Rede Steinmeier: Es gilt das gesprochene Wort.
Zum siebten Mal darf ich dabei sein bei der Verleihung des Deutschen Umweltpreises. Und ob Sie es glauben oder nicht: Es ist für mich jedes Jahr wieder eine Freude! Also auch heute. Nicht nur, weil ich viele bekannte Gesichter im Raum sehe. Ich freue mich auch immer darauf, wieder neue, sehr kluge, sehr ideenreiche und sehr weitblickende Wissenschaftlerinnen, Forscher und Unternehmerinnen kennenzulernen. Nicht nur, aber gerade auch bei den Preisträgerinnen und Preisträgern.
Durch ihren jeweils ganz speziellen Ansatz, durch ihre Erkenntnisse, durch ihre Kreativität und ihr energisches Anpacken von Problemen, durch ihre oft auch überraschenden Lösungsvorschläge leisten sie unersetzliche Beiträge zu den großen Herausforderungen, vor denen wir alle stehen: wie wir Klimawandel und Biodiversitätsverlust so entgegentreten, dass unser Land, unser Kontinent Europa, ja die Welt nicht einer unausweichlichen Klima- und Umweltkatastrophe entgegengehen, sondern dass wir auch in Zukunft in einer lebenswerten Welt leben können. In einer gesunden, vor den schlimmen Folgen der menschengemachten Erderwärmung noch einmal bewahrten Welt.
Mich begeistert die Verleihungszeremonie des Deutschen Umweltpreises auch deshalb, weil ich unter Ihnen eine so intelligente wie pragmatisch orientierte, unideologische, auf Lösungen abzielende Einstellung bewundere. Und eine im Grunde ja auch optimistische, eine mutige, eine an den Erfolg glaubende Einstellung. Die Sache selber, der Umweltpreis, ist ja jedesmal schon eine positive Botschaft. Wir, genauer gesagt: die Bundesstiftung Umwelt mit ihrem Kuratorium, würden ihn nicht vergeben, wenn wir nicht überzeugt wären, dass all die gebündelten Bemühungen, all die unterschiedlichen Ansätze zusammen auch wirklich zum Erfolg führen.
Diese Einstellung habe ich auch bei der Woche der Umwelt, die im vergangenen Juni im Park von Schloss Bellevue stattgefunden hat, wieder einmal kennen- und schätzen lernen dürfen. Viele von Ihnen werden dort gewesen sein, denn auch die Bundesstiftung Umwelt ist dabei ja eine unverzichtbare Verbündete und Mitveranstalterin.
Diese Woche der Umwelt mit ihren 190 Ausstellern aus Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft hat mir und allen 12.000 Besuchern, die vor Ort dabei waren, noch einmal deutlich vor Augen gestellt, was ich damals gesagt habe und heute bewusst noch einmal wiederhole:
So viele engagierte und findige Menschen und Institutionen zeigen, welche Mittel und Wege wir doch schon zur Verfügung haben, um gemeinsam in eine klimafreundliche und lebenswerte Zukunft aufzubrechen.
Das alles zeigt: Diese Zukunft ist keine ferne Utopie, sondern hat an vielen Orten unseres Landes längst begonnen. Wenn wir heute eine Preisträgerin und einen Preisträger mit ihren wichtigen und bahnbrechenden Ideen besonders herausstellen, dann wissen wir auch: Es gibt längst eine große Gemeinschaft derer, die mit ihren Ideen, mit ihren Praktiken und Forschungen dazu beitragen, dass wir handeln können; wir sind der Klimakrise nicht hilflos ausgeliefert, wir können die Erderwärmung und das Artensterben bremsen. Und wir können den ökologischen Umbau gerecht gestalten, bei uns in Deutschland, in Europa und weltweit.
Dank all der Vielen, die sich hier mit Herz und Verstand einsetzen, können wir das. Dafür können wir dankbar – und darauf können wir auch ein wenig stolz sein.
Die Herausforderungen des menschengemachten Klimawandels durchleben wir alle zum ersten Mal. Es gibt deshalb kein erprobtes Muster und auch keinen Masterplan, wie wir unsere Ressourcen und unseren Lebensraum schützen. Das ist der Grund dafür, warum wir im Bereich von Umwelt- und Klimaschutz – nach meinem Eindruck zumindest – überproportional oft auf Pioniere und Avantgardisten treffen. Auf mitunter eigensinnige Individualisten, die eine noch neue und dem allgemeinen Bewusstsein nicht immer sofort einleuchtende Erkenntnis für sich entdeckt haben und sie konsequent in die Tat umzusetzen versuchen.
Um mit ihren Ideen dann auch durchzudringen, dafür brauchen diese Pioniere öffentliche Zustimmung und Akzeptanz. Sie können ja ihre großartigen und zielführenden Vorstellungen nicht einfach dekretieren. Auch sie stehen in einem Wettbewerb der Ideen, der für die Demokratie und die freiheitliche Gesellschaft kennzeichnend und unverzichtbar ist.
Es ist eine Stärke des demokratischen Prozesses, die Zukunft auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu planen und zu gestalten und dabei den oft visionären Pionieren die Gelegenheit zu geben, ihre Ergebnisse zu verifizieren und, wenn sie sich bewähren, für uns alle nutzbar zu machen.
Es ist zudem die Stärke der Demokratie, Sackgassen, Schwachpunkte und Fehler, die auf dem unbekannten Weg zu einem umfassenden und nachhaltig wirksamen Klima- und Umweltschutz unvermeidlich sind, zu korrigieren. Und nur in einer Demokratie können wir schließlich gemeinsam und gerecht aushandeln, wie schnell und wie entschieden wir diesen oder jenen Weg gehen wollen – oder gehen müssen. Und welcher Ausgleich fairerweise für diejenigen notwendig ist, die vor gravierenden Umbrüchen stehen und diese nicht so leicht stemmen können. Dieser Ansatz – da bin ich mir sicher – wird dem Populismus und der Willkür einer Autokratie immer überlegen bleiben! Jede und jeder Einzelne trägt Verantwortung für das Ganze.
Ich bin dankbar, dass wir heute zwei Preisträger ehren, für die diese Verantwortung Berufung ist: Frau Franziska Tanneberger und Herrn Thomas Speidel. Herzlichen Glückwunsch schon einmal an dieser Stelle!
Ihre Forschungs- und Praxisfelder könnten unterschiedlicher kaum sein – und doch könnten sich die Projekte beider als sehr wirksam im Kampf gegen die Klimakatastrophe und für die Biodiversität erweisen. Sehr verkürzt gesagt, geht es bei dem einen um eine neue Mobilität und bei der anderen um eine neue, nachhaltige Stabilität.
Thomas Speidel stammt aus Stuttgart – und damit aus dem deutschen Südwesten, aus dem mit Carl Benz und Gottlieb Daimler zwei der visionärsten deutschen Erfinder, Tüftler und Unternehmer stammen, die nicht nur den Badenern und Württembergern, sondern der ganzen Welt eine individuelle Mobilität ermöglicht haben, die diese Welt verändert hat.
Der klassische Verbrennungsmotor, auf dem diese Mobilität beruhte, wird an sein Ende kommen. Mit Blick auf die klimaverändernden CO2-Emissionen durch PKW- und LKW-Verkehr kann daran kein vernünftiger Zweifel bestehen. Wie schnell E-Mobilität flächendeckend Wirklichkeit wird, hängt davon ab, ob wir Mittel und Wege finden, die noch bestehenden technischen und faktischen Hindernisse im Alltag zu überwinden.
Eine große Schwierigkeit der elektrischen Energiezufuhr besteht in dem noch mangelnden flächendeckenden Angebot, vor allem im ländlichen Raum, und eine andere – damit verbunden – in der Dauer, die das „Auftanken“ mit Strom, wenn man so sagen will, erfordert.
Hier hat Thomas Speidel, der seine Unternehmensstrategie, gegen manche Ratschläge, schon vor über einem Jahrzehnt auf E-Mobilität umgestellt hat, eine Lösung gefunden. Er hat – ich sage es verkürzt, wir werden ja gleich noch ausführlich über seine Erfindung informiert –, er hat eine Möglichkeit erfunden, wie man in kürzester Zeit sein E-Auto aufladen kann. Und zwar auch an Orten, die nicht über ein ausgebautes Stromnetz für die Ladeinfrastruktur verfügen. Seine Charge-Box zapft, sozusagen in aller Ruhe, das normale Stromnetz an und gibt dann, im Moment des Aufladens, in einem großen Rutsch eine so große Menge gesammelten Stroms ab, dass ein Auto in ungefähr zehn Minuten wieder aufgeladen ist.
Interessant finde ich, dass Thomas Speidels Charge-Box ungefähr den Raum einer klassischen Telefonzelle benötigt. Telefonzellen waren ja einst – die älteren werden sich erinnern – eine flächendeckende Institution zur raschen Kommunikation. Und an den deutschen Telefonzellen hing über Jahrzehnte ein Spruch, den manche vielleicht noch kennen: „Fasse dich kurz!“ Es scheint, als hätte dieser Spruch in den elektronischen Tankzellen Thomas Speidels eine neue positive Bedeutung gewonnen, die vielleicht viele dazu motivieren kann, auf E-Mobilität umzusteigen. Carl Benz und Gottlieb Daimler hätten jedenfalls wohl nichts dagegen. Auch Zeitersparnis ist, wie ich vermute, eine schwäbische Tugend.
Telefonzellen, meine Damen und Herren, fand man, wie gesagt, einst überall im Land – ganz sicher aber in einer Landschaft nicht: nämlich im Moor. Von hier war keine Kommunikation in andere Gegenden möglich. Das Moor war überhaupt eine oft wenig geschätzte Landschaft. Obwohl Deutschland an nicht wenigen Stellen davon bestimmt war, und obwohl die Landschaft der Moore eine ganz eigene Prägung hatte, so unterschiedlich zu allen anderen Landschaften. Deswegen war und ist sie ja eine so wesentliche Ergänzung zu allen anderen Lebensbereichen – und mit ganz besonderer Flora und Fauna beschenkt.
Franziska Tanneberger wird es sicher wissen: Über Flüsse und Wiesen, über Felder und Flure, über Berge und Bäche, über Küsten und Inseln, über all das gibt es viele der schönsten deutschen Gedichte und Lieder, ganze Erzählungen und Romane. Das Moor ist viel seltener ein Thema. Den meisten von uns fallen dazu wohl, wenn überhaupt, die düsteren, wenn auch großartigen Zeilen der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff ein: „O schaurig ist‘s übers Moor zu gehn, / Wenn es wimmelt vom Heiderauche, / Sich wie Phantome die Dünste drehn / Und die Ranke häkelt am Strauche […] Ja, im Geröhre war‘s fürchterlich, / O schaurig war‘s in der Heide!“
Das Moor ist also, wo es beschrieben wird, eine unheimliche Landschaft – gruselig und gefährlich für Menschen, die sich hineinwagen. Und vielleicht hat es auch mit dieser tief in unsere Seelen eingeprägten Vorstellung zu tun, dass die Moore immer mehr vernichtet, trockengelegt und der Landwirtschaft als immer neue Ackerlandschaften zur Verfügung gestellt wurden.
Wenn sich also jemand wie Franziska Tanneberger heute dem Projekt der Wiedervernässung der Moore widmet, weil dadurch so viel C02 gebunden und nicht mehr, wie durch die Trockenlegung, freigesetzt wird, dann muss sie sich nicht nur mit ökonomischen Interessen der Landwirtschaft auseinandersetzen, die auf das Land „unter dem Pflug“ verzichten sollen, sondern auch mit uralten Befürchtungen und Ängsten.
Franziska Tanneberger arbeitet aber nicht an einem romantischen Projekt, sondern sie kann mit konkreten und nachrechenbaren Zahlen aufweisen, wie bedeutend intakte Moore für ein gutes Klima und auch für die Biodiversität sind. Und dass sich manches auch ökonomisch auszahlen kann.
Franziska Tanneberger ist für unser Land in vielen internationalen Institutionen und Forschungseinrichtungen tätig, und sie ist hoch anerkannt für ihre Arbeit für die ökologisch bedeutsame Rettung oder Wiederherstellung von Mooren und Moorlandschaften. Im Einzelnen werden wir das gleich noch erfahren. Auf jeden Fall wären wohl viele nie darauf gekommen, welch segensreiche Bedeutung die unheimlichen Moorlandschaften unserer kindlichen Albträume für unser Klima und unsere Umwelt haben.
So lernen wir immer wieder dazu. Wie jedes Jahr beim Deutschen Umweltpreis. Und so werden wir immer wieder überrascht von dem, was möglich ist, um für Klima und Biodiversität etwas zu tun.
Für vieles allerdings braucht es keine Experten. Von vielem, was wir in unserem Alltag tun können, wissen wir längst, was wir zu tun oder zu lassen haben. Lassen Sie uns also alle das tun, was wir können. Und lassen Sie uns die Experten, die noch mehr wissen und uns über neue Wege und Lösungen aufklären, heute preisen und uns darüber freuen, dass sie für unser aller Bestes denken und arbeiten.