages auch vor dem Hintergrund zu sehen, welche Informationen die Verfahrensbeteiligten bei Stellung und Bescheidung des Antrags hatten, was sie mithin notwendigerweise vorausgesetzt haben.

Unter diesen Gesichtspunkten gilt hier eine Besonderheit: Während es bei der Bescheidung eines Beweisantrages regelmäßig um Beweisbehauptungen geht, deren Wahrheitsgehalt für alle Verfahrensbeteiligten – außer den Geschehensbeteiligten – völlig im Dunklen liegt, ging es hier um einen Sachverhalt, der durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kenntnis aller Verfahrensbeteiligten vorstruktuiert war. Im Zeitpunkt der Stellung und Bescheidung des Beweisantrags (am 19. Juni 1997) war allen Beteiligten die bis dahin ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem vorliegenden Problem bekannt: Der Bundesgerichtshof hatte bereits in seinem zweiten Urteil zum Komplex vorsätzlicher Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR an der Berliner Mauer (BGHSt 39, 168) aufgrund der dort zugrunde gelegten Feststellungen die Gespaltenheit der Befehlslage, insbesondere die Verschiedenheit zwischen den „offiziellen Anweisungen“ einerseits und den den Grenzsoldaten vermittelten Regeln andererseits erörtert (insbesondere aaO S. 169 ff., 187 f.). Das bezog sich auch auf die Fragen, ob mit Einzel- oder Dauerfeuer und auf welche Körperteile geschossen werden durfte (aaO S. 170, 188). Dabei hatte der Bundesgerichtshof sogar die vom damaligen Tatrichter verwendete Bezeichnung des Phänomens als „eine Art perfider Doppelstrategie“ zitiert (aaO S. 170, 187). Auch im Urteil BGHSt 40, 218, betreffend Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, hatte der Bundesgerichtshof den Unterschied zwischen der Gesetzeslage nach dem Grenzgesetz und der tatsächlichen Befehlslage an der Grenze dargestellt (aaO S. 222 ff.). Hieran anknüpfend war auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß BVerfG 95, 96 davon ausgegangen, daß die Gesetzeslage von anders lautenden Befehlen überlagert war (aaO S. 136). Dies alles haben die Antragsteller und die Strafkammer in ihrem Dialog im Rahmen der Behandlung des Beweisantrages zugrunde gelegt. Schließlich hat die Strafkammer mit ihrer subtil differenzierten Bescheidung des gesamten Beweisantrages deutlich gemacht, daß sie an die genannte Differenzierung anknüpft. Daß den Angeklagten durch ihr Vertrauen auf die Einhaltung der Wahrunterstellung andere wirksame Verteidigungsmöglichkeiten entgangen sein könnten, ist ebenfalls auszuschließen.

Im übrigen würde auf einer solchen Divergenz das Urteil nicht beruhen. Denn das Landgericht ist dem Chef der Grenztruppen Baumgarten gefolgt. Dieser hat als Zeuge dem Landgericht – geradezu freimütig – berichtet, daß es nur eine Empfehlung gewesen sei, mit Einzelfeuer zu schießen. Diese Empfehlung sei deshalb gegeben worden, weil man mit Einzelfeuer genauer habe schießen können. Die Grenzsoldaten hätten natürlich auch mit Dauerfeuer schießen dürfen. Wenn dies nicht so gewesen wäre, hätte man sie anders ausrüsten müssen. Man hätte sie dann mit einem Karabiner oder einer ähnlichen Waffe ausrüsten müssen, die kein Dauerfeuer habe abgeben können. Ein Grenzsoldat, der mit Dauerfeuer auf einen Grenzverletzer geschossen habe, habe nicht gegen die Befehlslage verstoßen, wenn er zunächst einen Warnruf, dann einen Warnschuß in die Luft und dann einen oder mehrere auf das Ziel gerichtete Schüsse abgegeben habe. Der Senat schließt aus, daß das Landgericht gegenteiligen Aussagen der dem Zeugen Baumgarten in der militärischen Hierarchie untergeordneten Zeugen Leonhardt und Behrend einen höheren Beweiswert beigemessen hätte als den selbstbelastenden Angaben des Zeugen Baumgarten.

2. Auch die Rüge des Angeklagten Krenz, das Landgericht habe unter Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO eine weitere zugesagte Wahrunterstellung – betreffend die Souveränität der DDR – nicht eingehalten, greift nicht durch.

a) Am 19. September 1996 hat die Verteidigung des Angeklagten Krenz beantragt, mehrere Politiker und Beamte der Bundesrepublik Deutschland, nämlich die Zeugen Egon Bahr, Horst Grabert, Ulrich Müller, Prof. Gerhard Heimann, Klaus Schütz und Dr. Hans-Otto Bräutigam, zum Beweis des Folgenden zu vernehmen: Die benannten Zeugen hätten in verschiedenen Verhandlungen mit Funktionsträgern der DDR und der UdSSR auf verschiedentlichen Ebenen seit den 60er Jahren bis zum Ende der DDR „festgestellt“, daß die DDR im Sicherheitsbereich und in der Gestaltung des Grenzregimes nicht souverän gewesen sei, sondern Entscheidungen in diesen Bereichen ausschließlich durch die zuständigen Dienststellen und Funktionsträger der Sowjetunion getroffen worden seien und eigene Entscheidungen der DDR nicht möglich gewesen seien. Die DDR sei „nach Beobachtungen und Einschätzung der Zeugen“ trotz der unter Beweis gestellten Einschränkung der Souveränität nach außen ständig bemüht gewesen, vermeintlich vorhandene Souveränität darzustellen, die sie jedoch tatsächlich im Verhältnis zur Sowjetunion nicht besessen habe. Am 10. Februar 1997 hat das Landgericht diesen Antrag abgelehnt und zugesagt, die in das Wissen der Zeugen gestellten Tatsachen so zu behandeln, als seien sie wahr. Auf Antrag der Verteidiger der Angeklagten Schabowski und Krenz hat das Landgericht durch Beschluß vom 13. Februar 1997 „zur Klarstellung“ darauf hingewiesen, daß nur Tatsachen bzw. Indiztatsachen der Wahrunterstellung im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO unterfielen und daß der Beschluß vom 10. Februar 1997 keine über den Beschlußwortlaut hinausgehende Wahrunterstellung über Wertungen oder Negativtatsachen, die als Beweisziel angegeben worden seien, enthalte; Wertungen, die in das Wissen eines Zeugen gestellt würden, seien nicht Gegenstand der Beweisaufnahme und damit auch nicht Gegenstand einer die Tatsachen betreffenden Wahrunterstellung.

Die Verteidigung des Angeklagten Krenz hat den Antrag auf Vernehmung der besagten Zeugen wiederholt, diesmal allerdings das Fehlen einer Souveränität der DDR im Sicherheitsbereich und in der Gestaltung des Grenzregimes unmittelbar als Beweisthema genannt. Mit Beschluß vom 12. Mai 1997 hat das Landgericht auch diesen Antrag abgelehnt; es hat darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Antrag mangels konkreter Tatsachenbehauptungen nur um einen Beweisermittlungsantrag handele; die Angabe der nur pauschal behaupteten, den einzelnen Zeugen nicht konkret zuzuordnenden negativen Schlußfolgerungen und die zusammenfassende Wertung sei der Beweisaufnahme über Tatsachen nicht zugänglich.

Zur Frage der Souveränität der DDR hat das Landgericht im Urteil festgestellt, daß die DDR während der gesamten Dauer ihres Bestehens nicht uneingeschränkt souverän in ihren Entscheidungen war; den Angeklagten seien jedoch bei der Frage der Abschaffung des Schußwaffengebrauchs an der Grenze Handlungsspielräume verblieben (UA S. 201).

b) Die Rüge ist unbegründet. Das Landgericht hat die zugesagte Wahrunterstellung eingehalten und ist in der Beweiswürdigung davon ausgegangen, daß die benannten Zeugen „festgestellt“ haben, daß die DDR in Fragen des Grenzregimes keine Entscheidungen treffen durfte. Das Landgericht hat jedoch nicht zugesagt, als wahr anzusehen, daß die DDR tatsächlich keinerlei Handlungsspielräume gehabt habe. Die Wahrunterstellung bezieht sich nur auf das Faktum der Wahrnehmung der Zeugen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des ablehnenden Beschlusses, wie ihn die Verteidigung auch verstanden hat, da sie in der Folgezeit diesbezüglich Hinweise beantragt hat, den Antrag umformuliert und wiederholt sowie einen der Zeugen selbst in die Hauptverhandlung geladen hat, wie sich im übrigen auch mit aller Deutlichkeit aus dem Hinweisbeschluß des Landgerichts vom 13. Februar 1997 und dem Beschluß vom 12. Mai 1997 ergibt.

Das Landgericht hat mit der Ablehnung des Antrags das Beweisthema nicht unter Verletzung des Beweisantragsrechts verengt. Denn der Antrag ist allein in der Auslegung, die das Landgericht ihm gegeben hat, ein Beweisantrag. Jenseits dessen handelt es sich bei dem Antrag lediglich um einen Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung der Beschwerdeführer nicht in der dafür gebotenen Weise, nämlich mit einer Aufklärungsrüge, beanstandet hat (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 9).

Die Frage, ob und in welchem Umfang die DDR souverän war und in Grenzfragen Entscheidungen fällen durfte, ist – wie das Landgericht zutreffend gesehen hat – eine Wertung, eine Schlußfolgerung aus einer Vielzahl von (historischen) Tatsachen. Dem Zeugenbeweis sind jedoch nur bestimmte Beweistatsachen zugänglich. Eine Zeuge kann grundsätzlich nur über seine eigenen Wahrnehmungen vernommen werden; Gegenstand des Zeugenbeweises können nur solche Umstände oder Geschehnisse sein, die mit dem benannten Beweismittel unmittelbar bewiesen werden sollen. Soll aus den Wahrnehmungen des Zeugen auf ein bestimmtes weiteres Geschehen geschlossen werden – hier auf den Umfang der Souveränität der DDR -, ist nicht dieses weitere Geschehen, sondern nur die Wahrnehmung des Zeugen tauglicher Gegenstand des Zeugenbeweises. Die Schlüsse aus den Wahrnehmungen des Zeugen hat das Gericht zu ziehen (BGHSt 39, 251, 253). Konkrete (objektive) Tatsachen, über die das Landgericht durch Vernehmung der benannten Zeugen hätte Beweis erheben können und müssen, waren in beiden Anträgen jedoch nicht genannt; trotz entsprechenden Hinweises durch die Tatrichter hat der Beschwerdeführer solche Tatsachen auch später nicht vorgetragen.

3. Die Rüge des Angeklagten Krenz, das Landgericht habe gegen eine Verpflichtung aus § 265 StPO verstoßen, ist unbegründet.

Darüber, daß er statt wegen Unterlassens – wie in der Anklage allein angenommen – auch wegen aktiven Tuns verurteilt werden könnte – ist der Angeklagte schon durch den Eröffnungsbeschluß unterrichtet worden. Das Landgericht hat die Tathandlungen des Angeklagten in dessen Mitwirkung an vier Gremienbeschlüssen gefunden. Davon waren die beiden Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrates vom 2. Februar 1984 und vom 25. Januar 1985 bereits im Anklagesatz genannt. Darauf, daß auch die beiden Beschlüsse des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986 als „aktive Tatbeiträge der Angeklagten“ in Betracht kämen, hat das Landgericht durch Beschluß vom 17. März 1997 ausdrücklich hingewiesen. Eines weiteren Hinweises bedurfte es unter den Gesichtspunkten des § 265 StPO nicht, wenngleich weitere Beschlüsse des Politbüros im Anklagesatz genannt waren und zusätzliche in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Dies gilt schon angesichts dessen, daß das Verfahren durch Beschluß vom 17. April 1997 auf den Tatzeitraum vom 2. Februar 1984 bis zum 5. Februar 1989 beschränkt worden ist.

4. Ebenso wenig hat die Rüge des Angeklagten Kleiber Erfolg, das Landgericht habe einen Antrag auf kommissarische Vernehmung von zwei russischen Zeugen nicht ablehnen dürfen.

a) Der Angeklagte Kleiber hat sich einem Antrag der Verteidigung des Angeklagten Krenz angeschlossen, mit dem beantragt worden war, die Zeugen Abrassimow (ehemaliger Botschafter der UdSSR in der DDR) und Belezki (ehemaliger Botschaftsrat der Botschaft der UdSSR in der DDR) durch die drei Berufsrichter der erkennenden Schwurgerichtskammer als beauftragte Richter in Moskau zu vernehmen. Als Beweisthema waren bestimmte Behauptungen zur Entscheidungskompetenz der Führung der DDR genannt. Das Landgericht hat die kommissarische Vernehmung der Zeugen abgelehnt, weil die Zeugen unerreichbar seien. Die Zeugen hätten sowohl eine Vernehmung in Deutschland als auch eine solche in Moskau durch ein russisches Gericht abgelehnt; ihr Erscheinen könne nicht erzwungen werden. Darüber hinaus hat das Landgericht eine Vernehmung durch ein russisches Gericht abgelehnt, weil diese keinen Erfolg verspreche. Nach der Sach- und Beweislage könne nur die Vernehmung vor dem erkennenden Gericht die erforderliche Ausschöpfung des Beweismittels gewährleisten und die notwendigen Anknüpfungstatsachen für die Beurteilung des Beweiswertes der Zeugenaussage erbringen. Die beantragte Vernehmung durch die drei Berufsrichter komme ebenfalls nicht in Betracht: Zunächst bestehe keine Rechtspflicht des erkennenden Gerichts, sich ins Ausland zu begeben, um dort einen Zeugen zu vernehmen. Zudem bestehe lediglich die Möglichkeit, die Zeugen durch ein russisches Gericht in Anwesenheit der Berufsrichter des erkennenden Gerichts vernehmen zu lassen; ein solches Verfahren sei zur Sachaufklärung ungeeignet und ohne Beweiswert, da spontane Fragen und Vorhalte zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht möglich seien. Insoweit seien die Zeugen ungeeignet.

b) Diese Bescheidung des Antrags enthält keinen Rechtsfehler.

aa) Die beiden Zeugen waren unerreichbar im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO. Solche Unerreichbarkeit liegt vor, wenn der Tatrichter unter Beachtung der ihm obliegenden Aufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechenden Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht besteht, daß dieser in absehbarer Zeit als Beweismittel herangezogen werden kann (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 1 und 13; BGH, Urteil vom 16. Dezember 1998 – 2 StR 425/98 – ). Die Zeugen haben der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, sie seien nicht bereit, einer Vorladung zur Hauptverhandlung Folge zu leisten; auch haben die Zeugen eine Vernehmung durch ein russisches Gericht abgelehnt. Diese Ablehnung umfaßt auch die etwaige Möglichkeit einer Vernehmung durch ein russisches Gericht in Anwesenheit der Berufsrichter des entscheidenden Gerichts. Diese Weigerung der Zeugen, zur Vernehmung durch das erkennende Gericht zu erscheinen oder sich durch ein russisches Gericht vernehmen zu lassen, begründet, da ein Erscheinen der Zeugen nicht erzwungen werden kann und nichts dafür spricht, daß sich die Zeugen umstimmen lassen würden (und auch der Beschwerdeführer nichts derartiges mitgeteilt hat), ein nicht zu beseitigendes Hindernis im Hinblick auf die Vernehmung sowohl durch das erkennende Gericht als auch durch ein russisches Gericht (vgl. Herdegen in KK 4. Aufl. § 244 Rdn. 82 m. N.).

bb) Im übrigen waren die Zeugen, die jedenfalls für die Vernehmung in der Hauptverhandlung unerreichbar waren, für eine kommissarische Vernehmung völlig ungeeignete Beweismittel im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, wie das Landgericht in dem ablehnenden Beschluß zutreffend ausgeführt hat. Eine Vernehmung durch den kommissarischen Richter im Wege der Rechtshilfe ist nämlich nicht sinnvoll, sondern nutzlos und überflüssig – insoweit ist der Zeuge dann ein ungeeignetes Beweismittel -, wenn durch die Verlesung der Niederschrift über die kommissarische Vernehmung das Beweisergebnis nicht beeinflußt werden kann, weil von vornherein abzusehen ist, daß nur die Vernehmung vor dem erkennenden Gericht die nach Sach- und Beweislage erforderliche Ausschöpfung des Beweismittels gewährleistet (Herdegen in KK 4. Aufl. § 244 Rdn. 83). Ob nur eine Vernehmung eines Zeugen vor dem erkennenden Gericht zur Wahrheitsfindung beizutragen vermag, hat der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (BGH StV 1992, 548). Dies hat die Strafkammer getan und die für ihre Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte dargelegt. Diese Entscheidung, die notwendig eine gewisse Vorauswürdigung des Beweismittels erfordert (BGH GA 1971, 85, 86), unterliegt – vergleichbar der tatrichterlichen Beweiswürdigung – nur in eingeschränktem Umfang der revisionsgerichtlichen Überprüfung, kann also nur bei Widersprüchen, Unklarheiten, Verstößen gegen Denk- oder Erfahrungssätze oder damit vergleichbaren Mängeln vom Revisionsgericht beanstandet werden. Derartige Mängel sind hier nicht erkennbar. Damit ist die Entscheidung des Tatrichters vom Revisionsgericht hinzunehmen, das nicht sein Ermessen an die Stelle des tatrichterlichen Ermessens setzen kann (vgl. BGH NStE Nr. 134 zu § 244 StPO).

II. Die umfassende sachlichrechtliche Überprüfung der Schuldsprüche deckt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.

Das Landgericht hat den Angeklagten Krenz zum einen wegen seiner Mitwirkung am Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 2. Februar 1984 des Totschlags an dem am 1. Dezember 1984 erschossenen Michael-Horst Schmidt für schuldig befunden. Es hat weiter befunden, daß alle drei Angeklagte, der Angeklagte Krenz insoweit tatmehrheitlich zu der soeben genannten Tat, des tateinheitlich begangenen dreifachen Totschlags an dem am 24. November 1986 erschossenen Michael Bittner, an dem am 12. Februar 1987 erschossenen Lutz Schmidt und an dem am 5. Februar 1989 erschossenen Chris Gueffroy schuldig sind, und zwar alle drei Angeklagte aufgrund ihrer Mitwirkung an den Beschlüssen des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986, der Angeklagte Krenz zudem aufgrund seiner Mitwirkung am Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 25. Januar 1985. Ohne Rechtsfehler hat die Strafkammer das Recht der Bundesrepublik als das gegenüber dem Recht der DDR mildere Recht angewendet, dabei Kausalität nach beiden Rechtsordnungen bejaht, mittelbare Täterschaft durch aktives Tun angenommen und schließlich eine Rechtfertigung der Taten ausgeschlossen.

1. Die Strafkammer hat gemäß Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages i.V.m. § 2 StGB nach Vornahme des gebotenen Vergleichs der beiden in Betracht kommenden Rechtsordnungen das StGB als das mildere Recht angewendet. Der jeweils nach dem StGB gegebene Totschlag in mittelbarer Täterschaft ist mit geringerer Strafe bedroht als die jeweils vorliegende Anstiftung zum Mord nach dem StGB-DDR.

a) Sowohl für das StGB als auch für das StGB-DDR gilt: Die Handlungen der Angeklagten waren kausal für die Taterfolge. Die Beschlüsse des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates lösten die beschriebenen Befehlsketten bis hin zur Vergatterung der Schützen aus, waren – angesichts des „Klassenauftrags“ – Bedingungen für die tödlichen Schüsse.

aa) Die Strafkammer hat als Bedingung für die einzelnen Tötungen jeweils nur die zuvor ergangenen und im Befehlssystem weitergegebenen Beschlüsse der Gremien angesehen. Sie hat in diesem Zusammenhang die jeweiligen Anordnungsketten, beginnend mit den Beschlüssen des Politbüros bzw. des Nationalen Verteidigungsrates, fortgesetzt durch die militärischen Befehlsketten bis hin zur jeweiligen Vergatterung der tödlich schießenden Grenzsoldaten, lückenlos dargestellt.

Die Mitwirkung des Angeklagten Krenz am Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 2. Februar 1984 war kausal für die Tötung des Michael-Horst Schmidt am 1. Dezember 1984 um 3.18 Uhr, auch wenn bis zum 30. November 1984, 24.00 Uhr die alte Befehlslage, für die das Landgericht die Verantwortlichkeit des Angeklagten Krenz nicht festgestellt hat, und erst ab dem 1. Dezember 1984, 0.00 Uhr die neue, vom Angeklagten Krenz mitzuverantwortende Befehlslage gegolten hat. Das Landgericht mußte sich nicht ausdrücklich im Urteil mit der Frage auseinandersetzen, nach welcher Befehlslage die Grenzsoldaten bei Dienstantritt in der Nacht vom 30. November 1984 auf den 1. Dezember 1984 vergattert worden sind.

In jedem organisierten, gar militärischen Befehlssystem werden Befehle, die erst in der Zukunft wirken sollen, rechtzeitig innerhalb der Befehlshierarchie „nach unten“ bis zum letzten Glied der Befehlskette weitergegeben. Danach versteht es sich von selbst und bedurfte keiner Erörterung durch die Strafkammer, daß die Grenzsoldaten, die am Abend des 30. November 1984 ihren Dienst antraten, (auch) auf der Grundlage der ab Mitternacht geltenden Befehlslage vergattert wurden.

bb) Wie das gesamte weitere Geschehen sich entwickelt hätte, wenn die Angeklagten jeweils ihre Zustimmung zu den Gremienbeschlüssen verweigert hätten, ist rechtlich ohne Bedeutung.

Als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges ist jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele. Eine Handlung kann auch dann nicht hinweggedacht werden, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele, wenn die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit besteht, daß ohne die Handlung des Täters ein anderer eine – in Wirklichkeit jedoch nicht geschehene – Handlung vorgenommen hätte, die ebenfalls den Erfolg herbeigeführt haben würde (BGHSt 2, 20, 24). Daher trifft es zu, wenn die Strafkammer sagt: „Auch der Umstand, daß sich der Angeklagte Krenz möglicherweise nicht durchgesetzt hätte, wenn er dem … Beschluß (des Nationalen Verteidigungsrates vom 2. Februar 1984) nicht zugestimmt hätte, läßt die Kausalität nicht entfallen“ (UA S. 262). Unschädlich ist, daß die Strafkammer dabei – allzu verkürzt – formuliert, daß „hypothetische Kausalverläufe im Rahmen aktiver Handlungen unbeachtlich“ seien.

cc) Auch kannte das Recht der DDR – anders als die Revision des Angeklagten Schabowski meint – keinen „nach der im sozialistischen Strafrecht entwickelten Vorstellung von der Ursache-Wirkung-Beziehung der Kausalität, die auf die marxistisch-leninistische Philosophie über die Kausalität zurückgeht“, besonders engen Kausalitätsbegriff. Das Strafrecht der DDR fand Kausalität keineswegs allein in zweigliedrigen Beziehungen – Monokausalität -, sondern sehr wohl auch in komplexen Zusammenhängen – Multikausalität – (Strafrecht AT Lehrbuch DDR 2. Aufl. 1978 S. 242; Strafrecht der DDR Lehrbuch 1988 S. 188 ff., 198 f.).

b) Nach dem Recht der DDR haben die Angeklagten sich jeweils der Anstiftung zum Mord gemäß § 112 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR schuldig gemacht (vgl. BGHSt 40, 218, 231 f.). Dies würde zu einem Strafrahmen von zeitiger Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslänglicher Freiheitsstrafe führen.

Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch den erforderlichen Anstiftungsvorsatz festgestellt. Die Revision des Angeklagten Schabowski geht fehl in der Annahme, die nach dem Recht der DDR an den Anstiftervorsatz zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen seien nicht erfüllt. Die Anforderungen an die Bestimmtheit des Anstiftervorsatzes waren nach dem Strafrecht der DDR (vgl. StGB-Kommentar DDR 5. Aufl. 1987 § 22 Anm. 4; Strafrecht AT Lehrbuch DDR 2. Auf. 1978 S. 376) nicht schärfer als die entsprechenden nach § 26 StGB. Das Vorliegen dieses Elementes der subjektiven Tatseite hat die Strafkammer festgestellt.

c) Nach dem StGB sind die Angeklagten jeweils wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft gemäß § 212 Abs. 1, § 25 Abs. 1 Alternative 2 StGB strafbar. Dies führt zu einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Die Beteiligungsform der mittelbaren Täterschaft liegt in allen den Angeklagten zugerechneten Totschlagsfällen vor.

aa) Der Hintermann eines uneingeschränkt schuldhaft handelnden Täters kann dann mittelbarer Täter sein, wenn er durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen und bei Befehlshierarchien in Betracht. Handelt in einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus und will der Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er Täter in der Form mittelbarer Täterschaft. Er besitzt insbesondere die Tatherrschaft. In Anwendung dieser Grundsätze hat der Bundesgerichtshof die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates wegen ihrer Mitwirkung an dessen Beschlüssen als mittelbare Täter von solchen Tötungen angesehen, die aufgrund der durch diese Beschlüsse ausgelösten Befehlsketten an der innerdeutschen Grenze begangen wurden (BGHSt 40, 218; dazu Roxin JZ 1995, 49 und Gropp JuS 1996, 13).

bb) Alles dies gilt entsprechend für die Mitwirkung des Angeklagten Krenz an den Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrates vom 2. Februar 1984 und vom 25. Januar 1985 und die hierdurch – wie festgestellt – verursachten Tötungen.

cc) Nichts anderes gilt für die Mitwirkung der drei Angeklagten an den Beschlüssen des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986.

Das Landgericht hat die dominierende Rolle des Politbüros im Machtgefüge der DDR zutreffend bewertet. Als Mitglieder des Politbüros der SED gehörten die Angeklagten diesem Machtzentrum an, dessen Entscheidungen jedem staatlichen Handeln zugrunde lagen. Insoweit war in der Machthierarchie auch der Nationale Verteidigungsrat dem Politbüro untergeordnet, denn von dessen inhaltlichen Vorgaben hätte er nicht abweichen dürfen. Die Entscheidungen der Angeklagten als Mitglieder des Politbüros waren Grundlage für sämtliche Entscheidungen, Anordnungen und Befehle der mit der Grenzsicherung betrauten staatlichen Organe. Zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen nutzten die Angeklagten Organisationsstrukturen, die das Politbüro überwiegend selbst gestaltet hatte und an deren Aufrechterhaltung die Angeklagten kontinuierlich mitwirkten.

d) Der in den genannten Beschlüssen des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates den Grenztruppen erteilte „Klassenauftrag“ war – auf der Grundlage der bisherigen Praxis zum Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze – die Anweisung an den gegenüber dem Politbüro und dem Nationalen Verteidigungsrat weisungsabhängigen Verteidigungsminister, den Grenzsoldaten – wie bisher – den Befehl zum Schußwaffengebrauch zu erteilen. Dadurch haben die Angeklagten die Grenzsoldaten dazu bestimmt, auf Flüchtlinge zu schießen.

aa) Den Angeklagten kam es mit diesen Beschlüssen darauf an, durch von ihnen veranlaßte Befehle und die entsprechende Ausbildung bei den Grenzsoldaten folgende Vorstellung zu erwecken bzw. aufrechtzuerhalten: Wenn die Flucht nicht anders zu verhindern ist, muß der Soldat auf den Flüchtling gezielt schießen, um diesen fluchtunfähig zu machen. Das Risiko, dadurch den Flüchtling zu töten, ist in Kauf zu nehmen, weil die Unverletzlichkeit der Grenze höher einzuschätzen ist als der Verlust eines Menschenlebens.

Im Wortlaut der Beschlüsse des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates wurde diese Anweisung, notfalls mit bedingtem Tötungsvorsatz auf Flüchtlinge zur Fluchtverhinderung zu schießen, allerdings verklausuliert (vgl. BGHSt 39, 168, 170, 187: „perfide Doppelstrategie“). Diese – plakativ „Schießbefehl“ genannte – Anweisung verbarg sich hinter der Bezeichnung „Klassenauftrag“.

Der „Klassenauftrag“ stellte keine ideologische Leerformel dar. Er beanspruchte Geltung für sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche und enthielt insoweit durchaus unterschiedliche konkrete Handlungsanweisungen. Bezogen auf die Grenztruppen und deren Aufgaben hatte er den oben beschriebenen Inhalt. Militärische Vorgesetzte und Ausbilder haben den Grenzsoldaten immer wieder unmißverständlich deutlich gemacht, daß für sie, die Grenzsoldaten, mit der Pflicht zur Erfüllung des „Klassenauftrages“ gemeint war, die Grenzsicherung in der bisherigen Art und Weise, d.h. auch unter Inkaufnahme tödlicher Schüsse auf Flüchtlinge, zuverlässig zu gewährleisten.

Dies hat das Landgericht an Hand einer Fülle von Urkunden und Zeugenaussagen rechtsfehlerfrei festgestellt. Fluchtverhinderung war – wie der Stellvertreter des Kommandeurs für Grenzsicherung im Grenzkommando Mitte als Zeuge bekundet hat – der höchste „Klassenauftrag“ der Grenztruppen. Daraus sei dann der Handlungsauftrag erfolgt, zur Verhinderung einer Flucht die Schußwaffe anzuwenden. Von Seiten des Politbüros sei ganz klar definiert worden, was der Grenzsoldat zu tun gehabt hätte. Auch ein ehemaliger Politoffizier hat als Zeuge bekundet, er habe den Soldaten erklären müssen, das Schießen sei als letztes Mittel zur Fluchtverhinderung Teil des „Klassenauftrages“.

Im Rahmen ihrer Ausbildung wurde den Grenzsoldaten durch die Politoffiziere vermittelt, daß Flüchtlinge „Feinde des Friedens“, daß sie „Verräter“ und „Verbrecher“ seien, daß „jede Grenzverletzung ein Verbrechen“ sei. Sie wurden instruiert, daß jeder „Grenzverletzer seinen eigenen Tod in Kauf nähme“. In einer vertraulichen Verschlußsache der politischen Verwaltung der Grenztruppen vom Mai 1982 hieß es: „Der richtige und wirksame Einsatz der Schußwaffe im Grenzdienst ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern das zutiefst moralische und humanistische Recht eines jeden Angehörigen der Grenztruppen. … Noch nie wurden in der Geschichte unseres Volkes Waffen für eine edlere Sache getragen, wurde bewaffnete Gewalt im Interesse humanerer Ziele angewendet … .“ Die Schulung wurde sorgfältig darauf überprüft, ob sie mit dem „Klassenauftrag“ übereinstimmte; in den einzelnen Einheiten und Verbänden gab es besondere Kommissionen, die die Umsetzung kontrollierten.

Auf die Umsetzung und strikte Befolgung des so verstandenen „Klassenauftrags“ hat die militärische Führung ständig hingewirkt. So heißt es in einem Bericht des Stellvertreters der Grenztruppen vom Oktober 1986: „Bei einzelnen Angehörigen der Grenztruppen zeigen sich Erscheinungen der Angst im Grenzdienst. Nicht immer werden Angriffe auf die Staatsgrenze mit Entschlossenheit und wenn erforderlich auch unter Einsatz aller Mittel verhindert. … Wir haben daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß es erforderlich ist, noch tieferes Wissen zu vermitteln und nachhaltige Überzeugungen auszuprägen“. Das Sekretariat der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee nahm einen Bericht zustimmend zur Kenntnis, in dem es hieß: „Die Kommandeure, Politorgane … unternehmen große Anstrengungen, … daß der Grenzsoldat … sich mit dem Klassenauftrag identifiziert.“ In einer Anlage werden Verhaltensweisen der Soldaten bei gelungenen Fluchtversuchen kritisiert: „… in den letzten zwei Monaten bereits drei Grenzdurchbrüche, die durch die eingesetzten Kräfte nach Wahrnehmung der Grenzverletzer nicht unterbunden wurden … .“

Auch hochrangige Militärs haben immer wieder betont, daß die Grenztruppen alles tun würden, um den militärischen „Klassenauftrag“ zuverlässig zu erfüllen, so der Verteidigungsminister in seiner Rede auf dem X. Parteitag und der Chef der Grenztruppen in einem Referat vom November 1982.

bb) Auch haben das Politbüro und der Nationale Verteidigungsrat Organisationsstrukturen geschaffen, innerhalb derer ihre Anweisungen – wie von ihnen gewollt – in der militärischen Befehlshierarchie bis hin zu den tödlichen Schüssen regelhaft umgesetzt wurden.

In dem oben genannten Bericht des Stellvertreters des Chefs der Grenztruppen vom Oktober 1986 ist hervorgehoben worden, daß für die aus erfolgreichen Fluchtversuchen zu ziehenden Schlußfolgerungen etwa der Politbürobeschluß vom 11. Juni 1985 sehr wirksam gewesen sei. In dem Referat vom November 1986 hat der Chef der Grenztruppen betont, „daß sich der Parteieinfluß auf alle Seiten des … militärischen Lebens – wie es im Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 gefordert wird – erhöht. … Ein entscheidendes Problem der Motivation konsequenten und kompromißlosen Handelns im Grenzdienst ist mit der alten Erkenntnis verbunden, daß die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze nicht nur proklamiert werden darf, sondern auch garantiert, d.h. wenn erforderlich, erzwungen werden muß“. In seiner Rede vor Angehörigen der Grenztruppen im Januar 1986 hat der Angeklagte Krenz ausgeführt, daß „unsere Partei seit jeher der Achtung der Souveränität und Unantastbarkeit der Staatsgrenze größte Aufmerksamkeit schenkt“, und lobend erwähnt, daß es gelungen sei, „die besten Ergebnisse der Grenzsicherung seit 1961 zu erreichen“. Er hat dabei auch den Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 genannt. Ein Politoffizier hat als Zeuge bekundet, die „Beschlüsse des Politbüros seien heilig gewesen“ und der Verteidigungsminister habe auf einer Parteiaktivtagung gesagt, „die Beschlüsse des Politbüros werden unverzüglich in die entsprechenden Weisungen und Befehle umgesetzt“.

cc) Die hier in Rede stehenden Beschlüsse des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates verwendeten den Begriff des „Klassenauftrages“ in dem beschriebenen Sinne und gaben damit die oben beschriebene Anweisung zur Erteilung des Befehls, notfalls mit bedingtem Tötungsvorsatz auf Flüchtlinge zur Fluchtverhinderung zu schießen. Die jeweiligen Beschlüsse bewirkten eine ständige Perpetuierung des Grenzregimes und waren somit aktives Tun der Angeklagten.

Auch wenn der Beschluß des Nationalen Verteidigungsrats vom 2. Februar 1984 in erster Linie städtebauliche Maßnahmen im Grenzbereich in den Blick nimmt, wollte der Nationale Verteidigungsrat zugleich die „Sicherheit und Ordnung … im Grenzgebiet“ aufrechterhalten und damit das geltende Grenzregime – einschließlich des Befehls, jede Flucht, auch unter Inkaufnahme von Tötungen, zu verhindern – sichern. Durch ausdrückliche Bezugnahme auf den Beschluß des Nationalen Verteidigungsrats vom 1. Juli 1983 wird das Streben dieses Gremiums auch in dem Beschluß vom 2. Februar 1984 deutlich, daß die Grenztruppen ihren „Klassenauftrag“ erfüllten, „indem die Sperrfähigkeit, Funktionstüchtigkeit und Wirksamkeit der errichteten Anlagen … erhöht“ und verhindert werde, „daß Personen verletzt das Territorium der BRD erreichen“. Der Jahresbefehl 101/84 nimmt auf den „vom X. Parteitag der SED erteilten Klassenauftrag“ und die „Aufgabenstellung der Partei- und Staatsführung zum zuverlässigen Schutz der Staatsgrenze“ Bezug und enthält die Anordnung: „Die Anstrengungen zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen sind entscheidend zu verstärken“. In den Befehlen 80 und 40 wird zudem ausdrücklich befohlen: „Grenzdurchbrüche sind nicht zuzulassen.“

Der Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 25. Januar 1985 schreibt diese Vorgabe fort.

Mit dem – in allen Grundorganisationen der SED in der Nationalen Volksarmee zur Vorbereitung des XI. Parteitages verteilten – Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 bestätigte dieses Gremium einen Bericht der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee, der besagte, daß die Angehörigen der Nationalen Volksarmee den „Klassenauftrag“ unter Führung der Partei „getreu dem Fahneneid erfüllt“ hätten; dafür sprächen die bei der Verwirklichung der Befehle 100 und 101 erreichten Ergebnisse; man werde auch künftig „den Klassenauftrag ehrenvoll erfüllen“. In der Stellungnahme des Politbüros wird auf die „zuverlässige Erfüllung des vom Parteitag … gestellten Klassenauftrages und der zu seiner Verwirklichung erlassenen Befehle des Ministers für Nationale Verteidigung“ abgehoben. Das Politbüro empfahl, die Kommandeure sollten sicherstellen, daß die Nationale Volksarmee gemäß ihrem „Klassenauftrag“ entschlossen und erfolgreich handeln könne. Dementsprechend greifen die Befehle 101, 80, und 40 den ihnen erteilten „Klassenauftrag“ unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 auf.

Dem Beschluß des Politbüros vom 11. März 1986 lag ein Berichtsentwurf des Zentralkomitees für den XI. Parteitag zugrunde. Auch dort ist vom „Klassenauftrag“ die Rede; es bleibe der Auftrag der Grenztruppen, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu gewährleisten. Die Befehle 101, 80 und 40 greifen gleichfalls den den Grenztruppen erteilten „Klassenauftrag“ unter erneuter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985 auf.

e) Nach alledem sind die Angeklagten als mittelbare Täter (nach dem StGB) bzw. als Anstifter (nach DDR-Recht) – und nicht etwa nur als Gehilfen – für die Tötungen verantwortlich. Das gilt auch für die Mitwirkung an den genannten Beschlüssen des Politbüros, insbesondere durch die Angeklagten Schabowski und Kleiber. Dabei ist zum einen von Bedeutung, daß das Politbüro in der Entscheidungshierarchie über dem Nationalen Verteidigungsrat stand, so daß die Politbüromitglieder keine geringere Verantwortung treffen kann als die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats (vgl. BGHSt 40, 218, 237 f.). Zum anderen können die Angeklagten Schabowski und Kleiber sich nicht mit Erfolg darauf berufen, sie hätten im Politbüro – etwa angesichts des faktisch praktizierten Ressortprinzips und weil sie nicht zugleich Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats waren – „nur eingeschränkten Einfluß“ gehabt, so daß ihre Tatbeiträge „als völlig untergeordnet einzustufen“ seien. Sie hatten volles Stimmrecht und damit auch die Tatherrschaft. Wer im mächtigsten Organ einer den Staat im wesentlichen prägenden Partei mit seiner Stimme Entscheidungen mitträgt, kann nicht nur Gehilfe Dritter sein – es sei denn, daß man diese Dritten in anderen, einflußreicheren Mitgliedern desselben Organs, in den Mitgliedern des durch die Entscheidung nächstrangig angewiesenen Organs, in den weiteren Personen der Befehlskette oder gar in den am Ende der Befehlskette Handelnden sehen wollte.

f) Bei der Annahme von Tatherrschaft der Mitglieder des Politbüros ist sich der Senat durchaus des allgemeinkundigen historischen Umstands bewußt, daß die DDR in bezug auf das Grenzregime nur eingeschränkt souverän war. Auch ist offenkundig, daß die DDR die Grenze nicht gegen den Willen der UdSSR durchlässig machen oder gar das Grenzregime beseitigen durfte. Denn nur das Grenzregime sicherte den Bestand der DDR und des SED-Regimes. Eine Öffnung der Grenze wäre deshalb vitalen politischen und militärischen Interessen der UdSSR zuwidergelaufen. Bei dieser Frage mußte sich die Führung der DDR, selbst wenn sie anderer Meinung gewesen wäre, den Interessen der UdSSR unterordnen.

Die Führung der DDR war aber nicht anderer Meinung als die Verantwortlichen der UdSSR. Denn das Politbüro hatte ein – im wesentlichen gleichgerichtetes – ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung des Grenzregimes. Auch die Angeklagten wollten keine Destabilisierung der DDR und der SED-Herrschaft. Das wäre ihren politischen Vorstellungen zuwidergelaufen und hätte zudem ihre herausgehobene Stellung gefährdet. Den – wie die Geschichte gezeigt hat – mit der Öffnung der Grenze zwangsläufig verbundenen Verfall der DDR und der SED-Herrschaft wollten sie in ihrem eigenen Interesse verhindern; deshalb nahmen sie die Tötung der Flüchtlinge in Kauf.

Die Aufrechterhaltung und Ausgestaltung des Grenzregimes hatte die UdSSR weitgehend der DDR überlassen. Eine gewisse Eigenständigkeit der DDR bestand schon deshalb, weil die UdSSR wußte, daß die politische Führung der DDR gleichgerichtete Interessen verfolgte. Für die Umsetzung des in die Hände der DDR gelegten Grenzregimes waren entsprechende eigenverantwortliche Entscheidungen des Politbüros unerläßlich. Dies bezweckten und erreichten auch die genannten Beschlüsse, in denen die Angeklagten selbständig die innenpolitische Generallinie festlegten; sie bestimmten, daß und wie das bestehende System aufrechtzuerhalten war. Dafür hatten sie eine wesentliche, selbständige Entscheidungs- und Anordnungskompetenz, und sie haben davon Gebrauch gemacht. Daß das Politbüro auch im einzelnen gewisse Spielräume bei der Ausgestaltung der Grenzsicherung hatte, zeigt der „eigenmächtige“ Abbau der Erdminen und Selbstschußanlagen im Jahr 1985. Darüber hinaus war es dem Politbüro möglich, bei besonderen Anlässen, etwa bei Staatsbesuchen und Parteitagen, die Vorkehrungen zur Sicherung der Grenze so zu gestalten, daß die Grenzsoldaten die Schußwaffe nicht einsetzen mußten. Dies belegt, daß eine Grenzsicherung möglich war, ohne daß es zu tödlichen Schüssen kommen mußte.

Nach alledem hatten die Angeklagten in ihren Funktionen die Tatherrschaft und zudem ein eigenes Tatinteresse; deshalb waren sie – trotz der so eingeschränkten Souveränität der DDR (vgl. auch BGHR GG Art. 103 Abs. 2 Rückwirkung 5; Willnow JR 1997, 221, 222) – mittelbare Täter bzw. Anstifter.

2. Die Taten der Angeklagten waren rechtswidrig. Ihre Taten waren weder durch das Grenzgesetz der DDR noch durch die Staatspraxis der DDR gerechtfertigt. Das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG steht dem nicht entgegen. Dies hat der Bundesgerichtshof in zahlreichen Entscheidungen deutlich gemacht (BGHSt 39, 1, 8 ff.; 39, 168, 181 ff.; 40, 241, 242 ff.; 41, 101, 104 ff.; vgl. auch BGHSt 40, 218, 232; 42, 65, 70 f.).

Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis als verfassungskonform bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere auf den Systemwechsel abgestellt: Danach findet das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht. In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muß dann zurücktreten (BVerfG 95, 96, 133). Nach diesem Maßstab darf der Staatspraxis der DDR, ihren Grenztruppen die Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze als Mittel zur Verhinderung der Flucht über den Wortlaut des Grenzgesetzes hinaus nicht nur generell zu erlauben, sondern sie dazu auf dem Befehlswege, durch politisch-ideologische Beeinflussung sowie durch Belobigungen und Vergünstigungen geradezu anzuhalten, als extrem staatlichem Unrecht die rechtfertigende Wirkung abgesprochen werden (BVerfG – Kammer – EuGRZ 1997, 413, 416).

III. Schließlich deckt die sachlichrechtliche Überprüfung der Strafaussprüche keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.

Die Erwägungen, mit denen die Kammer für den Fall der Tötung von Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy annimmt, es liege für den Angeklagten Krenz kein minder schwerer Fall im Sinne des § 213 StGB vor, genügen den Anforderungen, die an die dabei vorzunehmende Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu stellen sind. Der Senat besorgt insbesondere nicht, daß das Landgericht bei der Strafrahmenwahl die im Rahmen der konkreten Strafzumessung genannten Verdienste des Angeklagten Krenz um die Reduzierung und die Einstellung des Schußwaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze und sein an Gewaltlosigkeit und politischer Lösung ausgerichtetes Verhalten im Herbst 1989 außer acht gelassen hätte. Das Landgericht hat bei der Einleitung der Begründung der Strafrahmenwahl deutlich gemacht, daß es die erforderliche Gesamtwürdigung aller für die Strafzumessungsschuld erheblichen Umstände vorgenommen hat. Ohne Rechtsfehler hat es sich bei der Strafrahmenwahl maßgeblich vom Umfang der Verantwortlichkeit des Angeklagten Krenz für die einzelnen Beschlüsse und das konkrete Grenzregime zur Tatzeit leiten lassen und deshalb den Regelstrafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB angewendet.

C.

Auch die auf den Strafausspruch beschränkten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben keinen Erfolg; sowohl die Strafrahmenwahl als auch die konkrete Strafzumessung halten sich innerhalb des dem Tatrichter eingeräumten Entscheidungsspielraums.

I. Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht den Angeklagten Schabowski und Kleiber bezüglich ihrer Taten jeweils einen minder schweren Fall des Totschlags nach § 213 StGB zugebilligt. Das Schwurgericht hat alle straferschwerenden Umstände berücksichtigt und nach einer rechtlich nicht zu beanstandenden Gesamtabwägung in diesen Fällen mit vertretbarer Begründung die Voraussetzungen eines minder schweren Falles des § 213 2. Alt. StGB bejaht.

Ebenso wenig ist die Annahme eines minder schweren Falles im ersten gegen den Angeklagten Krenz ausgeurteilten Fall (Tötung von Michael-Horst Schmidt) rechtsfehlerhaft. Anders als der Generalbundesanwalt, der die Revisionen der Staatsanwaltschaft – einzig – in diesem Punkt vertritt, besorgt der Senat nicht, daß das Landgericht die Anforderungen an den minder schweren Fall zu niedrig angesetzt hätte. Das Landgericht hat die Schwere der Schuld und die Gewichtigkeit der Tat gesehen. Es hat gleichwohl die Anwendung des Strafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB als unangemessen hart erachtet, insbesondere weil es auch hier – angesichts der politischen Eingebundenheit des Angeklagten Krenz in das System und des geringen Handlungsspielraums im Verhältnis zu den anderen Staaten des Warschauer Paktes – den konkreten Tatbeitrag dieses Angeklagten bei seiner Tathandlung am 2. Februar 1984 beanstandungsfrei als nicht besonders gravierend eingeschätzt hat. Der Angeklagte Krenz war erst im November 1983 zum Mitglied des Politbüros und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats ernannt worden, ihm war erst zu diesem Zeitpunkt die Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees unterstellt worden. Die Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats hatte er in dieser neuen Funktion nicht vorbereitet, vielmehr war dafür noch sein Vorgänger verantwortlich gewesen. Seine Einflußmöglichkeiten waren in diesem frühen Stadium seiner Zuständigkeit vergleichsweise gering. Diese unterschiedliche Gewichtung der Tatbeiträge des Angeklagten Krenz im Februar 1984 auf der einen und in den Jahren 1985 und 1986 auf der anderen Seite ist rechtlich nicht zu beanstanden und rechtfertigt die unterschiedliche Bewertung der Tötung von Michael-Horst Schmidt auf der einen und von Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy auf der anderen Seite.

II. Ebenso wenig weisen die konkreten Strafzumessungserwägungen Rechtsfehler auf. Der Erörterung bedarf nur folgendes:

1. Das Landgericht durfte die Verfahrensdauer strafmildernd berücksichtigen, ohne eine Verletzung des Gebots zügiger Verfahrensdurchführung durch die Justizbehörden im Urteil festgestellt zu haben (vgl. hierzu BGH NJW 1999, 1198).

2. Die Ausführungen des Landgerichts zur Spezial- und Generalprävention weisen durchgreifende Rechtsfehler nicht auf. Die Besorgnis der Beschwerdeführerin, die Strafkammer habe Grundsätze der Spezial- und Generalprävention „für nicht anwendbar“ gehalten, ist deshalb unbegründet, weil die Strafkammer spezial- und generalpräventiven Strafzumessungserwägungen lediglich „keine erhebliche Bedeutung“ beigemessen hat.

Zu der Formulierung im angefochtenen Urteil, die Kammer gehe „auch nicht davon aus, daß sich die Herrscher anderer Diktaturen durch drohende Freiheitsstrafen davon abhalten lassen, das Recht der Bürger auf Leben ihren politischen Zwecken unterzuordnen“, bemerkt der Senat: Angesichts der jüngeren Entwicklung des Völkerrechts, die durch eine erhöhte Sensibilisierung für eine Ahndung von solchen Gewaltverbrechen gekennzeichnet ist, die in Ausübung von Staatsgewalt begangen worden sind, und eingedenk der dahinter stehenden humanitären Ziele kann der Gesichtspunkt der Generalprävention – selbst wenn er insgesamt in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine eher zurückgedrängte Rolle spielt -, auch in Fällen eines Systemwechsels Geltung beanspruchen.

3. Die gegen die Angeklagten verhängten Freiheitsstrafen (dabei auch die gegen den Angeklagten Krenz verhängte Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren für die Tötung von Michael-Horst Schmidt und die sechs Jahre betragende Einsatzfreiheitsstrafe für die Tötung von Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy) sind – entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin – auch nicht derart milde, daß sie unter Berücksichtigung der strafmildernd herangezogenen Gründe nicht mehr innerhalb des dem Tatrichter eingeräumten Beurteilungsrahmens liegen würden.

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Ausgefertigt
Naumann
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle

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