Es gilt das gesprochene Wort.
Vor ein paar Monaten gab es, ganz in der Nähe von Schloss Bellevue eine wunderschöne Lichtinstallation – am Reichstag nämlich. Diese Installation ließ den Reichstag wieder verhüllt erscheinen. So wie damals, vor 30 Jahren, als das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude das Gebäude hinter Stoffbahnen verschwinden ließ und damit Millionen von Menschen begeisterte. Und ein wenig ließ die Installation in diesem Jahr die wunderbar leichte, frohe Stimmung von damals wiedererstehen. Vielleicht waren einige von Ihnen, liebe Gäste, ja vor 30 Jahren auch dort und auch jetzt noch einmal. Auf jeden Fall, so habe ich es in Erinnerung, sprach damals das ganze Land über den verpackten Reichstag.
Was war das damals für eine freudige, festliche optimistische Stimmung! Die Menschen feierten am verpackten Reichstag noch einmal die Freiheit, die die Mutigen im Osten unseres Landes sechs Jahre zuvor, 1989, errungen hatten, in der ersten Friedlichen Revolution in unserer Geschichte. Die Stimmung war vermutlich auch deshalb so freudig, weil es vor 30 Jahren noch alles andere als selbstverständlich war, dass in diesem Gebäude mit seiner wechselvollen Geschichte der Deutsche Bundestag seinen Sitz haben würde, das demokratisch gewählte Parlament unseres wiedervereinten Landes. Die Nähe zum früheren Todesstreifen, das Bild der Mauer am Brandenburger Tor – all das war noch sehr präsent. Daran sollten wir uns erinnern, an jedem 3. Oktober. Wir können auch heute, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, nicht dankbar genug dafür sein, dass die DDR-Bürgerinnen und Bürger Demokratie und Freiheit für alle Deutschen erkämpft haben!
Aber, liebe Gäste, für mich ist schon der heutige Tag ein Festtag, und der Grund dafür sind Sie. Sie zu ehren, Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Arbeit, mit ihrem Engagement, mit ihrer Kunst für die Freiheit, für die Demokratie eintreten, das ist mir eine ganz besondere Freude. Ich begrüße Sie alle sehr herzlich in Schloss Bellevue! Schön, dass Sie alle heute da sind! Und ganz herzlich begrüße ich auch Susanne Daubner, die uns heute durch diesen Vormittag führen wird!
Ja, wenn wir heute zurückblicken, dann ist die ausgelassene Stimmung von damals sehr weit weg. Viele Menschen drücken Sorgen, und diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Aber sollten wir heute, anlässlich von 35 Jahren Deutscher Einheit, nicht einmal innehalten und uns vor Augen führen, was uns gelungen ist in diesen 35 Jahren? Das vereinigte Deutschland ist ein starkes Land in der Mitte Europas, ein geachteter Partner in der Welt.
Allerdings wissen wir auch, wie sehr gerade die Menschen im Osten Deutschlands unter den Härten des Umbruchs gelitten haben, wie sehr diese Erfahrungen und Prägungen bis heute nachwirken. Ich sehe mit Sorge, dass die politische Mitte nicht nur, aber mehr noch im Osten unseres Landes immer weniger Rückhalt hat, und das in einer Zeit, in der unsere Demokratie insgesamt stärker angefochten ist. Heute erleben wir auch in unserem Land, dass politische Kräfte Wahlerfolge feiern, die die Demokratie geringschätzen, ihre Institutionen verachten und aushöhlen wollen, die mit Hass und Hetze den politischen Diskurs vergiften, den eine Demokratie doch so notwendig braucht, die Menschenfeindlichkeit verbreiten. Lassen wir nicht zu, dass unsere Demokratie noch weiteren Schaden nimmt!
Umso wichtiger ist es, umso dankbarer bin ich, dass es Menschen wie Sie gibt. Sie alle stehen auch dafür, was wir in den vergangenen 35 Jahren gemeinsam erreicht haben. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die anders ist als die zu Beginn der 1990er Jahre. Sie ist vielfältiger, pluraler, in ihr leben Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien, ganz unterschiedlichen Geschichten, mit unterschiedlichem Glauben und unterschiedlichen Lebensentwürfen und Überzeugungen. Mein Rat ist: Reden wir darüber, was uns unterscheidet, ja! Aber stärken wir vor allem, was uns verbindet.
Und genau das tun Sie, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger. Sie setzen sich dafür ein, dass unser Land zusammenhält. Sie arbeiten Tag für Tag daran, dass es zu einem besseren wird. Gerade jetzt, in einer Zeit der Krisen und Kriege, brauchen wir Menschen wie Sie: Ihr Engagement, Ihre Mitmenschlichkeit, Ihre Tatkraft, Ihre Klugheit und Ihr Vorbild, das Sie anderen geben. Ihnen allen möchte ich heute aus ganzem Herzen danken!
So vielfältig wie unsere Gesellschaft, so vielfältig ist Ihr Wirken, das wir heute auszeichnen wollen. Unter uns sind heute 25 Menschen aus allen Teilen unseres Landes, aber eines verbindet sie alle. Sie sind der beste Beweis dafür, wie vielfältig dieses Land heute ist und wie viel Kraft es entfalten kann. Mehr noch: Sie machen uns vor, wie wir unsere Demokratie leben, wie wir sie schützen und stärken können, ganz praktisch, im Kleinen wie im Großen, im Scheinwerferlicht und abseits davon. Sie alle leisten Großartiges, oft mit großer Beharrlichkeit, mit sehr viel Einsatz und ohne lang zu fragen.
Unter Ihnen sind Menschen, die schon zu DDR-Zeiten Zivilcourage gezeigt haben, die sich für Menschlichkeit eingesetzt haben und dafür häufig einen hohen Preis bezahlt haben. An Ihren Überzeugungen haben Sie trotzdem festgehalten. Dafür gebührt Ihnen höchster Respekt! Der Mut von Menschen wie Ihnen hat die Friedliche Revolution, hat die Deutsche Einheit erst möglich gemacht! Und dass Sie bereit sind, bis heute Ihre Erfahrungen zu teilen, das ist ein Geschenk an unser ganzes Land. Ich danke allen, die als Zeitzeugen diese wichtige Arbeit leisten und die Erinnerung in die Zukunft tragen!
Und ich danke heute all jenen, die Zeugnisse vergangener Epochen sichern oder künstlerisch verarbeiten, sei es aus der Zeit des Nationalsozialismus oder aus unserer jüngeren Vergangenheit. Und dazu gehören auch die Erinnerungen der ersten Einwanderergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie sind die, die zu uns gekommen sind, mit biographischen Brüchen umgegangen, wie haben sie sich in die neue Kultur eingelebt, was haben sie mitgebracht? All das ist heute Teil unserer gemeinsamen Geschichte!
Mit Ihrer Arbeit, liebe zu Ehrende, beziehen Sie Menschen ein statt auszugrenzen. Sie gehen auf Menschen zu statt sich zurückzuziehen. Sie helfen anderen, ohne zu fragen: Was geht mich das an? Sie bauen Brücken! Und das tun Sie in vielen Teilen unserer Gesellschaft: Mit Literatur, mit Musik, mit Sport oder mit sozialen Projekten schaffen Sie Räume für Begegnung und stärken damit den Zusammenhalt.
Und Sie arbeiten mit an der Bewältigung der enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, als Land, aber auch als Planet. Neben dem Klimawandel werfen vor allem die gewaltigen technologischen Innovationen – die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz – grundlegende Fragen auf. In welcher Welt wollen wir in Zukunft leben? Beherrschen wir als Menschen die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz oder sie uns? Mit Ihrer Arbeit, mit Ihrer Forschung zu diesen Fragen machen Sie sich verdient um unser Land!
Ob es diese großen Veränderungen sind oder ganz konkrete Sorgen im täglichen Leben – in unserer Gesellschaft gibt es so viel Unterstützung, so viel gegenseitige Hilfe: Wenn der Bach vor meinem Haus über die Ufer tritt, wenn ich Hilfe für mein krankes Kind brauche, wenn Kinder sich ausprobieren wollen, in der Musik und auch im Sport – immer finden sich Menschen, die anpacken, die da sind für andere. Menschen, die nicht nur an sich selbst denken.
Und wenn ich mir heute etwas wünschen darf: Lassen Sie uns zum 35. Jahrestag der Deutschen Einheit dankbar sein für das Glück, das wir mit Freiheit und Demokratie in Händen halten. Tun wir alles, um es zu bewahren und zu schützen! Vielleicht gelingt es uns ja für einen Augenblick, uns zurückzuversetzen in die Aufbruchstimmung rund um den verpackten Reichstag. Erinnern wir uns vor allem an den Mut und an die Kraft derer, die 1989 für Freiheit und Demokratie gekämpft haben, und daran, was wir mit Mut und Kraft auch in Zukunft erreichen können!
Sie, liebe zu Ehrende, Sie zeigen uns, wie das geht und wie viel Mut und wie viel Kraft in unserem Land stecken. Ich danke Ihnen im Namen unseres Landes! Und jetzt freue ich mich, Ihnen die Orden zu überreichen.
Herzlichen Glückwunsch Ihnen allen!